2013

Sharon Ya‘ari – Zeitkapsel

English Version: Sharon Ya‘ari – Time Capsule →

Zur Fotografie zurückfinden

Es begann alles mit einem Zweifel. Dem Zweifel an der Fotografie, an ihrer Fähigkeit zum Zeitgenössischen, zum Diskurs. Sharon Ya‘aris erste Arbeiten brachen deshalb die Einheit des fotografischen Bildes auf, er versetzte israe­lische Landschaften mit Bildern, die er im Abfall gefunden hatte, Foto­grafien von Osteuropa, von jüdischen Gemeinden in Pinsk und Turike – Ereig­nisse, Eröff­nungen von Schulen, Spitälern, Emigrationen nach Amerika oder Palästina. Mittels Photoshop extrahierte er Porträts aus dem Found Footage, schob die Porträts aus der Vergangenheit mit Landschaf­ten aus der Gegenwart zu­sammen und verschweisste sie zu neuen Bildrealitäten. Ein anderer Zu­stand, eine neue Zeit entstand, fragil, weil er Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Hoffnung zu­sam­men­setzt, weil er, wie ein Zauber­lehrling, neue Präsenzen schafft. 

Die durch digitales Collagieren, Montieren erzeugte Mehrzei­tig­keit, Mehr­schich­tig­keit schmolz in den nachfolgenden Farbar­beiten wieder in einem einzigen Bild zusammen. Jeweils eine Aufnahme nur, aber so gerichtet, dass sie selbst ihre möglichen Bedeutungen aufbricht, dass sich einzelne Wahrneh­mungen gegenüberstehen und herausfordern. Gruppen von Men­schen, Fami­lien vielleicht, sind in einer Fotografie unterwegs zum nur wenige Tage dauernden Schauspiel der blüh­enden Irisfelder. Doch es wirkt so, als seien sie unterwegs zu einem Begräbnis, zumindest zu einem Familien­treffen mit besonderer Trag­weite. Farbige, ja bunte und, obwohl sie ver­waschen, verstaubt sind, schrille Plastik­stühle mit Ausstanzungen an der Rücklehne, die einem Paar Lungenflügeln gleichen, damit das Sitzen auf Plastik in sommerlicher Hitze nicht so schweiss­treibend ist, heitern den Blick, das Gemüt in einem zweiten Foto so lange auf, bis sich im Farbengewirr klärt, dass wir in einen Begräbnisraum schauen. Die Anordnung der Stühle im einfachen Raum liest sich wie das Mobiliar einer Familienaufstellung. Drei jungen Frauen, fast identisch in unten ausgestellten Jeans und sommerlich knappen, schulter­freien Oberteilen gekleidet, schauen wir zu, wie sie durch eine Wellblech-Abschrankung hindurch klettern. Eine der drei Frauen beugt sich bereits tief unter einer Metallstange durch, scheint den Schritt ins Nacht­schwarze, in eine im Bild nicht erkennbare Welt zu wagen. Die spürbare Lockerheit des sommerlichen Flanierens kontras­tiert mit der bildlichen Unklarheit, der Düsternis, dem sich öffnenden visuellen Abgrund. In einer weiteren Fotografie liegt, wie eine schwarze Zunge, Teer auf einem Waldweg. Drei, vier Zentimeter hingeschüttetes und aus­gewalztes Bitumen. Die Zunge franst aus, denn es gab nicht mehr genügend Material. Mit falscher Zunge reden, heisst eine Redens­art, hier scheint, wenn man genau «hinhört», eine Teerzunge im Wald vom Absurden in den kleinen alltäglichen Handlungen zu reden.

