Januar 1992  /  Helmut Newton aus dem Photographischen Werk, München 1993

Teilhaben ohne Folgen
Regeln und Spielformen des Newtonschen Voyeurismus'

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Die Szenerie hier vor Augen scheint einen Zeitensprung zu visualisieren: ein hoher und trotz ebensohoher Fenster düster wirkender Schlossaal dient als Bühne. Mit Ornamenten bedruckte Seide, die die Wände tapezieren, schwere Vorhänge, die das Tageslicht nur eingeschränkt und etwas theatralisch hereinlassen, reich verzierte Holzmöbel, das übliche Porträt in Oel und ein Butler aus Holz erwecken den Eindruck von  "Ancien Régime", unterstreichen, wie es scheint, den Gang in Frankreichs grosse Vergangenheit. Im Vordergrund dagegen eine weniger stilvolle, dafür sehr zeitgenössische Aufführung: Ein Mann videot eine Frau. Leicht angespannt steht er, vornübergebeugt, über der Frau, die in vermutlich anstrengender Rückenstützlage vor seiner Kamera sich räkelt. Er ist angezogen, mit dem Schal wohl eher zu warm, sie dagegen ist nackt, mehr noch: vom Lichteinfall ausgebleicht, ausgebrannt nackt. Er filmt, sie zeigt sich und wird gesehen. Es muss gerade diese Komplementarität sein, die aus den beiden Figuren und ihrem Tun ein gleichschenkliges, gleichseitiges Dreieck formt. Ihre Beine scheinen gemeinsam denselben schwarzweissen Stöckelschuhen zu entwachsen. Darüberhinaus wiederholt sich das Strähnige seines streng zurückgekämmten Haaransatzes bei ihren langen wallenden Haaren und den Zotteln des Schals, während das lange Wallen ihrer Haare sich im Fallen seines Schals fortsetzt. Die beiden erwecken den Eindruck, wie siamesische Zwillinge verknüpft zu sein, wenn auch nur für die Momente ihres Tuns, ihres sich ergänzenden Sehens und Zeigens. Ein Bild für die Komplementarität von Voyeurismus und Exhibitionismus.

"Ensayo sobre 'Voyeurisme', Los Angeles 1989" steht im spanischen Katalog als Legende geschrieben.[1] Es handelt sich dabei offenbar um eine Fotografie, die explizit den Voyeurismus zum Thema macht, eine Art praktisch-theoretischer Arbeit zu einem Prinzip, das grundsätzlich betrachtet wohl die Fotografie als Ganzes betrifft, im Werk von Helmut Newton jedoch ausgeprägter als anderswo zum Tragen kommt.

Es ist eine Fotografie von Newton, mit allen Anzeichen seiner Bilder, aber hier will er offenbar sein eigenes Tun reflektieren oder explizieren. Ursprünglich  für das Amerikanische Playboy, für einen Hort des Voyeurismus,  ausgeführt, und das in einer Art und Weise, die völlig offenlässt, ob diese Szenerie dem privaten Vergnügen  oder kommerziellen Zwecken dient, ob sie freiwillig oder unter gewissen Zwängen vonstatten geht. Alles Auslassungen und ungeklärte Verstrickungen, wie sie Newton liebt, Risse, Gegensätze, Funktionsunklarheiten, wie er sie lieben muss, denn sie verhelfen den Bildern zur rätselhaften Präsenz. Nur der zu Beginn erwähnte Riss, der Zeitensprung, hebt sich durch den Untertitel wieder auf: Los Angeles 1989. Voyeuristisches Begehren und exhibitionistische Bereitschaft mögen demnach nicht viel jünger sein als der Samt der Vorhänge. In der Stadt der Bilder wirkt jedes Château, sei es noch so echt, sofort wie Kulisse, wie Staffage. Aufgebaut alleiniglich für die sich ständig erneuernde, einst tertiäre (nach der Idee, nach der Materie), heute primäre Bildwelt zur "Prime Time".

