Januar 2014

Sharon Ya’ari: Zähl auf Dich selbst

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Es begann alles mit einem Zweifel. Einem Zweifel an der Fotografie, an ihrer Fähigkeit zum Zeitgenössischen, zum seriösen Diskurs. Sharon Ya‘aris erste Arbeiten brachen deshalb die Einheit des fotografischen Bildes auf, verschmolzen gefundene Porträts aus jüdischen Dörfern in Polen vor hundert Jahren mit gegenwärtigen Landschaften aus Israel. Aus dem Zweifel wurde ein bisher knapp 20 Jahre andauerndes spannendes Leben mit Fotografien, ein intensives, auch haderndes Erkunden der Möglichkeiten von Bildern, im Allgemeinen und besonders in Israel. 

Die Beschäftigung mit Fotografie ist in Israel immer und jederzeit auch mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, mit den politischen Realitäten des Landes verknüpft. Anders als bei uns, wo bei politischer Kunst, auch bei gesellschaftlich-politischer Fotografie oft indigniert die Nase gerümpft wird, stellt sich die Frage in Israel in umgekehrter Richtung: Kann es in einem Land, das in einer brisanten Situation existiert, das geladen, beladen, ja mehrfach überladen ist mit einer komplexen, zurzeit festgefahrenen Gemengelage, überhaupt eine Fotografie, eine Kunst geben, die nicht immer und jederzeit politisch sein und Stellung beziehen will? Darf es also auch eine Kunst geben, die vielmehr dafür kämpft, aus dem Alltag, aus dem umgebenden Raum, aus dem Lauf der Zeit heraus zu schöpfen, also auch anderen Parametern zu folgen als «dem Konflikt»?

Sharon Ya’ari versucht, bewusst oder unbewusst, in jeder seiner Arbeit eine Antwort darauf zu finden. Er versucht, seinen persönlichen Weg zu gehen, langsam, stetig, und mit grosser Sorgfalt. Zurzeit wird sein Werk im Tel Aviv Museum of Art in einer grossen Einzelpräsentation vorgestellt, begleitet von einem umfangreichen Buch, das bei Steidl erschienen ist. Ich hatte die Möglichkeit, als Kurator mit Sharon Ya’ari ein Jahr lang zu arbeiten und dann diese Ausstellung mit ihm zusammen einzurichten. Und dabei gelernt, wie aufwendig, wie intensiv es ist, den Weg in diesem Kontext über sich selbst zu finden: «Leap Toward Yourself», wählte Sharon als Titel des Projekts.

In seinen ersten Farbbildern findet er zu einer direkten, aber behutsam beobachtende Fotografie, die Wider­sprüche, Mehrschichtigkeiten, Bedeutungsüberlagerungen in einen Rahmen packt und erst mit der Zeit wieder preisgibt. Merkwürdige Objekte, Skulpturen, Gebrauchsgegenstände bevölkern zuweilen seine Fotografie. Ein Plural von Zeiten, von «Gegenwarten», schreibt sich in diese ausge­setzten Alltagsskulpturen ein, unterschiedlicher Gebrauch, unterschiedliche Er­eignis­se überlagern den Ursprung, den eigentlichen Zweck, tätowieren sich ein. Sharon Ya’ari evoziert oft einen hoch­me­lan­­­cholischen Zustand, in dem die Spannung zwischen Idealität und Realität auszuhalten ist. Während alles vergeht, während die Zeiten, Winde und Fluten alles wegschwem­men, wegblasen, was sein könnte und doch nicht ist, ist der Kopf immer über Wasser zu halten. 

In den neueren Bildern glaubt man einer langsamen, stetigen Transformation von Raum und Zeit beizu­woh­nen. Nicht nur in einer Richtung, nicht nur vorwärts. Mit seinen Fotografien, auffallend oft mit Doppelbildern, betreibt er eine Art von Archäologie des Daseins, eine Erforschung von Raum und Zeit. Dank der Erosion offenbaren sich alte Schichten, vergan­gene Zeiten. Historie legt sich frei. Andererseits brennen sich Geschichten, prägt sich Geschichte in die Landschaft ein, finden laufend Überlagerungen statt. Das Sein, das Sein­sollen, das Seinwollen, das Nichtsein: Alles schreibt sich ein: in die Landschaft, in die Gegenstände, in das Mobiliar der Gesellschaft

Wie in einer Zeitkapsel bewegt er sich im Raum, wie in einer Raumkapsel gleitet er durch die Zeit. Bei Licht, bei Schat­ten, in der Nacht. Ein Lidschlag, und der Baum, der eben noch da stand, ist im nächsten Bild weg. Drei junge Frauen, die am Strassenrand stehen und in die gleiche Richtung schauen, scheinen etwas zu beobachten, gelassen und aufmerksam zugleich. Die Mutter mit dem Kind, die gedankenvoll das Kinn abstützt und in die Weite schaut, die Frauen, Männer und Hunde, die herumspazieren, übers Feld streunen, sie warten und schauen. In die­sen kleinen Handlungen und Gesten, die Sharon Ya’ari einzeln oder mit sorg­fältigen, die Zeit stockenden oder beschleunigenden Doppelbildern fotogra­fiert, manifestiert sich die Möglichkeit und Unmöglichkeit zugleich. Der Schimmer einer Möglichkeit, in klei­nen Gesten, kleinen Bewegungen, kleinen, unmerklichen Anstren­­gungen, wenn eine Schicht freigelegt wird, ein Licht aufblitzt, jemand sich aufmacht, etwas zu tun. 

Sharon Ya’aris Werk ist voller delikatem bildphilosophischem Denken. Ein Denken, das Existenzfragen und auch politische Fragen in den vielen kleinen Begebenheiten, Zeichen aufscheinen lässt. Auf der Suche nach der Möglichkeit zu atmen, da zu existieren, wo man geboren ist. 

Im Bild  «Nagala mound 3» sitzt eine Familie draussen im Feld auf grossen Bank auf einem Holzpodest. In einem Naherholungsgebiet, einem Park des Pro­viso­ri­schen, des Vergehenden. Sie sitzen auf einer Holz­konstruktion, die auf Geschich­te und Geschichten, auf Trockenheit und Flut aufsitzt, und die Familie schwebend fast in der Luft hält. Und Sie schauen hinaus, in sich hinein. Sind da.