Zum Schluss ist ein Bild entstanden, das vielleicht nie mehr wieder gezeigt werden kann. Seine immensen Ausmasse von 676cm mal 732cm, von fast sieben auf sieben Meter, verlangen nach einem eigens dafür gebauten Raum, einem Bilderschrank zur Aufbewahrung und einem Bilderraum zum Ausrollen und Vorzeigen. Vier Bildbahnen würden dann – ähnlich wie japanische Bilderrollen – senkrecht ausgerollt, parallel und nahe nebeneinander, und über sieben Meter hoch gehängt. Allein das Handling erforderte fast altmodisches Fingerspitzengefühl. Eine reiche Bildfläche würde sich vor unseren Augen ausbreiten. Ein opulentes Bildangebot, das wir nur zu gerne annehmen möchten, in das wir eintreten, in das wir uns versenken würden. Zweifarbig, in Gelb und Rot (Yellow und Magenta) gehalten, öffnet sich eine Gartenlandschaft mit Architekturelementen im Hintergrund, ein Arkadien, dessen reines Glücksversprechen durch Einsprengsel von Schwarz, von Dunkelheit im Zaum gehalten wird. Tag und Nacht, Glück und Tod scheinen hier nahe beieinander, scheinen verschränkt zu sein, das eine durchzieht das andere, das andere ermöglicht das eine. Eine (fast spirituelle) Gratwanderung durch die Bedingungen des Lebens.
Das Bild mutet fantastisch, fast ein wenig mystisch an. Es regt zum Lustwandeln, Fantasieren, zum Spekulieren an. Der halbe Kreisbogen schliesst es, gibt ihm Halt, es wirkt als Schale, als Gefäss, verwandelt sich in ein Wappenschild. Und scheint, wie durch ein Guckloch, den Blick in ein anderes, neues Reich zu ermöglichen. Die Realisierung dieses Bildes mutet nicht weniger fantastisch an. Entstanden ist es während der Sonntagsmesse, am 29. Mai 2005 in der Kirche St. Arbogast in Oberwinterthur. Die Belichtung dauerte eine Stunde und sechzehn Minuten lang und entsprach damit genau der Zeitdauer vom Eintreffen der Kirchgänger bis zum Ende des Gottesdienstes, bis kurz vor dem Verlassen der Kirche. Die Zürcherin Andrea Good verdunkelte die gesamte Kirche, befestigte die vier Fotopapierbahnen senkrecht an der Seitenwand und liess das Licht durch ein kleines, ein paar Millimeter grosses Loch in die Kirche eindringen. Die Strahlen des Gartens vor der Kirche rieselten eine gute Stunde lang über das Fotopapier, das Bild des Gartens prägte sich (gefiltert) auf den Farbpapieren ein, sehr langsam, aber nicht ohne auf seinem Weg die Kirchgänger und die Kirchbänke «mit ins Bild zu rücken». Alles seitenverkehrt, wie das die optischen Gesetze vorsehen und erklären. (Wenn Sie das Heft drehen, dann erkennen sie, besonders gut auf der linken Seite unten, kontrastreich die Kirchbänke und verschwommen einige Kirchgänger. Die Bildbahnen mussten also nach dem Entwickeln und Fixieren umgekehrt wieder ausgerollt werden.) Andrea Good benutzte die gesamte Kirche als eine grosse Camera Obscura, als dunkle Kammer, in die sich durch ein kleines Loch das Spiegelbild der Gartenanlage gebündelt und blendend eingiesst, einmalig, als unwiederbringliches, unwiederholbares Unikat. Zwei parallele Räume und zwei parallele Zeitläufe schreiben sich miteinander ins Bild ein, in einer grossen Verschränkung von Innen und Aussen, einer Art Kommunion von Realitäten hier und dort. Das ungewöhnliches Ergebnis eines Dauerns, Geschehens und Verschmelzens, das die Kirchgänger im Dunkeln miterlebt haben.
Die Camera Obscura, seit Aristoteles als Prinzip bekannt, faszinierte die Menschen Jahrhunderte vor der Erfindung der Fotografie. Sie liessen sich begeistern, eine solche dunkle Kamera betreten und dem Lichtstrahl von Auge folgen zu können. Astronomen beobachteten damit Sonnenflecken, Sonnenfinsternisse, ohne ihre Augen direkt den Strahlen aussetzen zu müssen. Generationen von Malern schliesslich bemächtigten sich ihrer als begehbare oder transportierbare Hilfe beim Zeichnen und Vorzeichnen von Gemälden. William Henry Fox Talbot experimentierte ein paar Jahre vor der offiziellen Erfindung der Fotografie damit, den Lichteinfall auf Papiere, die er an der Hinterwand einer Camera Obscura befestigte und teils mit Pflanzen bedeckte, fixieren zu können. Seine «Pencil of Nature»-Versuche mündeten schliesslich fast zeitgleich mit L.J.M. Daguerres Daguerreotypien in zarten, aber auch hochfragilen Kalotypien, den ersten Fixierungen des lebendigen Licht- und Schattenspiels. Die Camera Obscura und die Fotografie allgemein begleitet ein seltsames Paradox: Je unrealistischer (diskontinuierlicher) die Herstellung einer Fotografie ist, desto realistischer wirkt das Resultat – und je realistischer die Herstellung, desto fantastischer mutet das Bild an. Die Fotografie, die in einer 250stel Sekunde geschossen wird, wirkt hyperreal scharf, das Bild hingegen, das sich über Stunden in ein Papier einschreibt, erscheint fast surreal. Unscharf, falschfarben, aber so durch die Zeitdauer genährt, als fülle sich das Bild wie ein Wasserbecken langsam mit Farbflecken, als vollziehe sich die Reinkarnation einer Parallelwelt.
Andrea Good arbeitet seit ein paar Jahren mit diesem Prinzip. Mit einigem Energieaufwand verschiebt sie grosse Container in der Stadtlandschaft oder mitten in den Wald hinein, um darin ihre Papier auszurollen und belichten zu lassen. Ihr 8 Meter 89 cm langes und 2, 7 Meter hohes Bild der Weststrasse, am 25. April 2009 während 95 Minuten aus drei parallel verschobenen Blickwinkeln aufgenommen, markiert den Wechsel dieser Strasse von einer grausamen Strassenschlucht, durch die sich über Jahrzehnte der Verkehr von Zürich West und Nord nach Zürich Süd verschoben hat, in den Beginn einer renovierten Wohn- und Schlenderzone. Das lange Bild der Strasse wirkt so seltsam «fleischlich», als habe Andrea Good vom Strassen- und Fassadenzug direkt einen Bildabguss hergestellt. Noch dient diese Verlebendigung einer absterbenden Zone. Entstanden ist jedoch das Bild einer Realität, die sich so nie mehr zeigen wird. Das, zumindest, ist ein guter Anfang.