Die im Katalog nachfolgenden beiden Fotografien tragen den gleichen Titel. Die eine wirkt auf den ersten Blick unschuldiger, dafür undurchsichtiger, komplexer.  Wir sehen zwei Räume, durch einen Gang und eine halbgeöffnete Türe blicken wir in eine Umkleidekabine, die wandhoch mit Spiegeln besetzt ist. Zwei Frauen und ihre Spiegelbilder und das Spiegelbild einer dritten Frau sind, nebst Regenmantel an der Garderobe, aufgehängten und verstreuten Kleidern, Strümpfen und Accessoires die Agierenden im Bild. Eine üppig gewachsene, bis auf Strümpfe und Schuhe nackte junge Frau, die ein bisschen überrascht und erschreckt zur Türe, in Richtung der offenbar eindringenden dritten Frau schaut; eine etwas ältere, oppulent, aufreizend angezogene sitzende Dame, die mit einem Monokel, so scheint es, einzig und alleine die junge Frau (ihre Reize?) im Blick hat; und diese dritte Person, die wir Betrachter als Teil eines seltsamen, unscharfen Stillebens im runden Schmink- oder Rasierspiegel wahrnehmen, und die  mit ihren zurückgekämmten dunklen Haaren, dunkler Sonnenbrille und Regenmantel eher androgyn, eher männlich sogar wirkt. Sie erweckt Assoziationen an das Bild eines Detektivs oder eines Spanners. Drei Frauentypen, drei Generationen vielleicht, die unschuldige Junge, die wissende, lehrende, begehrende Dame und die sich im Blick verdeckt haltende, eine (männliche) Rolle spielende Figur: Als ginge es hier um eine Lehrstunde, um das Einüben ins Sehen, Gesehenwerden und Sich-Zeigen. Erziehung in der Garderobe? Der gerahmte Vogue-Auszug an der Wand ist, sinnträchtig, nach den Buchstaben VO geschnitten und darf nun wohl als "in Voyeurisme" zu Ende gelesen werden.

Das dritte Beispiel des reflektierenden Newton ist ein Close-up und deshalb sehr direkt. So nah wie selten, nur eine Armlänge  vom Objektiv entfernt, posiert eine wiederum kräftig erscheinende junge Frau. Sie schaut, mit einem Anflug von Himmeln, über den Kamerastandpunkt hinweg, vermutlich ins Gesicht des durch seinen eingreifende Arm präsenten Mannes. Ihr Kleid ist halb geöffnet, wird von der Männerhand gerade so drappiert, dass die eine Brust ganz freiliegt. Ihre Haltung liegt in der Schwebe. Leicht zurückgelehnt, mit übereinandergeschlagenen, eher sich abschliessenden Beinen wirkt sie zögerlich abwehrend, dagegen laden ihr Blick und ihr Busen - die eine Brust formt das Zentrum des quadratischen Bildes - und der Strumpfansatz zum Schauen ein. Neben einigen sexuellen Verweisen, Andeutungen, Symbolismen, wie der Leuchter, der mit seinen künstlichen Kerzen als (phallischer) Weihnachtsbaum gelesen werden kann,und die vielen wie Geschenke ausgepackten Filmschachteln, die zusammen mit dem  halbgeöffneten Kleid zum Gabentisch für Voyeure mutieren, ist das Bild so konstruiert, dass der Betrachter/die Betrachterin es aus jener Gegend sich anschaut, wo der Unsichtbare seine Kamera und sein Geschlecht haben muss. In keinem anderen bekannten Newton-Bild wird das voyeuristische Sehen so stark mit dem Fotografieren und mit dem männlichen Geschlecht in Beziehung gesetzt. Ihr Blick gilt dem Gesicht des eingreifenden Mannes, unser Blick fällt zuerst auf die zentrale Brust und wandert dann auf- oder abwärts. Schauen wird hier explizit als sexualisiert verstanden: " Le regard est l'erection de l'oeil." (Jean Clair) Die vielen Filmschachteln - TMAX, Kodakcolor, Ektachrome, Fuji-was-immer -, die ganze Palette des farbigen und schwarzweissen, hochauflösenden oder körnigen Aufnahmematerials illustriert die Konstruktion, überlädt sie mit Quantität. Auffallend zudem der  Arm des Mannes, der, mit Uhr am Gelenk, diagonal durchs Bild, an der Brust vorbei auf eine steinerne Frauenbüste zeigt, so als sollte an die Ruhe appelliert werden, bei unserer Hektik, an das Ewige erinnert werden, angesichts der Gegenwart, an das Unvergängliche, Archetypische: "Die Frau", angesichts dieser immateriell, wie ein Fotoprodukt, vielleicht so dünn wie ein Papier wirkenden Beauty.