Sharon Ya’ari findet in diesen Farbbildern zurück zu einer ein­fachen, schau­en­den Fotografie. Eine direkt, aber behutsam beobachtende Fotografie, die Wider­sprüche, Mehrschichtigkeiten, Bedeutungsüberlagerungen in einen Rahmen packt und erst mit der Zeit wieder preisgibt. Er bleibt dieser Form von Fotografie bis heute treu, unterläuft sie aber laufend mit Fragen an das Medium, ver­setzt sie mit Reflexionen über das fotografische Sehen. Was wird mit welcher Absicht fotografisch gezeigt. Und aus welcher Position? Und wie? Und was zeigt sich darin? Gerade Erreichtes, Errungenes wird dabei ebenso in Frage gestellt, wie international Gefragtes, Angesagtes. Die Abkehr von der Farbe in der Fotografie war deshalb auch nur eine Frage der Zeit.

Erinnerung schafft Gegenwart

Die Zukunft Israels soll der Vergangenheit Europas gleichen. Das ist der verständliche, wenn auch etwas unrealistische Wunsch vieler Einwanderer. Den Weg nach vorne in Angriff nehmen, mit zurückfallendem, in der Vergangenheit verharrendem Sentiment. Mittel­europa ist grün, also wird Rasen produziert, dann in Bahnen geschnitten, gerollt und in der «Wüste» wieder ausgerollt. Die Wüste soll blühen, das Bild der Kindheit, die europäische Vorstellung von Natur in Israel wieder­auferstehen. «Neue Heimat» meinte lange, Israel in das Erinnerungs­land der eigenen Herkunft zu verwandeln. Ya’aris Werkgruppe «Lawns» dokumentiert diese Re-Produktion, führt die verschiedenen Grassor­ten vor, wie in einem Versandhaus, bestellbar mit Kopfnicken, reali­sierbar auf Knopfdruck. Grastep­piche, Grasfelder als feine florale Schicht im Kampf gegen Wind und Sand. Gleiches geschah auch beim Versuch, das neue Territorium zu bewalden. Baumsorten aus Europa bewäh­ren sich nicht. Sie trocknen das Land zu sehr aus, oder sich selbst. Wir wissen, spätestens seit Jean Piaget, dass unser Kopf und unsere Gefühle in den ersten zwei Jahren des Lebens formatiert, gerichtet, geprägt werden. Wo immer wir hingehen, wir tragen die Perspektive der Kindheit als Grundkonstituierung mit uns mit. Was immer uns draus­sen in der Welt begegnet, wir tragen innere Bilder mit, wir sehen mit den Augen und mit der Fotografie, was wir sehen wollen, möchten, sehen müssen. Die Vergangen­heit wird Gegenwart, wird Zukunft, auch wenn neue Gege­ben­heiten das Mittschleppen von Zeiten herausfordern. Unser Wahrnehmen ist fähig, drastische Realitäten wegzudrängen, wegzuden­ken, wenn sie nicht ins vorgefasste, ins hineingewachsene Bild passen. Doch Zukunft ist auch bald wieder Vergangenheit, wenn sie allzu unrealistisch angelegt ist.

Einschreibungen

Merkwürdige Objekte bevölkern zuweilen die Fotografien von Sharon Ya’ari. Dieses Objekt unter einem Baum zum Beispiel, ein Tisch mit sechs Stühlen. Tisch und Stühle sind so miteinan­der verbunden, dass sie wie eine Pilzfamilie aus Metall und Beton wirken. Die runden Sitzflächen sind ebenso wie das Tischblatt mit je einer Kerbe versehen, die das Bild von Pilzen mit jenem von Schraubenköpfen überblenden lassen. Die Sitzvorrichtung ist jedoch nicht gut im Boden verankert, sie steht schräg, scheint sich wie eine Wanderdüne langsam wegzuschleichen. Die Zukunft dieser Objekte sei lange abgelaufen, sie liege in der Vergangenheit, sagt der Künstler dazu. Sie sind entfunktionalisiert, wandeln sich von Gebrauchsobjekten zu Skulpturen, trotten vor Ort durch die Zeit, passen ihr Wesen allmählich der Umgebung an. Weshalb stec­ken sie fest, und werden nicht mehr gebraucht? Ein gelassenes, doch insistierendes Fragen, das Sharon Ya’ari und seine Bilder umtreiben. Auch beim Baum­strunk, der von Wind und Wetter ausgelaugt aus dem Boden gerissen und als Erinnerung seiner einstigen Kraft und Stärke in der Wüste liegt. Diese Bilder erzählen von Bemühungen, von kleineren und grösseren Efforts, die schliesslich nichts bewirkt haben, sich nach einer Weile als fruchtlos erweisen. Nun beugen sie sich dem Zahn der Zeit.

