Mai 2017

Shifting Realities

English Version: Shifting Work, Shifting Realities →

Die Arbeit ist in Bewegung, und mit ihr die Realität, in der wir leben, unser Fundament, auf dem wir stehen, unsere Identität, unser Selbstwertgefühl und unsere Selbstsicherheit. Alles scheint in Bewegung zu sein, als sässen wir auf dem Rücken eines Tigers, ohne zu ahnen, wohin die Reise geht. 

Die Video-Arbeiten in dieser Ausstellung führen uns unterschiedliche Arbeitsformen vor, zeigen Handarbeit, Kopfarbeit, Roboterarbeit, einfache oder hochspezialisierte Arbeitsabläufe. Farocki/Ehmann zum Beispiel zeigen 90 verschiedene Videos aus fünfzehn verschiedenen Städten. Für Labour in a Single Shot (2011-2014) kehrten sie an den Anfang der Filmgeschichte zurück. In Referenz zu einem der ersten Filme, die je gemacht wurden - La Sortie de l’usine Lumière à Lyon (1895), in dem die Lumière-Brüder in einem Take Arbeiter und Arbeiterinnen beim Verlassen der Fabrik zeigen –, reisten Farocki und Ehmann in 15 zentrale Städte und produzierten in Zusammenarbeit mit lokalen Videokünstlern und Kameraleuten über 400 Kurzfilme zum Thema Arbeit. Die Filme zeigen bezahlte und unbezahlte, materielle und immaterielle, traditionelle und zeitgenössische, industrielle und vorindustrielle Arbeit, immer in einem single shot aufgenommen, aus der Doppelperspektive der individuellen Handlungen mitten in kollektiven, gesellschaftlichen Zwängen. 

Yuri Ancarani beschäftigt sich mit unsichtbarer Arbeit. In seinen drei Videos Il Capo, Piattaforma Luna und Da Vinci zeigt er Menschen bei höchst delikaten Arbeiten: den Chef bei seinem Handspiel voller präziser Anweisungen in den Marmorbrüchen von Carrara (Conducting his dangerous and sublime orchestra against the backdrop of the sheerslopes and peaks of the Apuane Alps, the Chief works in total noise, which create a paradoxical silence); den Chirurgen bei einer Operation mit dem Da-Vinci-System, beim Eintauchen in das Zwischenreich von Körper und Maschine, und die Tiefseeforscher in ihrer Unterweltkapsel beim langsam Abstieg in grosse Tiefen. «I wanted to follow closely such an extreme profession» says Yuri Ancarani. «For three days we lived under heavy pressure in the hyperbaric chamber together with the divers, only they were like actors to us. We ate with them and slept next to them, breathing in helium at times and speaking like «Dufy Duck», in a distorted tone of voice. It was truly intense, an experience that I hope I re-rendered well through the movie». Ali Kazma beschäftigt sich unablässig mit Arbeit, mit verschiedenen Arbeitsformen, mit Handarbeit in einer Alessifabrik (in Household Goods Factory), Handarbeit von Bürolisten (in O.K.), und mit der hochtechnologischen Produktion von Autos in einer Audi-Fabrik (in Automobile Factory). Kazma und Ancarani arbeiten beide stark mit dem Rhythmus der Arbeit, der Arbeitenden, der Arbeitsgesten, sie lassen sich von der «Musik» der Arbeit leiten. 

Die Videos beschäftigen sich mit der Veränderung der Industriewelt, schweifen ruhelos durch und um sich leerende Fabrikanlagen, während es anderswo weiterhin hämmert und zischt oder lautlos mit grosser Geschwindigkeit und hoher Präzision produziert wird. Sie führen uns ebenso durch von Menschen entleerte, digital gesteuerte Produktionswelten wie durch menschenleere, verlassene Fabriken, die nicht mehr benutzt werden. Die Videos entwickeln eindringliche Bilder von unterschiedlichen Atmosphären, in denen gearbeitet oder verhandelt wird, von der handwerklichen Tätigkeit eines einzelnen Menschen zur Massenproduktion, vom Menschen zum Roboter, von der Energie- zur Hightech-Produktion, von Entwicklung und Produktion zur Vertragsverhandlung, von der juristischen Auseinandersetzung bis hin zu strukturellen, existenziellen Fragestellungen im Finanzsystem, in den Formen des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens. 