Die drei Fotografien aus dem "Spätwerk" sind nicht die ersten, die den Voyeurismus zur Sprache bringen, aber die Benennung in der Legende dürfte erstmals so explizit sein. Newton, der mehrfach auf Fragen hin geantwortet hat, er sei ein Voyeur, und wer dies als Fotograf nicht zugebe, sei ein Idiot [2], Newton, der Macher, der das Theoretisieren immer ein wenig belächelt hat, baut sich hier, lustvoll offenbar, seinen eigenen Prüfstand, installiert eine Art theoretisch-thematischen Rückblick. In seinem gesamten Werk tauchten immer wieder autobiographisch gefärbte Fotografien auf. Während einige der  Aufnahmen eher der Kategorie frivoler Selbstdarstellung, denn der Befragung des Selbst zuzuordnen sind, erheben Fotografien wie das berühmte "Autoporträt mit Frau (June) und Modell", im Pariser Studio Vogue 1981 aufgenommen, und "Valentino Place, Los Angeles 1987"  Anspruch als gewichtigere Versuche in Sachen Selbstreflexion. Victor Burgin hat das "Autoporträt" in seinem Aufsatz "Espace pervers"[3] an den Anfang seiner Betrachtungen gestellt und ausführlich die Komplexität des Bildaufbaus, die additiven Wiederholungen, chiastischen Wechsel und Verschränkungen auf der beschreibenden und der mitschwingenden konnotativen Ebene hervorgehoben. 

Helmut Newton entfacht hier ein Feuerwerk von sich ergänzenden und sich in Gegensätzen erhellenden Bildteilen: Newton fest angezogen, "over dressed" mit einem dieser weiter oben erwähnten Regenmäntel, weisse Tennisschuhe, zweilinsige Rollei; das Modell, direkt im Rückenakt und gespiegelt von vorn sichtbar, ist entkleidet, bis auf die schwarzen Stöckelschuhe nackt; neben diesen beiden stehenden Haupt- die zwei sitzenden Nebenfiguren: June, seine Frau, bekleidet, mit leicht angeschnittenen Beinen, und ein verdecktes Modell, von dem wir einzig die nackten Beine und die schwarzen Stöckelschuhe sehen; weiter liegen, hingeworfen, wie meist, eine helle Bluse auf dunklem und eine dunkle auf hellem Grund. Zwei agierende, beschäftigte und zwei eher gelangweilt wartende Figuren. Das stehende Modell betont ihren eh schon gereckten, gestreckten Körper mit unterstreichenden, betonenden Arm- und Handstellungen (Pin-up-Pirouette[4]), im Gegensatz zu June, die ihren Kopf eher träge auf dem Arm und den Arm auf dem Knie abstützt. Newton, der Mann hinter der Kamera, steht unsichtbar dort, wo sich der Betrachter befindet: im Rampenlicht der Szenerie, im Reich des Modell. Er, und wir mit ihm,zeigt sich in seiner Tätigkeit als Fotograf, als Schauender, in der Ambivalenz von Voyeur und Exhibitionist, als "Subjekt in den Fängen seines eigenen Wunsches oder Bilds."[5] Drinnen - im Bild im Bild - alles Spiegelungen und Widerspiegelungen, draussen - June sitzt dort auf dem Regiestuhl - Transparenz, Durchlässigkeit, "Sortie", also Ausgang aus dem Kurzschluss von Zeichen und ihren Spiegelungen. Victor Burgin interpretiert mit Laura Mulvey diese Szene nicht nur als voyeuristisch, sondern als Identifizierung mit dem Objekt der Begierde, als Objektivierung, Fetischierung.[6] Das Modell ist zur erstarrten Figur, zur Alabasterstatue geworden: verfestigte Begierde, veräusserlichter Penis.