Ein Plural von Zeiten, von «Gegenwarten», schreibt sich in diese ausgesetzten Alltagsskulpturen ein, unterschiedlicher Gebrauch, unterschiedliche Ereignis­se überlagern den Ursprung, den eigentlichen Zweck, tätowieren sich ein. Verlassen, verloren, etwas schäbig stehen sie da. Auch das hochstechende Denk­mal für die Anzas, erstellt für die australischen und neuseeländischen Armee-Corps, die während des ersten Weltkrieges grosse Verluste erlitten hatten, wirkt mit dem übergestülpten riesigen Kettenhemd-Tuch, das die Aus­sichtsplattform löchrig verdeckt, ein wenig traurig, melancholisch. Ein verlassener Grabstein, ein verges­se­ner Tod. Ein Mammut der jüngeren Geschichte. Meist unspektaktulär, gerne übersehen, sichtbar nur für den aufmerksamen Beobachter. Kleine Veränderungen, Verschiebungen über die Zeit hinweg. Sharon Ya’ari besucht sie über die Jahre immer wieder, verfolgt, wie ein Baum allmählich kollabiert und unter seinen wuchtigen Ästen den Picknicktisch, der vor ihn hinge­stellt worden ist, schliesslich vollends unter sich begräbt.

«500 m Radius»

Sharon Ya’aris Fotografie ist inzwischen wieder Schwarzweiss geworden. Entgegen dem Mainstream, entgegen den perfekten aufgeblasenen, aufgezogen oder etwas schwer gerahmten Farbflächen, die sich, von der Düsseldorfer Schule lanciert, im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts fast epidemisch ausgebreitet haben. Sharon Ya’ari schert aus, weicht zurück, sucht einen anderen, seinen Weg. Seismographisch fein reagiert er auf Gegebenheiten. Fotografie wurde lange Zeit von Distanz dominiert. Foto­grafen reisten ins gelobte Land, nach Afrika, dann nach Indochina und brachten ihre Bilder wie Schmuckstücke nach Hause zurück, zur Vorführung vor dem eigenen, dem heimischen Publikum. Beweisstücke und Erregungs­stücke. Ein Spiel mit dem Gefühl der Exotik, mit der ertragbaren, geniessbaren Fremde, mit der visuellen Macht. 

„500 m Radius“ bricht mit dieser Tradition, die Fotografie beschränkt sich auf das Naheliegende, die Umgebung um das eigene Haus. Der Blick schweift in den eigenen Hinterhöfen umher, streunt durch die Backyards, entlang der Fassaden der Nachbarn. Nichts wirkt aufgeräumt und poliert. Alle Formen und Materialien, alle Gegenstände dümpeln vor sich hin. Noch funktionstüchtig oder eben auf die Seite gestellt und dem Vergessen überlassen. Ein Streunen durch Winkel, an Fassaden, Türen, verschlafenen Fenstern vorbei, über Höfe und verlorene Vorgärten hinweg. Sharon Ya’ari bewegt sich nicht auf der Suche nach besonderen Augenblicken, sondern zu früher Stunde auf Wegen mit beschränktem Radius. Im Gepäck seinen erstgeborenen Sohn, der immer um fünf Uhr aufwacht. Die doppelte Negierung von Raum und Zeit, von zeitlich und räumlich beson­deren, ausgewählten Orten führt zu einer Bilderserie von erstaunlich gelassener, er­trag­barer Alltäglichkeit. Der Bauhaus-Mythos von Tel Aviv scheint in diesen Bildern unaufgeregt zu verblassen, bevor eine anrollende Gentrifizierung die Gebäude sanieren und für den Lifestyle der Zehnerjahre herrichten wird. Eine Fotografie mit Akkreditierung auch, den nirgendwo, besonders jedoch in einer Stadt voller Spannung, voller Angst auch, schleicht man ungestraft frühmorgens durch die Hintergärten, ausser man hat einen triftigen, Verständnis und vielleicht gar ein wohlwollendes Lächeln generierenden Grund.