Willie Doherty filmte in seinem Single-channel-Video Empty ein leerstehendes Bürogebäude in Belfast. Er umkreist es mit einer Kamera, die zahllose Einzelbilder schiesst, die schliesslich zum Film montiert werden. Wir erleben das Gebäude, an dem die Farbe abblättert und Metallteile am Verrosten sind, in wechselnden Lichtverhältnissen, wenn Wolken vorbeistreifen und das Sonnenlicht abdecken. Das Gebäude wird in dem langsamen Umkreisen allmählich zum Symbol der Leere, des Vergehens, der Sinnlosigkeit, wenn die Arbeit stoppt, wenn Betriebe aufgegeben werden. Chen Chieh-jen wiederum beschäftigt sich in Factory mit dem Zerfall der Textilindustrie in Taiwan um 2000. Er sagt selbst: «In the 1960s, Taiwan became an important world industrial center due to Cold War politics and its low-cost labor market. In the 1990s, Taiwan's labor-intensive industries started migrating abroad to regions with even lower labour costs due to advancing globalization. The ensuing reduction in jobs and factory closings in Taiwan forced many workers into a state of long-term unemployment. In 2003, I invited several acquaintances who had worked at the Lien Fu Garment Factory for more than twenty years to perform in this film at their former workplace. When the factory was abandoned seven years before, these women workers were denied pensions and severance pay. Although the workers staged a fierce protest attracting a great deal of media attention, their case still remains unresolved today due to weak laws and the fact that the company transferred the funds before closing the factory. After media attention subsided, the factory building was never reoccupied and these women had no choice but to seek work elsewhere.» Da die Frauen nur bereit waren, an diesem Film mitzuwirken, wenn sie nicht sprechen mussten, gleicht dieses Re-enactment der einstigen Stofffabrik einem stillen Theaterstück, das in den leeren Hallen mit den noch vorhandenen Requisiten aufgeführt wird. 

Im dritten Raum der Ausstellung treffen drei Wertigkeiten, drei arbeitsexistenzielle Situationen aufeinander: Auf der einen Seite die hochpräzise Robotproduktion in der Audifabrik im Video von Ali Kazma, auf der anderen Seite die leerstehende Fabrik von Chen Chieh-jen, und schliesslich die Videoinstallation von Pieter Hugo, die auf zehn Monitoren die Gräuel der Müllhalde von Agbogbloshie am Stadtrand von Accra, der Hauptstadt Ghanas, gelegen, zeigt. Die Arbeit heisst Permanent Error, sie existiert als Fotoarbeit, Buch und auch als Videoarbeit. Hier stehen zehn Personen vor unseren Augen und schauen uns an, dahinter Tausende von Tonnen Elektromüll, von gebrauchten Computern, die von Hunderten von Menschen abgewrackt werden. «Dazu verbrennen sie die Geräte, bis die Drähte der Kabel freigelegt sind, oder auch die wertvolleren Rohstoffe der Chips und Platinen. Kaum etwas davon ist ungiftig, die schier endlose Liste dessen, was dort in Wasser, Luft und Menschenhände gerät, reicht von Blei und Cadmium bis Quecksilber und Chrom. Dennoch gibt es keinerlei Schutzkleidung, genaugenommen nicht einmal Werkzeuge. Informationszeitalter und Steinzeit prallen ungehemmt aufeinander.» (Freddy Langer in der FAZ)