"Valentino Place", Los Angeles 1987, ausführlich von Serge Tisseron in Analogie zu Manet als Newtons Olympia diskutiert[7], verdient eine letzte detaillierte Betrachtung: perspektivisch gesehen im Hintergrund, in der Bildfläche im oberen Teil und doch ganz im Zentrum der Aufmerksamkeit liegt eine Frau, ausgestreckt auf der gesteppten Batistdecke eines Hochbettes. Die Position der Frau ist mehrfach ausgezeichnet: wallende Tüllvorhänge umrahmen das erhöhte Bett und helfen mit, das ganze als Bühne zu sehen, entrückt vom Vordergrund (vom Zuschauerraum), getaucht in fast glorienhaftes Scheinen von oben. Die Frau macht den Anschein, eher selten bei Newton, sich zu recken und strecken, sich aufzulösen, sich zu verlieren in der Wollust des eigenen Körpers, der eigenen Begierden. Ihr Unterrock ist hochgerutscht bis zur Höhe des Geschlechts. Im Vordergrund links sitzt Newton selbst, wie ein Theaterbesucher, der sein Starlet (seine Projektion) auf der Bühne betrachtet. Auch ausgestreckt, aber casual und nicht erkennbar erregt.

Die Symmetrie vervollständigt ein Schminktisch zur Rechten mit Pappbecher, Tonband, Bücher, eine Satin-Kleid, dazu ein Bild eines Hundes in Ruhestellung und eine Auflagenskulptur einer dieser hymnischen Frauenfiguren. Die Skulptur schafft eine Analogie zur ausgestreckten Frau, der Hund eine zur Ruhestellung Helmut Newtons. Newton schaut zu, die eine Hand auf der Brust, die andere am Drahtauslöser. Er wirkt kaum bewegt, sie spielt offenbar nur die Aufgelöste: weggeworfene Fehlversuche seinerseits und das auf dem Bett neben ihr liegende Telefon profanisieren, kommerzialisieren die Situation, verwandeln eine mögliche Intimität in Oeffentlichkeit. Die Idealisierung findet nur noch auf dem Schminktisch, als Niederschlag im Kitsch statt.

Fünf Bildbeispiele, die den Mode-, Erotik- und Porträtfotografen, wie die Genrebezeichnungen es aufteilen (obwohl Newton alles wieder vermischt), natürlich überzogen stark als reflektierenden Fotokünstler ausweisen. Fünf Beispiele zum Thema Voyeurismus, die selbst weniger von jener Verführungskraft enthalten, die den Betrachter/die Betrachterin zwangsläufig zum Voyeur werden lassen. Das Objekt der Begierde ist besetzt: Da schon jemand zuschaut, da eine Art Stellvertreter im Bild den Voyeur mimt, sieht der Betrachter ihn und die Szene als geschlossenes Ganzes, sieht dessen Schauen, dessen Begierde und erlebt sich selbst in reflektierender Distanz.

Helmut Newton ist ein Macher und kein Zweifler. Die klassischen "Newtons" setzen voll auf die Kraft des Verführungsspiels, wecken die Schaulust, stimulieren schlummerndes Begehren (beim männlichen Zuschauer sicher, beim weiblichen wohl auch). Es sind wohl Entwicklungen feststellbar, sowohl was die Art des Voyeurismus betrifft - von der bekannten Form des distanzierten, teilhabenden-ohne-teilnehmenden Zusehens bis zum Eingriff, wenn im Zeitalter von Pola und Video die Lust zu Sehen zum Erlebnis des Abends, zum Thema von Subjekten einer Szene wird - wie auch die Art, wie sich die Modelle, wie sich die Frauen dem "verschlingenden" Auge darbieten, wie sich die Verhältnisse von Distanz und Nähe, Wärme-Kühle, Offenheit und Geschlossenheit verschieben. Dennoch bleiben wir vorerst beim pauschalen Begriff des "klassischen Newton".