Bewegte Bilder

Eine ähnliche Alltäglichkeit verkörpern die Video Loops, die 5, 9, 25 oder 115 Frame-Loops, diese kleinen, in der Regel zwischen 20 und 60 Sekunden dau­ern­­­den, endlos laufenden Filmchen, die alltäg­liche, banale Bewegungen, Gesten, Situationen einfangen. Kleine Filme, die aus 5, 9, 25 oder 115 stehenden Fotografien zusam­mengesetzt und so in Bewegung gesetzt worden sind. Sie beharren auf einer einzigen Einstellung, auf dem einen Standpunkt, nur der Auslöser klickt mehrmals, fängt Szenen ein, die in der Reihung nach­einander wie kleine Theaterstückchen wirken. Morphologien des Alltags. Der 5-Frame-Loop gibt einen Mann wieder, der hinter Gartenmauern endlos geht, er scheint an Ort zu treten, immer gerichtet, immer in Bewegung, doch ohne Fortschrit­te zu machen. Er bleibt, wo er ist. Eine Frau scheitert daran, ihre gros­sen Einkaufstüten von der Strasse aufzuheben und weiterzugehen. Ein gros­­ser, doch fast leerer Parkplatz ist Schauplatz hin-, weg- und vorbeifah­render Autos. Sie fahren mit Schwung heran, parkieren und fahren weg. Zuweilen kommen sie sich ins Gehege. Bäume rauschen lautlos in einem anderen Frame, blähen sich auf und verdecken das Geschehen dahinter, ein Telefongespräch am Strassenrand scheint endlos zu dauern, eine Familie steigt ins Auto und fährt weg. Die kurzen Ausschnitte wandeln sich durch das endlose Loopen in Szenen, die slapstickartig banal und absurd zugleich wirken, die sich mit Gelassenheit der Banalität und Sinnlosigkeit des Lebens widmen. Keine Wertung, keine Moral dringt durch die Oberfläche hindurch. Es ist. Wie es ist. Es geht. Wie es geht. Kleine Ausschnitte, kleine Bemühungen, ohne Ziel. Das Leben gerinnt zur Skulptur seiner selbst. Es läuft, gerade so stark, dass es zum Weiterkommen genügt.

«Hope for long distance photography»

Seine Fotografie fotografiert, seine Fotografie «bildet», erzeugt Bilder, doch nie ohne gleichzeitig immer auch das Fotografieren selbst zu thematisieren, mitabzubilden. Das Fotografieren an sich, das Fotografieren in seinem Land. Während Israel immerfort mit der Frage konfrontiert ist, wie sich eine Nation unter den beste­henden Umständen formen und weiterentwickeln, wie Zusammenhalt nicht nur aus Angst und Furcht generiert werden kann, so ist Sharon Ya’aris Fotografie mit der Frage unterwegs, wie in diesem Land fotografiert, was repräsentiert werden kann, wo die Bilder zu finden sind, die nicht sofort und zu jeder Sekunde in den Kontext Ja-Nein, Hier-Dort, Diese-Jene fallen, die eine Frucht anfassen, ohne sie gleich zu zerquetschen, die ein Land fotografieren, ohne es himmlisch oder teuflisch erscheinen zu lassen. Eine Fotografie, die nicht in ein Schema passt und ver­krampft vom Stuhl fällt, nur weil sie weder auffallen noch rein­passen will. Weder in die Geschichte der Fotografie noch in die Geschichte dieses Landes. Nicht und dennoch. Israel (gleichwohl) als eine Form von Heimat, von Hier-Geboren-Sein und deshalb dieses Land auch als seine Gegend wahrnehmend, in der er sich erkun­dend, verlierend, ge­nies­send und erschreckend bewegt. Die Bilder vom Hinterhof, aus dem 500-Meter-Radius strahlen diese Selbst­verständlichkeit aus, ein ungewohnte Form der Normalität in einem Land, das täglich darum ringt, normal sein zu können. 

