2006

Shomei Tomatsu (Presserede)
[Fotomuseum Winterthur]

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Meine Damen und Herren

Ich begrüsse Sie herzlichst zur Pressevorbesichtigung der Ausstellung von Shomei Tomatsu. Für einmal werden ich eher knapp zu Ihnen reden, da mir eine heftige Grippe diese Woche einen Grossteil meiner Energie abgezogen hat (Details erspare ich Ihnen und mir). Ich weiss, dass das gerade dieses Mal nicht so schlimm ist, denn wir begleiten die Ausstellung mit elf ausführlichen Wandtexten. Zudem erläutern die drei grossen Texte im Buch von Leon Rubinfien, Sandra Philips und John Demos das Werk, den nationalen und internationalen Kontext von Shomei Tomatsu, zwei Texte davon haben wir in einem Beiheft übersetzen lassen.

Ich möchte an dieser Stelle dem San Francisco Museum of Modern Art für die erneut gute Zusammenarbeit danken sowie der Vontobel Stiftung, die nicht nur diese Ausstellung hier, sondern auch das Abendsymposium vom 27. Oktober mit ihrer grosszügigen Unterstützung ermöglichen. Ich danke auch Pietro Mattioli und dem Aufbauteam des Fotomuseums Winterthur für ihre gewohnt professionelle Leistung. Heute aber danke ich besonders Therese Seeholzer. Sie haben ja mit Frau Seeholzer auch immer wieder persönlich zu tun: Sie feiert heute ihr 10jähriges Jubiläum ihres grosses Einsatzes für das Fotomuseum, vor allem im Bereich Presse, Werbung und Ausstellungsorganisation. Ich bin sicher, dass ist uns allen ein Applaus wehrt!!

Es freut mich ausserordentlich, dass wir das Werk von Shomei Tomatsu hier vorstellen können. Vor allem aus zwei Gründen: Er vollständig ein weiteres Stück dessen, was wir 1995 mit Seiichi Furuya begonnen haben, 1998 innerhalb der Ausstellung „5,5“ mit einer grossen Präsentation von Nobuyoshi Araki weitergeführt, zwei Jahre mit der grossen Ausstellung von Daido Moriyama zusammen mit dem jungen Takashi Homma verstärkt und schliesslich mit der Vorstellung der jungen Fotografin Yoshiko Seino bisher abgeschlossen hatten: nämlich allmählich ein exemplarisches und dichter werdendes Bild über die spannende Fotografie in Japan seit dem Zweiten Weltkrieg vermitteln zu können. Und zweitens: weil wir mit Shomei Tomatsu die zentrale Vaterfigur japanischer Nachkriegsfotografie vorstellen können, die im Westen immer noch fast nur Eingeweihte kennen und die doch sowohl ein höchst engagiertes, tiefes wie fotografisch kraftvolles und experimentierfreudiges Werke vorlegt. -

Daido Moriyama, der ewige Jäger und ewige Gejagte, der aus dem Dunklen kommt und wieder darin abtaucht, mit seinen Bildern, die zugleich hochemotionell und doch kühl, aktionistisch und doch alltäglich zugleich sind, bezeichnete Japan als „grotesque, scandalous and an utterly accidental world of humanity.“ Sein Hass auf die japanische Situation war und ist sehr tief und liess ihn, in Verschmelzung von Weg und Werk ein expressives, dynamisches, ruheloses, auch abgründiges, erotisch und theatral aufgeladenes Werk und Leben leben.

Shomei Tomatsu, sein fotografischer Vater und Mentor, eigentlich nur acht Jahre älter, schildert seinerseits eine seiner zentralen Vaterlandserfahrungen so:

„ Ich glaube, dass die Amerikanisierung von den amerikanischen Militärbasen ausging. Es ist, als sei Amerika nach und nach durch die Maschen der Stacheldrähte, der die Stützpunkte umgibt, gesickert und als habe es von dort aus nach kurzer Zeit ganz Japan durchdrungen. 1945 füllten sich die vernichtend geschlagenen japanischen Städte mit alliierten Soldaten und Offizieren. Sie verteilten Schokolade und Kaugummi an durch den Krieg halbverhungerte Gesichter. Das war Amerika. Sei es, wie es ist, so bin ich Amerika zum ersten Mal begegnet. Seit damals konnte ich mich nicht von der Vorstellung der ‚Besetzung‘ lösen. Ich kann meine Augen nicht von Amerika abwenden, dem Land das mich völlig in der Gewalt hat, dem Land, das ich nie gesehen habe, aber mit dem ich auf schicksalshafte Weise zusammentraf, dem fremden Land, das in der konkreten Form einer Armee erschien, der ‚Besetzung‘ durch die amerikanische Armee.“