Diese Fotografien funktionieren auf einer ersten Bezugsebene einfach und direkt, fast "funktional". Während die beschriebenen Denkfotografien sich mehrheitlich als Bildfeld aufbauen, in dem viele Details sich zu einem vielschichtigen Gewebe von Bezügen verdichten, sind die "eigentlichen" Newtons nicht als Feld, als Fläche, sondern als Tiefe aufgebaut. Sie haben immer, in der bekannten Form des perspektivischen Sehens als Be-Greifen, als potentielles Besitzergreifen, ein Motiv im Vordergrund, im Zentrum des Bildes: eine Frau, ein Modell (eine Newton-Unterscheidung von Frau und Marchandise), eine Paarsituation, eine Brust, ein Schuh usw. Diese Motive - ob Mensch oder Accessoire, macht keinen wesentlichen Unterschied, weil es nicht um die Dinge oder den Menschen an sich, sondern nur um die Figur der Verführung geht - zeigen sich vor einem Hintergrund, der Wand, dem Interieur eines fast immer reich ausgestattenen Hauses, der Stadt, der Nacht - ja, oft gibt Düsterheit, Dunkelheit den Hintergrund ab. Aus ihr wird das Motiv heraus-, hervorgeblitzt oder angeleuchtet. Sprechtheater vor seiner minimalistischen Zeit, der Film vor seiner neorealistischen Renaissance (der Dritte Mann zum Beispiel oder eben Filme von Erich von Strohheim und Metropolis von Fritz Lang) und die Polizeifotografie eines Weegee bieten vergleichbare Aesthetiken an. In all diesen Bildern dominiert ein starker Schwarzweiss-Kontrast; Bestimmtes, die Spur, die Fährte, die Darsteller werden grell herausgeleuchtet, anderes versinkt hoffnungslos im Dunkeln der Zeit. Das Prinzip des Voyeurismus  braucht diesen Wechsel von hell zu dunkel. Alles hell, alles sehen, stoppt die Motorik des Phantasierens, des Begehrens. Der Voyeur sitzt klassischerweise eher im Dunkeln, im abgedunkelten Zuschauerraum, und hinter der beleuchteten Szene und zwischen den Requisiten ist es wiederum dunkel. Darin entfaltet sich das Fieber des Voyeurs, im Wechsel von Sehen und Imaginieren. Newton inszeniert an den vorgefundenen Schauplätzen (on location) fast ausschliesslich mit der Lichtführung (und dem Standpunkt der "Augen"), in Anpassung an den Grad der Entkleidung des Modells. Er inszeniert Realistik. So wie auf einer Schwarzweissfotografie bei Tageslicht berittene Polizisten zwei Frauen im Gebüsch aufspüren, auf-decken, so spielt seine Fotografie vor, als entdecke sie gerade ein Motiv, als hätte sie jemanden beim geheimen, privaten Tun überrascht (später davon, wieso die Frauen kaum je überrascht sind). Und dieses Aufspüren wirkt immer ein wenig quälerisch, so wie die Augen schmerzen, wenn sie im Dunkeln geblendet werden.

Soweit ist seine Choreographie einfach. Nur, und hier beginnen bereits wieder die Brechungen, wirkt die aufgeblitzte oder ausgeleuchtete Szenerie oft nicht ganz so realistisch, lässt er - zum Beispiel bei den beiden Frauen, die eine die andere auspeitschend[8] - die Künstlichkeit der Inszenierung durchscheinen. Bevor wir jedoch diesen Rissen folgen, muss erst einmal beschrieben werden, was für Motive Newtons Kamera aufspürt: Im Schein hereinbrechenden Tageslichtes, im Glitzern schwerer Lüster, im kargen Kegel einer Strassenlaterne oder im Blitz des Fotografen erkennen wir eine nackte Frau in Stöckelschuhen, eine Frau und ihr Spiegelbild, eine Frau und eine andere Frau, eine Frau und eine als Mann auftretende Frau, eine Frau und ein Mann, eine Frau und ein Hund, eine Frau und eine Puppe, eine Frau und ein Autoteil, eine Frau und Geldscheine, ein nackte Frau in nächtlichen Strassen, eine Frau mit Stöcken, mit Prothesen, mit Ketten, mit einer Pistole, mit einem Gipsverband, in Fesseln....Frauen in allen möglichen, vorstellbaren  Lebenslagen, nur nicht beim Arbeiten, Frauen in allen möglichen Funktionen der männlichen Fantasmen, immer nur Frauen, und eher selten spielt der Mann in der Szene mit, weil er eben die Projektionen blockieren könnte, selten auch, wie im erst nachträglich veröffentlichten "Saturday night, Orange County, California 1983"[9]  ganze Gruppen, Gruppenbilder, und abgesehen von wenigen Ausnahmen erscheinen die Frauen stark, bewusst, sind "Herr der Lage", spielen das starke Geschlecht, sind bereit zur Sexualität, bereits selbst verstrickt in eigene Träume, eigene Fantasmen. Durch Newtons Reich führt die Dame, lasziv und kühl, verrucht und elegant.