«The Hope for long Distance Photography», die Hoffnung auf eine Fotografie der langen Brennweiten, hingegen weiss von der ersten Sekunde an, dass sie auffallen wird. Der Fotograf und der Akt des Fotografierens fallen nicht auf, er kann im Hintergrund bleiben und mit langen Optiken die Welt abtasten, so wie Ornitologen die Vögel verfolgen. Seine Bilder hingegen verlieren vom ersten Augenblick an den guten Ruf, sie geben sich als Eindringlinge, als Vordringli­che zumindest zu erkennen. Sie verformen die Wahrnehmung und mit ihr die Welt, wenn sie mit einem 500er oder 1000er Objektiv (Diskussionen von Fotografen klingen manchmal als würden Motor­radfahrer über die Stärken ihrer Maschinen fachsimpeln) den Raum durchschneiden und weit hinten ein rechteckiges Fliessblatt ins Leben legen, das die Umgebung aufsaugt und in die Fläche zwingt, sie in das Rechteck gerinnen und einlaufen lässt. Durch die Anziehungs­­kraft des «Fliessblattes» verformt sich das Gesehene, die Strassen quellen auf und verlaufen schwung­voll, Gegenstände rücken näher. Doch die Wärme der Nähe verspüren wir nicht, weil die Dinge sich zugleich auflösen, weil sie einen Grad an Fragilität und Brüchigkeit erreichen, der sie bei leichter Berührung zerbröseln und in den Wind hinaus gleiten lässt. Diese Fotografie knetet die Realität, formt sie um, gibt vor, sie eng an die Brust zu nehmen. Doch gleichzeitig stösst sie sie weg, spiegelt sie Distanz, spricht sie von der Unmöglichkeit, Nähe zu erzwingen. Nur das Schauspiel von Nähe ist von ihr zu haben.

Die Fotografie aus sicherer, risikoloser Distanz gerät in den Ver­dacht, voyeu­ristisch zu sein, zumindest da, wo der Blick mitten ins Wohnzimmer fällt. Doch die Kamera entdeckt so wenig, so wenig Spektakuläres, dass die Vermu­tung wächst, dass sich das fotografierende Subjekt Distanz auf Zeit erhofft, «gestundete Zeit», in der die Wirklichkeit sich nicht andauernd und atemlos aufdrängt, in endlosen Strudeln verschlingt. Atmet hier jemand auf, für Augenblicke wenigstens, weil die Wirklichkeit Pause macht, sich entfernt? «Hope for long Distance Photography», Hoffnung auf genü­gend lange Zeit.

«Rashi 1-3» etc.

Die Rashi Street bringt Sharon Ya’ari zurück in die Realität. Wie ein Detektiv folgt er einem Gefühl, das in der Rashi Street in Tel Aviv etwas im Gange, etwas Illegales geplant ist. In nur zwei Stunden wurde schliesslich ein drei­stöckiges Gebäude abgerissen und erzeugte einen undurch­dringlichen Staubschirm. Staubwolken füllen die kleine Strasse im Zentrum Tel Avivs auf und versperren die Sicht. Sharon Ya’ari fotografiert den Akt der Zerstö­rung mit unterschiedlichem Filmmaterial, er spielt mit der Parallelität von Staub und Korn, von Staub in der Strasse und Korn auf dem Film und dann auf der ver­grösserten Fotografie auf Papier. Der Zerstörungsakt entwickelt eine eigene, faszinierende Aesthetik, ohne zu verraten, was genau hier vorgeht. Fand eine Explosion statt? Wieso denken wir sofort auch an einen Terrorakt? Das Gefühl der Unklarheit, des Jederzeitmöglichen durchdringt das schliesslich als Tripty­chon «Rashi 1-3» mit dem Zusatz «Rashi 4» abgezogene Werk. Sharon Ya’ari wird aus seinem Zustand der abwesenden Anwesenheit, anwesenden Abwesen­heit herausgerissen und mit einem in jedem Fall kräftigen, gewalttätigen Akt konfrontiert.

