2001  /  Thomas Flechtner: Colder (Glattbrugg)

Stadt und Seele - Thomas Flechtner

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<p>aus der Serie "Colder"</p>

aus der Serie "Colder"

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Eine kleine Aussichtsterrasse könnte es sein, viereckig, von der aus man hinunter sehen oder einen Überblick gewinnen kann. Doch so einfach gibt das Bild sein Geheimnis nicht preis. Fast jungfräulich liegt die Szenerie vor uns, frisch verschneit: ein Busch, eine Tanne, ein paar Zweige ragen nur hervor, Andeutungen von Sitzbänken zeichnen sich ab, auf Schulterhöhe zieht sich eine helle, betonierte Umrandung durchs Bild, dahinter Lichtschein, Farbe, nichts. Winterliche ‚Auffahrt‘? Sprung in die Tiefe? Der Blick der Romantik hinüber ins Weitentfernte, Verlorene? Das Verschneite, Zugedeckte und der eng fokussierte Blick verringern die Information, abstrahieren und verleiten zu symbolisierender Interpretation.

Dann segeln wir über der Stadt, blicken über die weissen Dächer in die verschneite Strasse hinunter, hell wie ein Kometenschweif, leuchtend wie die Milchstrasse, quer dazu dunkle, nachtschwarze Fassaden, durchbrochen von wärmenden Fenstern. Warmes rötliches Gelb, das mit dem kaltweissen Schnee und den düsteren Fassaden kontrastiert. Merkwürdig, man gewinnt nicht den Eindruck, hinabzusegeln in die Stadt, sondern wegzufliegen, mit einem letzten Blick zurück.

Nun liegt die Stadt offen vor uns, nächtlich blinkend und leuchtend, tausend künstliche, schrille Lichter, wie eine Raffinerie, wie ein grosses urbanes Labor, eine Maschinerie von Lust und Kraft, von Macht und Machbarkeit. Sanft und weich sich verziehender Rauch erzählt von Zeit und Untergang. Doch das Bild ist wiederum zweigeteilt: Im Hintergrund die Stadt als Labor, im Vordergrund hell beleuchtete Fassaden, Schlagschatten, scherenschnittschwarze Winterbäume und zweimal rechteckig gefasste monochrome Farbflächen in Rot und Blau. Sind wir in Verona, im römischen Theater, ist der Vordergrund die Bühne, die Stadt die Kulisse, tritt gleich ein Opernsänger auf?

Eingetaucht in die Stadt – es ist La Chaux-de-Fonds – türmt sich ein grosser Schneeberg vor uns auf, links ein paar Baumwipfel, rechts ein Dach und eine Strassenlaterne, sonst nichts. Der Berg verdeckt die Sicht. Unberührter Schnee vorne, darin aufgetürmt gepresster, dann gebrochener, geschaufelter Schmutzschnee: Schnee als Abfall. Später Schnee als düstere Mauer, welche die Sicht fast gänzlich verdeckt. Als sässen wir angebunden in Platos Höhle, sehen wir dahinter nur Schemen, Schatten von Hausdächern und Baumwipfeln. Dann geht’s an Garagetoren vorbei. Dunkle schwarze Tore reihen sich auf und saugen das Licht von der Strasse. Die überragenden Tannen verwandeln die Szenerie fast schon in Friedhofsarchitektur. Schliesslich eine Tankstelle, wohl sehr früh, um vier Uhr morgens vielleicht. Kein Mensch ist zu sehen, niemand hat den frisch gefallenen Schnee bisher berührt. Die Tankstelle liegt da, als sei vor zwanzig Jahren zum letzten Mal jemand vorbeigefahren, als wäre sie von einem Icestorm jungfräulich konserviert worden.

Die Stadtdiskussion hat sich in den vergangenen Jahrzehnten mit der „Unwirtlichkeit der Städte“ (Alexander Mitscherlich) beschäftigt, hat das Verschwinden von identitätsstiftenden Zentren beklagt, hat den Wandel der bedeutsamen Stadt zu einem Un-Ort, Nicht-Ort beobachtet – die Stadtfotografie hat die Stadt vermessen, sie als besetztes, funktionales Territorium gesehen, hat sie möglichst emotionslos, möglichst objektivierend beobachtet, und zeigt heute, wie der Raum sich auflöst, wie der wirkliche Raum durch die Medien zur Bild-Fläche gepresst wird. Thomas Flechtners Fotografien berühren diese Diskussion, sprechen da und dort von Entfremdung, von Entzug, wenn Baukörper in Kälte erstarren oder gegen aussen sich total verschliessen. Doch im Zentrum ihrer Absicht scheren diese Bilder sich wohl wenig um gegenwärtige Debatten, setzen sie eine eigene an.