Die Realitäten in der Arbeitswelt ändern sich zurzeit fast täglich. Was gestern galt, hat morgen keinen Wert mehr, was wir heute tun, wird bald keinen Sinn mehr machen. Diese ungewöhnliche Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung desorientiert uns, bewirkt eine Gefühl der Unsicherheit, des Verschwimmens, Verfliessens, löst vielleicht auch Ängste aus, bei jedem einzelnen, aber auch, je nach Region, je nach Kontinent, bei ganzen Beschäftigungsgruppen. Wir fragen uns alle: Wie werden zukünftig die Regeln des Zusammenlebens, des Zusammenarbeitens funktionieren? Wie verhält sich die globale zur regionalen, lokalen Welt, wie die künstliche Intelligenz zum menschlichen Dasein, wie reich zu arm, wie Gewinner zu Verlierer? Was werden die neuen Regeln, Riten und Rituale, was die neuen Gesetze sein, mit denen wir das Zusammenleben in radikal neuem Kontext organisieren? Es gibt Städte, die sind im Wortsinn um Fabriken herum gebaut worden, sie entstanden in direkter Folge der Gründung einer Industrie. Was sind das für Städte, und wie funktionieren sie? Was verbindet die zukünftigen Industrien mit den Städten, mit dem Gemeinwesen? Und wohin gehen all die gigantischen Abfälle, die wir laufend produzieren, wie scheiden wir sie aus, wo deponieren wir den Elektroschrott von heute? 

Eva Leitolf diskutiert in ihrer fünfteiligen Videoinstallation Company Town das Verhältnis der Fabrik, der Industrie zur umliegenden Stadt am Beispiel von Volkswagen in Wolfsburg. Sie lässt dabei kühle Schwarzweissfotografien im Stil der fünfziger Jahre auf fragende, erkundende Texte stossen, Konzernpolitik sich an gesellschaftlichen Prozessen, an Fragestellungen der Stadt messen. Gabriela Löffler filmt in The Case einen fiktiven Rechtsfall, der in Genf an der WTO verhandelt wird. Im Rahmen eines Wettbewerbs für junge Juristen treten zwei Teams gegeneinander an: Einerseits das Team aus der renommierten Privatuniversität Harvard Law School von Cambridge, das als Kläger-Team im Finale auftrat, andrerseits das Team aus der National and Kapodistrian University von Athen. In diesem Rechtsfall der «ELSA Moot Court Competition on WTO Law» wurde der fiktive afrikanische Staat «the Federal Republic of Aquitania» von einem anderen fiktiven afrikanischen Staat «the United Kingdom of Commercia» am WTO-Handelsgericht angeklagt, wegen Verletzung der Wasserrechte. Löffler richtet ihr Augenmerk in beunruhigend kühlen Schwarzweiss-Bildern auf zwei Monitoren auf das sogenannte «Entstehungs-Moment», «in welchem Sprache zu Rhetorik und somit zu einem gezielten Instrument von Diskurs und Politik wird. Dieser Vorgang, in dem Gesetze in Rhetorik vorgetragen und verhandelt werden, ist auch und vor allem ein politischer Moment, in dem die Macht der Sprache sichtbar wird.» (Gabriela Löffler)

In den beiden Videos Rituals und Rites of Passage von Julika Rudelius wird das Thema in anderer Form weitergeführt. In Rites of Passage verfolgen wir, wie junge Männer von ihren Vätern oder Mentoren eindringlich in die Verhaltensweisen von Führungskräften, von Leadership eingeführt werden, in «Rituals» verfolgen wir, wie Jugendliche in einem chinesischen Textilmarkt die Gesten und Verhaltensweisen aus der Werbung übernehmen: «Advertising imagery seduces and dominates attitudes, style, and body language in China just as it does elsewhere and forms a common language between two seemingly different cultures. The viewer initially encounters young, androgynous men posing seductively amidst traffic. The discrepancy between the poses and the surrounding scenery reveals the artificiality of the gesture itself and the commercialized eroticism therein, simultaneously questioning the role of the young boys … a cheap imitation of having power and disposable wealth - a shower of nothingness.» (Julika Rudelius)

Verhaltensweisen werden auch in Thomas Vroeges So help me God sichtbar. Er untersucht darin die angeblich unberührbare Position des Bankers. We look at men who seem to have the world at their feet and ask ourselves who they are and what goes through them. What happens to them when they lose control and their position begins to falter? In So help me God nimmt uns Thomas Vroege in eine stark visuelle poetische Reise durch die Finanzwelt nach der Krise und versucht, uns die menschliche Seite dieser geschlossenen Welt, dieser Bank-Cities zu zeigen.