Das Auffüllen des Bildraumes, das Aufquellen des Fotografierten, bis es an den Rändern des Bildes anstösst, bis es fast überläuft, findet sich auch in einigen Dickicht-Fotografien und in Bildern während und nach der Flut. Der Raum schliesst sich, füllt sich, drängt an die Bildoberfläche und besetzt das gesetzte Rechteck. Der Blick ist verstellt, das Atmen wird eng, wie eine Wand, manch­mal auch wie eine Wucht scheinen sich diese Bilder vor uns Betrachter aufzubauen. Die Begegnung mit den Bildern wird hier konkret, physisch, wird konfrontativ. Fotografierte Undurchdringlichkeit, fotografiertes Aufquellen, Aufschäumen wird real als Bildwand vor dem Betrachter erlebbar. In «Marble (Nephton Hall)» baut sich eine dunkle, fast schwarze, mit hellen Einschlies­sungen bestückte Mar­mor­wand vor uns auf. Sie liegt als Objekt fast gänzlich in der Bildfläche, der Blick auf sie ist nur leicht angewinkelt. Sie verbaut, versperrt den Blick, und liest sich selbst wie ein Jackson Pollock mit seinen Drippings oder wie der Blick aus einer Weltraumkapsel zurück auf die Erde. Ein Stück fotografierten dreiteiligen Marmors, verletzt und, wie es scheint, an zwei, drei Stellen ungeschickt restauriert. Fast wollen sich hier die «Long Distance»-Fotografien und das Marmorbild bedeutungsvoll berühren, doch das abgehängte Wasser­rohr, durchgehend oberhalb der Wand montiert, lokalisiert, konkretisiert die Wand und entmystifiziert sie dadurch zugleich.

Erregungszustand (Fotografieren)

In Gesprächen mit Sharon Ya’ari erahnt man, wie sehr Fotogra­fieren für ihn Himmel und Hölle zugleich ist. Wie Schriftsteller früher mit dem Füllfeder­halter in der Hand und heute vor dem Computer auf einem besonderen Kissen sitzend erst diese bestimmte Konzentration finden, wie ein präziser Ort, ein vertrauter Geruch, eine Haltung, die man einnimmt, dem Körper jenen Ruck verpasst, der ihn spannt, den Geist weckt und fliessen lässt, so zieht Sharon Ya’ari mit dem Fotomaterial bestückt los, oft mit schwerfälligen 4x5inch-Kameras, streunt übers Land, nimmt Fährte auf. Diese Bewegung, dieses sich Auf­machen, Unterwegssein, scheint ihn in eine Art Erregungszustand zu verset­zen. Alleine unterwegs, mit sich, der Kamera, in seinen Gedanken verhangen, mit den Gesteinsbroc­ken der Geschichte, des Alltags, des Gebrauchs, die sich ihm in den Weg stellen, an denen er vorbeistreift, die er übersieht, zu denen er zurückkehrt, manchmal mehrmals: das ist die Stimmung, die ihn alert werden lässt, konzentriert und aufnahmefähig. Sein Geist und Körper stehen auf Empfang, offen, Dinge zu bemerken, wahrzuneh­men, aufzunehmen. Sharon Ya’ari beschreibt das als einen sehr intimen Augen­blick. Ein Zustand, den er sucht und liebt, der ihn aus dem Alltag reisst, ein Zustand auch, der nie aufhören soll, dem er nur unwillig mit dem Klicken des Auslösers ein Ende setzt. Das finale Fotografieren beendet den Schwebezustand, lässt ihn zurück­sinken, manchmal sich auch gelangweilt abwenden von dem, was er gesehen hat. Dann spürt er die Unhandlichkeit, das Gewicht der Kamera plötzlich wieder. Das Gefühl ist weg, vorbei. Eine neue Spannung muss sich, an einem anderen Ort, aufbauen. Entsprechend aufwendig ist für ihn anschliessend die Arbeit am Bild: Das Vorbewusste ins Bewusstsein holen, die eigenen Hand­lungen begreifen, den sinnlichen Bezug wiederherstellen. Aus dem Leid des Spannungsabfalls die Freude am Bild wiedergewin­nen, seine Sprache verstehen, nun bewusst, von aussen an sich selbst herantreten. 