Tomatsu teilt mit Moriyama das höchst ambivalente, von Faszination ebenso wie von Ablehnung geprägte Verhältnis zu den USA, sein Werk ist jedoch im tiefsten Masse vom Interesse, von der intensiven Suche nach einem Vaterland, von der Frage also geprägt, was Japan nach Hiroshima und Nagasaki sei – was es sein könne. Sein Werk, entstanden nach den wohl grössten Erschütterungen, die Japan je erlebt hat – wir denken oft nur an Hiroshima und Nagasaki und vergessen, dass 66 Städte in Japan nahezu dem Erdboden gleichgemacht, dass Tokio von einem gigantischen Feuerwall fast vernichtet worden ist – ist nicht von dieser totalen Heimatlosigkeit wie bei Moriyama gezeichnet, sondern es sucht unablässig -  von den frühen Dokumentarserien zu seinem eigentlichen Hauptwerk und zum Spätwerk im Süden. Es sucht in der vorhandenen Realität, in den Häuten, die Japan überziehen – Gesichter, Asphalt, Strände, nackte Haut, Architektur – nach dem Jetzt und hier, warum und wo. Er beschäftigt sich mit dem Sichtbaren, sucht und zeigt, macht sichtbar, lässt erkennen, forscht, dahinter steckt wohl immer der grosse, alles verbindende Wunsch nach „Heimat“ für ihn und für Japan, bei gleichzeitiger Erkenntnis, dass das in herkömmlicher Weise nicht mehr zu haben ist. Dafür war zuviel geschehen.

Shomei Tomatsu ist der grosse, reichhaltige, gewaltige Fotograf der japanischen Nachkriegsgesellschaft, der sich mit teils obsessiver Intensität mit dem Wesen dieses neuen, aufgezwungen, zwiespältigen Americo-Japanischen auseinandersetzt, das einerseits lange reine Besetzung, andererseits aber auch als Befreiung von einer verkrusteten Gesellschaft verstanden wurde.

Zugleich aber begegnen wir einem Fotografen, der sich zunehmend virtuoser, jedenfalls sehr frisch und frei mit der Fotografie ausdrückt. Das ist ungewöhnlich. Wir kennen bei guten oder grossen gesellschaftlichen Dokumentaristen oft eine eindringliche, sich entwickelnde, aber auch geradlinige Bildsprache. Tomatsu hingegen beginnt, nach seinen Anfängen, zu springen, zu hüpfen mit der Fotografie. Manchmal gewinnt man den Eindruck, er übersetze Eindrücke aus der Kalligraphie oder aus der Malerei in die Fotografie. Damit schafft er eine ungewöhnlich vielfältige, reiche Bildsprache. Wir haben beim Hängen sehr deutlich gespürt, wie schwierig es war, die Bilder nebeneinander zu hängen, ohne dass sie sich wehtun. Es gibt den Tomatsu des alten Japans, den Tomatsu der Atombombe, mit dem er berühmt geworden ist, den Tomatsu der Amerikanisierung, den Tomatsu der wilden, erotischen und gewalttätigen sechziger Jahre in Tokio und es gibt den Tomatsu des Südens, der Suche nach Ruhe, nach Eigentlichkeit, nach Heimat in der Natur, nach dem Vorkriegsjapan. Immer betonen seine Fotografien auffallend, dass sie die Haut der Erde, die Haut der Gesellschaft scannen – wir versuchen das im Schlusskapitel „Haut einer Nation“ noch einmal zusammenfassend zu zeigen – , darüber hinaus aber formulieren sie ihre visuellen Sätze sehr verschieden, je nach Thema, je nach Phase, arbeiten mit starken Schwarzweisskontrasten in Hardedge-Manier oder werden in den farbigen Strandbildern fast butterweich in der Modulierung der Fundstücke und des Untergrundes.

Das Gesamtwerk ist eine so ungewohnt frische und doch präzise Gesellschaftsdokumentation vermischt mit existenzialistischer Expressivität, dass dieses Werk, das die vergangenen 50 Jahre umfasst, kaum historisch wirkt. Es ist vom Informationswert her, vom Gehalt her und von der fotografischen Ausformung eine besondere Seh- und Erfahrungslust.

Meine Damen und Herren, ich lege Ihnen dieses grossartige und vielfältige Werk mit grosser Freude ans Herz und wünsche Ihnen viel Spass dabei.