Walter Seitter hat die auffälligen und-Metonymien, dieses Nebeneinanderstellen von "Sozien", die bei weitem nicht immer der andere Mensch, das andere Geschlecht sind, sondern auch ein Tier oder eine Statue sein können, hervorgehoben.[10] Diese Verdoppelungen, Additionen, manchmal auch antithetischen Bildelemente dienen nicht der Veräusserlichung der Sexualität, ihrer Verdinglichung oder gar ihrer Umwandlung und Aufhebung. Diese verbindenden oder sich bekämpfenden Paare entzünden die Neugierde, wecken die latenten Bilder des Betrachters. Sie wirken wie Stimulantien in der Szenerie, sie verhindern, dass die abgebildete Frau je als Akt im klassischen Sinne des Körperstudiums oder als nackt im biologischen Sinne erscheint. Ein Pelz stellt die Nacktheit der darin gekleideten Frau hervor, nächtliche Strassen lassen die Nacktheit einer Frau als Sichaussetzenwollen verstehen, eine Frau mit geöffneten Beinen und ein sie angreifender Schäferhund betonen die animalische Seite sexueller Leidenschaft (jenseits des in Gesellschaft tolerierten), hingeworfene Kleider oder gar eine Peitsche verschärfen die Vorstellung von Sexualität um den heute wichtiger werdenden Aspekt von Gewalt und Leidenschaft, Strumpf und Straps sind die ästhetische Garde des geheimen Zentrums der Erde. Die Frauen sind nicht im alltäglichen Sinne gekleidet, sondern für die profane Lithurgie oder den Kampf gerüstet.[11]

Eines dieser Objekte, besser: Instrumente, moderner: eine dieser Maschinen verdient eine gesonderte Betrachtung, obwohl sie zum klassischen Inventar erotischer Fotografie zählt: Der Schuh, der Stöckelschuh, Stiletto genannt, der in den Fotografien von Newton so etwas wie das Lebenselixier darstellt. Get dressed! Dann kann's losgehen! Es ist schwierig, eine Frau in Newtons Fotografien zu finden, die nicht in Stöckelschuhen steckt. Von den abgeschnürten Füssen bei den Chinesinnen bis zur Hilflosigkeit von Frauen in Stöckelschuhen ist dieses Thema ausführlichst behandelt worden. Newton muss man zugute halten, dass in seinem Gebrauch von Schuhen neue semantische Aspekte auszumachen sind: Die Frauen wirken wie "plugged in", wie wenn der Stecker in der Dose ist, wie wenn nur so der Strom, die Energie fliessen würde. Es ist offensichtlich, dass die Schuhe in vielen Fällen nicht als Gehmittel gedacht sind, sondern als Instrumente, als Scharfmacher der Fantasie, als Waffe im täglichen sich Behaupten, weniger zu vergleichen mit einer Prothese im Sinne der Unterstützung bei Schwächen, denn mit dem einst die Männer schmückenden Degen oder mit dem Stachel im eigenen Fleisch. Die Frauen wirken in ihnen nie hilflos, vielmehr suggerieren die Bilder, als potenzierten die Schuhe die vorhandene Kraft. Auf der andere Seite hingegen - diese Schuhe haben mehrfach reziproke Bedeutungen - lassen sie die Frauen bisweilen erstarren, verwandeln sie die lebendigste Szene zur Inszenierung, zur Pose und die Frau darin zu Statue, als sei sie in die diese Form gegossen[12]. Walter Seitter und Dominique Baqué[13] betonen in ihren Aufsätzen zurecht dieses Erstarren. Seitter macht dann den Bogen zum Neoklassizismus, zu den Statuenvölkern - Newtons Frauen wirken tatsächlich nie romantisch, nie biedermeierlich, nie Sarah Moon-like, und immer liegt ein Hauch von Gewalt, von latenter Aggression in der Luft [14] -, Baqué braucht die bekannte Unterteilung von Nietzsche, um zu zeigen, dass Newtons Frauen und Szenerien immer appollinisch und nie dionysisch sind, dass sich die Frauen nie verlieren in der Erregung, nie auflösen in ihrer Leidenschaft (nie "informe" werden,wie Bataille diese Grenzüberschreitung genannt hat), dass sie vielmehr und immer die Form, die Schönheit, die Fassung bewahren, dass sie deshalb nicht selbst erotisch sind, sondern nur Zeichen der Erotik darstellen.[15] Newtons Frauen tragen alle ein oder mehrere Accessoires männlicher Fantasmen, aber in der Regel wirken sie tatsächlich in sich geschlossen, bewahren sie Haltung in eigener Form, fordern sie niemanden, auch den Betrachter nicht direkt auf: "Sie schauen gar niemanden an".[16]  Das entrückt die Szenerie, friert sie ein. 