Sharon Ya’ari verfällt in eine Form von Tagträumen, ein Misch­zustand zwischen entrückt und doch bei sich selbst sein. Eine Flucht und ein Ankommen. Er scheint sich in realer, physischer, und in einer psychischen, emotionalen, sinnlichen Landschaft zugleich zu bewegen. Ein Hamish Fulton, doch letztlich auf der Suche nach sich selbst, der eigenen Exi­stenz, hier in diesem Land. Unterwegs sein als Motor, seismographisch wach und ziellos treibend. Wissend, dass selbst die Beobachtung das Vorgefundene ver­än­dert.

Latenz

So sehr Sharon Ya’ari den Auslöser nicht wirklich betätigen will, weil dadurch etwas festgelegt, ein für allemal fixiert wird, weil sich flirrende Gedanken, Wahrnehmungsfetzen definitiv mit einen Objekt vereinen und wie in einem chemischen Prozess ausfällen, so sehr legt er seine Bilder in einer Art und Weise an, dass sie einen Zustand der Latenz ausstrahlen, dass sie in einer Art vorsprachlichem Erre­gungszu­stand, in der Schwebe hängen bleiben. Zeichen formieren sich, Bedeutungen klingen an, im Gegebenen schlummernde Möglichkeiten bieten sich an, aber bitte nicht zu viel davon, nicht zu weit, nicht in Richtung Eindeutigkeit. Sharon Ya’ari bemüht sich offensichtlich, die Bilder offen zu halten, sie nicht zu determinieren, sie auch nicht freizugeben, wenn ihre Bedeutung zu anschaulich, zu deutlich, zu festgelegt ist, sie nicht zu veröffentlichen für einen eindimensionalen, instrumentalisierenden Gebrauch. Seine Fotogra­fien sollen sich vielmehr wie offene Felder verhalten, in denen wir kreisen, herumschlendern und mit unserem Eintritt ins Bild ein Spannungs­feld zwischen Gezeigtem und Gesuchtem auslösen. Ein Bild, das eine eindeutige Aussage vor sich herträgt, so der Gedanke von Sharon Ya’ari, ist kein Bild mehr. Es ist eine Botschaft, die ebenso geschrieben sein könnte. In Israel, in dem wie in fast keinem zweiten Land, alles politisiert ist, in dem alles Entweder-Oder ist, So-oder-So, engagiert sich Sharon Ya’ari, fast wie ein Don Quichote, um all die vergessenen, verlorenen Zwischen­töne, um das Recht, sich nicht festzulegen, Felder zu bestellen und nicht gleich zu ernten. Er bemüht sich sichtbar um eine «weiche» Kunst in einer harten politischen Realität. Dinge beginnen zu sprechen, sich mit anderen Zeichen und Ereignis­sen zu einem Netzwerk zu vereinen, doch dann stocken sie, sie geraten in Schwebe. Sie sind merk-würdig, doch sie sprechen nichts aus, jedenfalls nicht deutlich, sie deuten bloss an, geben zu bedenken. Sie sind weit mehr Frage-, denn Antwortbilder, Rätsel formu­­lie­rende, denn Rätsel lösen­de Fotografien. Es gilt, auf sich selbst zurückgeworfen, die Fragestellung zu überdenken, dem eige­nen Phantom-Schmerz nachzugehen. Sharon Ya’ari folgt den Spuren tiefliegender Adern, die sich fragmentarisch da und dort an der Oberfläche abzeichnen.