Sind es Schneebilder? Oder Stadtbilder? Oder Nachtbilder? Ist die Haltung streng dokumentierend oder ‚aufladend‘? Deutlich wird: Es geht Thomas Flechtner um Formen. Er ist hier auch Plastiker, wenn sich ein Schneeberg auftürmt, eine Schneemauer die Sicht verbaut, Bäume in wundersamen Formen erstarren, wenn die klaren, geometrischen Formen der Architekturen mit den weichen Rundungen der weissen Pracht kontrastieren, wenn die weiche geschwungene Architektur, die Villa Turc von Le Corbusier zum Beispiel, sich mit dem Schnee verbindet und wirkt, als sei sie gerade aus dem Schaumbad, aus dem Eismeer aufgetaucht. Geometrische Kuben und wilde Schneemassen, nächtlich-schwarze Fassaden mit einzelnen erleuchteten Fenstern, die rechteckig hochragende gelbe Fassade eines Sechzigerjahre-Hauses oder ein horizontal sich ausdehnender Baukörper, dessen Fassade wie ein Gewebe, wie Tuch anzuschauen ist, unterstreichen Flechtners Interesse, seine Bilder mit Flächen aufzubauen, die sich addieren, ergänzen, überlappen oder widersprechen.

Deutlich wird auch, dass es ihm um Farben und ums Hell-Dunkel geht. Echtfarben und Falschfarben fliessen ineinander über oder prallen laut aufeinander. Hellblautöne haben einen Stich ins Türkis, Dunkelblautöne nehmen Rot auf, neigen zum Violetten. Dunkle Flächen saugen den Blick auf. Der Schnee und Flechtners Langzeitbelichtungen verkehren Hell-Dunkel-Werte: die Teerstrasse wird hell, schneeweiss, sie leuchtet, während die Fassaden manchmal wie alte schwere Wintermäntel düster in Reih und Glied harren. Der Boden, weit heller als der Himmel, erdet nicht. Der Nachthimmel lastet über der erleuchteten Stadt. Helldunkelwerte verwandeln Hauskuben, Schneehaufen genauso in kafkaeske, bedrohliche Stimmungen, wie Lichter die Fassaden in Weihnachtskalender, Weihnachtsbäume verwandeln, feierlich erleuchtet.

La Chaux-de-Fonds bei Nacht. Die Jurastadt – die 1892 nach einem Grossbrand neu und mit geometrischem Grundriss aufgebaut worden ist, die mit Corbusier einen grossen Architekten, mit Louis Chevrolet einen wichtigen Autobauer und mit Blaise Cendrars einen berühmten Schriftsteller in die Welt entliess – im kalten Winter, bei Schnee. Die Uhrenstadt, die nach jeder Wirtschaftskrise wieder aufersteht, und durch die mehr anarchistisches Denken gezogen ist als durch jede andere Schweizer Stadt, wird menschenleer fotografiert. Alles zeugt von menschlicher Tätigkeit – Spuren, Vorrichtungen, Geräte, Architektur –, aber es ist, als hätten alle gleichzeitig Pause: Die Maschine Stadt läuft, läuft weiter, auch wenn ihre Erzeuger schlafen.

Thomas Flechtner lebt seit ein paar Jahren in der Nähe. Wie er sich in einigen anderen Arbeiten der Landschaft im Schnee, im Winter aussetzt, so setzt er sich hier mit der Stadt im Winter auseinander. Viele Anzeichen lassen die Arbeit zunächst als dokumentarisch einschätzen: 4x5inch-Fotografie, Stativ, Langzeitbelichtungen und sorgfältig gewählte Standorte. Doch bei aller Objektivierung taucht Flechtner ein, in die Stadt, und verwandelt sie in Lebkuchenhäuschen, Weihnachtsbäume, Schiffsbuge, Schneehäubchen, in Opernbühnen oder in Gefängnisse. Er taucht in die Stadt wie in einen Körper ein, wandert durch ihr Geäder, an Höhlen, bedrohlich düsteren Mauern vorbei, geht über helle Plätze, bleibt vor feierlich beleuchteten Häusern stehen. Während bei Nobuyoshi Araki der Stadtkörper erotisiert und sexuell aufgeladen wird, verwandelt er sich in den Fotografien von Flechtner in einen Spiegel für Inneres, für unterschiedliche Gefühle und Stimmungen, wird er zur Seelenlandschaft. Hochstimmung und Niedergeschlagenheit, Aufatmen und Beengung, vertraut und bedrohlich zugleich – das und mehr sind die Atmosphären, die aufscheinen. Sie alle müssen sich vor der Reinheit und Kälte und Stille des Schnees bewähren, sie alle sind gemeinsam verschoben worden, in Richtung: Colder – wo es ernst gilt.