Rekapitulieren und ergänzen wir: Newton gebraucht die Aesthetik des Aufblitzens (selbst wenn er nicht wirklich blitzt), als wäre er ein Society-Fotograf, ein Weegee der Erotik, wie die Paparazzi Fotograf und Detektiv in einem. Zu dieser Instant-Aesthetik passt sehr gut, dass der Blitz das verbotene, geheimnisumwitterte Tummelfeld der Reichen und Schönen aufhellt, dass wir einen kleinen Ausschnitt aus ihrer Kulisse und ihrem Freizeitleben wahrnehmen: im Schein einer 250stel Sekunde tauchen das Objekt der voyeuristischen, das Subjekt der eigenen Begierde auf und dahinter ein Fetzen Ambiente. Newton spielt eine neue Form von Hoffotograf der zeitgemässen Höfe. Das viele Schwarz, in das Licht fällt, unterstreicht das Verbotene, unterstreicht den Crime, den der Fotograf oder die Agierenden begehen - und sei es auch nur jenes "Vergehen", jener Luxus, wirklich Zeit für Sexuelles zu haben -, lässt Platz für projezierte Zwischengedanken. Dem entgegen steht, dass die Angeblitzten nicht erschrecken, dass sie nicht einmal reagieren, sondern weiter tun, was sie tun wollten, weiter den eigenen Gedanken und Fantasmen nachhängen, als gäbe es keine Störung, und dass vielmals das inszenierende Moment so stark ist, dass der verschiedenartige Charakter von Aufnahmetechnik, Choreographie des Bildes, Modell und Hintergrund ein vielschichtiges, manchmal gegensätzliches Ambiente schaffen. Damit entgeht Newton meist der Falle des "Imaginär-Realen" und realisiert "Symbolisches".[17]  Newton bricht so die eigene Vortäuschung von Realität und erzeugt dafür eine ambivalent-schillerende Bilderwelt. Er zeigt nicht nur die "Frau und", sondern auch die "Frau als": die Frau als um die Sexualität wissende Person, die Frau als das starke Geschlecht, das den Mann gar nicht mehr braucht, das Kraft und Sensualität vereint ("Big Nudes" und "World without men"), die Sexualität als Machtspiel, schafft also Bildmetaphern, die über den einfachen voyeuristischen und pornographischen Zugriff hinausschwingen, die es erlauben, die Fotografie mehrfach zu betrachten, sie gar, bei Bedarf, länger zu studieren. Es ist auch jene Gebrochenheit, die den Vergleich mit der "Suspense" bei Hitchcock erlaubt. Ein Tatort unter Spannung. Ein stilisiertes Theater mit der Realistik eines Tatortes, das den Betrachter/die Betrachterin trotz der leisen Gewalt unbedroht lässt, ihn/sie lediglich mit den eigenen Moralvorstellungen konfrontiert. 

Bis Mitte der achtziger Jahre jedenfalls, seither scheint sich der Newton-Kanon nochmals zu verschieben. In seinen Zeitschriften und in der Publikation "Archives de Nuit" zeigt sich ein härterer Realismus, eine Verschärfung des Zugriffs auf die Welt, auf die Situation, auf den Sex. Sei's weil er neu so fotografiert, sei's weil er andere, bisher unveröffentlichte Bilder aus seinem Archiv zieht, sei's weil er damit Verbindungen, Konnotationen von Sex und Macht, von Sex und Geld, Sex und Religion, von privat und öffentlich über eine Reihe von Bildern hinweg herstellt (in "Pictures from an Exhibition" zum Beispiel), die eine makabere, perversere, grausamere, aber auch lustvollere Welt suggerieren. Die Fotografie "Siegfried" wird zum Bild für animalische Leidenschaft, für Machtkämpfe, der "Blow job" im Bild "In a Penthouse" verengt die Optik von der Phantasie der Erotik zum pornographischen Blick. Daneben erhält aber auch eine ungekünstelte, entspannte, unvoreingenommene Sexualität ihr Bild, wie es die unterkühlte Erotik der späten siebziger Jahre noch nicht zugestehen durfte. Die Serie mit Fräulein Petra, die trotz dem "Fräulein" und dem Schuhwechsel von Szene zu Szene "informe", aufgelöst wirkt, auch die "Smoking Nude", vor allem aber "3 p.m. in Bel Air", ohne skulpturales Schuhwerk und entspannt, suggerieren ein freies Ausleben von Körpergefühlen, von Sexualität, wie es sich Helmut Newton und seine Form von Öffentlichkeit vorher nicht erlauben durften, ein schliesslich auch von den Inszenierungen, von Lithurgien befreites sich Verlieren.     