Zeitkapsel

«All of these are looks at situations involving slow, inevitable decay…», sinniert Sharon Ya’ari im Gespräch und lässt dann den Begriff «Tired Objects» fallen, spricht von der Erosion, vom Zerfall, vom Verlust der Funktionen. «Rewind the Future», die Zukunft wird zurück­gespult und erodiert vor den eigenen Augen. Sharon Ya’ari beschreibt in seinen Bildern einen hochmelan­cholischen Zustand, in dem die Spannung zwischen Idealität und Realität auszuhalten ist. Während alles vergeht, während die Zeiten, Winde und Fluten alles ero­dieren, wegschwem­men, wegblasen, was sein könnte und doch nicht ist, was hätte sein können und nicht mehr sein wird, ist der Kopf immer über Wasser zu halten. Der Verfall steht allen Objekten, die Veränderung dem Leben ins Gesicht geschrieben. Sharon Ya’ari braucht das Bild eines «disappointing wadi» als Sinnbild für enttäuschte Erwartungen.

In den neueren und neusten Bildern von Sharon Ya’ari glaubt man einer langsamen, stetigen Transformation von Raum und Zeit beizu­woh­nen. Nicht nur in einer Richtung, nicht nur vorwärts. Mit seinen Fotografien, auffallend oft mit Doppelbildern, betreibt er eine Art von Archäologie des Daseins, eine Erforschung von Raum und Zeit. Dank der Erosion offenbaren sich alte Schichten, vergan­gene Zeiten. Historie legt sich frei. Andererseits brennen sich Geschichten, prägt sich Geschichte in die Landschaft ein, finden laufend Überlagerungen statt. Schmetterlingen gleich verändert ein ein­ziger Flügel­schlag alles andere mit. Das Sein, das Sein­sollen, das Seinwollen, das Nichtsein: Alles schreibt sich in die Landschaft, in die Gegenstände, in das Mobiliar der Gesellschaft ein. In Ya’aris Bildern wird der Raum immer enger mit der Zeit verwoben. Wie in einer Zeitkapsel bewegt er sich im Raum, wie in einer Raumkapsel gleitet er durch die Zeit. Bei Licht, bei Schat­ten, in der Nacht; in Farbe anders als in Schwarzweiss. Ein Lidschlag, und der Baum, der noch da stand im Bild, ist im nächsten Bild weg. Drei junge Frauen, die am Strassenrand stehen und in die gleiche Richtung schauen, scheinen etwas zu beobachten, gelassen und aufmerksam zugleich. Die Mutter mit dem Kind, die gedankenvoll das Kinn abstützt und in die Weite schaut, die Frauen, Männer und Hunde, die herumspazieren, übers Feld streunen, sie warten und schauen. Das Buswartehäuschen, von vorne und von hinten fotografiert, das Schutz bieten soll, doch weit eher ein Warten symbolisiert. Licht an, einen kurzen Augen­blick erkennt man etwas, Licht aus, es verschwindet wieder. In die­sen kleinen Handlungen und Gesten, die Sharon Ya’ari alleine oder mit sorg­fältigen, die Zeit stockenden oder beschleunigenden Doppelbildern fotogra­fiert, manifestiert sich die Möglichkeit und Unmöglichkeit zugleich. «A shimmer of possibility», um eine umfangreiche Arbeit von Paul Graham zu zitieren, mit der Sharon Ya’aris Arbeit einiges gemein hat. Der Schimmer einer Möglichkeit, zu sehen in klei­nen Gesten, kleinen Bewegungen, kleinen, unmerklichen Anstren­­gungen, wenn eine Schicht freigelegt wird, ein Licht aufblitzt, jemand sich aufmacht, etwas zu tun. 

In «Nagala mound 3» sitzt eine Familie draussen im Feld auf grossen Bank auf einem Holzpodest. In einem Naherholungsgebiet, einem Park des Pro­viso­ri­schen, des Vergehenden. Sie sitzen auf einer Holz­konstruktion, die auf Geschich­te und Geschichten, auf Trockenheit und Flut aufsitzt, und die Familie schwebend fast in der Luft hält. Und Sie schauen hinaus, in sich hinein. Sind da.

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(Zitate von Sharon Ya’ari stammen aus Gesprächen, die im Frühjahr 2013 mit dem Autor stattfanden.)