«Das strukturelle Problem scheint mir darin zu liegen», schreibt Christina von Braun, «dass alle, die mit Geld zu tun haben, mit einem hohen Grad an Abstraktion fertig werden müssen. vor allem heute, wo das Geld nur noch Zeichen ist. Je mehr Geld sie verdienen, desto mehr fürchten sie – zu Recht – den Moment, in dem sich das Geld als eine Anhäufung an Nullen offenbart. Mit jedem neuen Gewinn steigt diese Angst, und sie – nicht die Gier – wird zum eigentlichen Motor eines Strebens nach immer mehr und schnellerem Geld. Angst ist ein Impetus, der Menschen zum Spielball von Gefühlen macht – und mit dieser Ohnmacht steigt wiederum das Bedürfnis nach Geld.» Gaëlle Boucand dokumentiert im Video JJA die Selbstdarstellung eines französischen Finanzflüchtlings, der vor fast zwanzig Jahren seinen Wohnsitz in die Schweiz verlegt hat. JJA sinniert auf und in seinem Anwesen in einem manchmal fast surreal anmutenden Porträt über sich, seine Werte, seinen Sinn fürs Geld, seine Kämpfe mit Anwälten und Schweizern, seine Liebe für Alarmanlagen, seine Angst vor dem Betrogen-, vor dem Abgezocktwerden. Photographer and geographer Ad Nuis decided to travel to Baku, Azerbaijan: since 2005 home of the world’s largest oil pipeline, running through Georgia and Turkey. Nuis’ Oil & Paradise ironically examines the newly acquired wealth of the former Soviet state. Not long ago Azerbaijan, a country under strict dictatorship, organised the Eurovision Song Festival. It turned out to be a unabashed display of new wealth in the country that also competed to get the football World Cup and the Olympics. Human rights are not on its agenda and only a fortunate group of people profit from the country’s exuberant wealth. However few people in the western world seem concerned about this. There is too much at stake to do so. As Nuis calls it: «It’s geopolitics on a Champions League level».

Wir leben in Zeiten, in denen sich die Realität verschiebt, in denen wir begreifen, dass es verschiedene Parallelrealitäten gibt, die nebeneinander, nacheinander, übereinander funktionieren. Die Ausstellung versinnbildlicht das in visueller Weise, indem die verschiedenen Videos kleine Communities bilden, in denen sich die einzelne Videoarbeit zeigt und sich zugleich in kommentierender, kontrastierender oder stiller Weise zu den anderen Videos fügt oder sich von ihnen absetzt. Die Ausstellung erfordert ein wenig mehr Zeit als üblich, um sie wahrzunehmen, sie aufzunehmen. Nehmen Sie sich Zeit für diese starken, eindringlichen, reichen Bildwelten, für diese bewegenden Bewegtbilder, die uns die Entwicklung der Arbeit und des Zusammenlebens in unterschiedlichen Narrationen, Erzählweisen und Bildsprachen präsentieren. 

Beim Rausgehen aus der Photo Gallery begegnen Sie zum Schluss «Flocking» von Armin Linke (mit Ulrike Barwanietz, Maša Bušic, Irene Giardina, Herwig Hoffmann, Johanna Hoth, Giuseppe Lelasi, Samuel Korn, Armin Linke, Renato Rinaldi, Marc Teuscher). Das Video-Projekt, at the intersection of scientific research and art production, was developed during a cooperation between the Centre for Statistical Mechanics and Complexity (SMC) at the University La Sapienza in Rome, the ZKM Karlsruhe and the faculties of Photography and Media Art 3D at the University of Arts and Design Karlsruhe. Through their use of camera technique and 3D visualisation, the results of the research at the University of Rome offer new conclusions on the behaviour within flocks of birds. Das Video zeigt das Verhalten von einzelnen Vögeln innerhalb des Schwarms. Diese visuell so attraktiven Daten sind nicht nur für die Biologie, die Physik, sondern auch für die Ökonomen, Soziologen und für uns alle von Interesse. Wie leben und arbeiten wir in Zukunft zusammen?

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