Der Voyeur ist ursprünglich Teilhaber ohne direkte Folgen. Der Voyeurismus ist in jener Mischung zwischen Traum und Wirklichkeit, die visuelle Realisierungen von Träumen, Fantasmen, Begierden schafft - die realistischer als Träume und weniger schmerzhaft, weniger problematisch und verletzend als die Wirklichkeit sind -, Grundprinzip einer Gesellschaft, in der die Dominanz auf das Visuelle, auf das Sichtbare (auf das Fotografische!) alle anderen Sinne und ihre Gegenstände, zum Beispiel die tastbare Materie, ablöst und uns alle zu Zuschauern im Dunkeln macht. Da aber nun das Sichtbare, das mit grellem Licht angestrahlte, erhellte Geschehen, alle anderen Eindrücke, auch was eigentlich riecht, stinkt oder zu ertasten ist, ersetzen muss, ist sie gezwungen, immer weiter, bis zur Schmerzgrenze des Auges und Geistes aufzurüsten. Welche Voyeurismen wird Newton, der die Kraft und die Phantasie gehabt hat, mitzuhalten - immer wieder an der Grenze des öffentlich Möglichen -, der mit seinen eigenen sechzig Jahren sogar das Klima massgeblich geprägt hat, den schmerzhafteren neunziger Jahren entgegenhalten?


 
[1]Helmut Newton; Nuevas Imagenes, S. 82, Katalog der gleichnamigen Ausstellung in der Sala de Exposiciones de la Fundacion Caja de Pensiones, Madrid 1989
[2] Zit, nach Victor Burgin, Espace perverse, S.64, in: Art Press, Spécial, La Photographie - L'intime et le public, o.J. (1990) 
[3] Burgin, a.a.O., S. 62ff.
[4] Burgin, a.a.O., S.64
[5] Jean Baudrillard, Cool Memories, 1980-1985, München 1989, S.9: "Nicht die Figur der Verführung ist mysteriös, sondern die des Subjekts in den Fängen seines eigenen Wunsches oder Bilds."
[6] Laura Mulvey: "...Cette seconde possibilité, la scopophilie fétichiste, construit la beauté physique de l'objet transformant celui-ci en quelque chose de satisfaisant en soi." zit. nach Burgin, a.a.O., S.66
[7] Serge Tisseron, Le mystère de la chambre invisible - A propos d'Helmut Newton, in : La Recherche Photographique, L'Erotimse, Nr. 5, 1989, S. 83ff.
[8] "Interior", in: Helmut Newton, Sleepless Nights, S. 69
[9] Wiedergegeben in Helmut Newton's Illustrated, Nr. 2, 1987
[10] Walter Seitter, Helmut Newton lesen, in: S.Gohr/J.Gachnang: Bilderstreit, Katalog der Ausstellung des Museums Ludwig, 1989, S. 185ff.
[11] Seitter, a.a.O., S.127
[12] Seitter, a.a.O., S. 126
[13] Dominique Baqué, A corps perdu, S. 73ff, in: La Recherche Photographique, Nr.5, 1989
[14] Klaus Honnef: "Ich bin ein guter Beobachter von Leuten" - Helmut Newton und seine Welt, in: Helmut Newton, Porträts, München 1987, S.9
[15] Baqué, a.a.O., S.75
[16] Tisseron, a.a.O., S.88
[17] Seitter, a.a.O., S. 126. Seitter sieht zum Beispiel eine Reihe von Verweisen und Motiven des Nibelungenliedes in Newtons Fotografien.