2012  /  Parkett, Vol. 91

Tektonische Verschiebungen brauchen Zeit

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Photos: Christian Schwager, Fotomuseum Winterthur 2012

Photos: Christian Schwager, Fotomuseum Winterthur 2012

Photos: Christian Schwager, Fotomuseum Winterthur 2012

“If you see her, say ‘hello’ / She might be in Tangier”, singt Bob Dylan auf der LP “Blood on the Tracks”, “She left here last early spring / Is living there I hear.” Und ein paar Riffs später fügt er bei: “We had a falling-out / Like lovers often will / And to think of how she left that night / It still brings me a chill.” Die Stadt Tanger war schon lange ein Sehnsuchtsort von Nord­­europäern und Amerikanern, auffallend aber seit den 1950er Jahren, seit Paul Bowles, Jane Bowles, Tennessee Williams, Jack Kerouac, Truman Capote, William S. Burroughs und später eben auch Bob Dylan in seinem Song sie zum melancholischen Fluchtpunkt erklärten. Tanger ist Heimat und Forschungsort von Yto Barrada, der marokkanisch-französischen Künstlerin, die 1971 in Paris geboren und in beiden Ländern aufgewachsen ist. Doch nicht „dieses Tanger“, weder der Projektionsort der intellektuellen Existenz-“Süchtler“ noch die Orientfan­tasien der 10 Millionen Touristen, die jährlich Marokko besuchen, ist ihr Erkennt­nis­interesse, „ihr“ Tanger ist es vielmehr, das Tanger der Neunziger- und Nuller-Jahre, das aktuelle Tanger ist es, das sie umtreibt, das in jeder Arbeit, jedem Video, jeder Fotografie, Skulptur oder Installation auf eine neue, besondere Weise berührt und thematisiert wird. „Tanger“ ist das Untersuchungsfeld, der Fokus, der Gefühlsort für Yto Barrada, wie man es selten so konzentriert bei FotografInnen und KünstlerInnen sieht. David Goldblatt mit seinen seit fünfzig Jahren fortlaufenden Recherchen in Johannesburg (und in ganz Südafrika) und William Eggle­ston mit dem immer wiederkehrenden Kreisen um Memphis-Tennessee gehören zu den wenigen vergleichbaren Fälle.

Schengen I von 1985, Schengen II von 1990/1995 und Schengen III von 2005 haben die Land­kar­te Europas auf neue Art zementiert, und damit die Realitäten und Rechte innerhalb und ausserhalb gänzlich neu formuliert. So wie mit der Staatsgründung der Schweiz 1848 die inneren Grenzen fielen, dafür die äusseren weit hochgezogen und die angestammten Routen noma­disierender Menschen beschnitten wurden. Die nur 14 km lange Meerenge bei Gibraltar ist seit 1991 zum unüberwindbaren Hindernis, zum Marianagraben zwischen Euro­pa und Afrika geworden. Schnellboote überqueren die Meerenge in 35 Minuten, schiffen Horden von Touristen von Norden nach Süden, während nach Norden reisende Ma­rok­kaner (und allgemein Afrikaner) polizeilich aufgegriffen und möglichst schnell zurück­geschickt werden. Eine touristisch ausgerichtete Einbahnstrasse entstand, wo einst über den Austausch der Kulturen fantasiert wurde. Yto Barradas Werkgruppe A Life full of Holes: The Strait Project (1998/2004) thematisiert diesen Schnitt, diesen chirurgischen Eingriff in reale Handelswege und mentale Fluchtwege. Was als Möglichkeit interessant, aber nicht zwingend war, wandelte sich durch das strikte Verbot, durch die Beschneidung Nordafrikas, zum dringen­den Verlangen. Ihre fotografische Serie erzeugt mit ruhig beobachtenden, zurückhal­ten­den Bildern ein Klima des Wartens, Verharrens, des Kreisens: betonierte Überreste eines einst geplanten Tunnels zwischen Europa und Afrika; das wunderbare, fast monochrome Bild einer Wand voller sichtbarer Abdrücke eines Fussballs, der lange und mit Langeweile vielleicht an die Wand gekickt worden ist; Jugendliche, die durch ein Loch im Drahtgeflecht aufs Fussballfeld schlüpfen; ein junger Mann, der vor einem geschlossenen Landen sitzt und wartet, wartet. Das Gefühl von Einge­sperrt­sein, mit Blicken aus dem Fenster, vom ewig drehenden Riesenrad, über die Hafen­mauer hinaus ins Weite wird unterbrochen von einzelnen Energie- und Aggressionsschüben. Die, die es wagen, den teuren und gefährlichen Weg, diesen Schritt ins „Paradies“ per Kleinboot zu starten, „verbrennen“ alles: Sie lassen alles zurück, verbrennen ihre Papiere, um die Herkunft zu verschleiern, hinterlassen Asche. Der Begriff des „Überquerens“ wird mit der Zeit tatsächlich durch den des „Verbrennens“ verdrängt. Bekannt ist uns lediglich die Zahl der Aufgegriffenen, Dunkelheit herrscht über jene der Ertrunkenen, aber auch über diejenigen, die unerkannt und erfolgreich das andere Ufer er­reich­ten.

In diesen (und weiteren) Fotografien fotografiert Yto Barrada Menschen in der Umgebung, in Situationen so, als habe sie sie selbst kleinchoreographiert, inszeniert, sie angewiesen, eine bestimmte Position einzunehmen: gebückt durch das Loch in der Mauer zu schauen oder sich auf dem Badetuch auf der Wiese sitzend weit nach vorne zu beugen, seitlich nach rückwärts leicht verzogen in einen Käfig zu blicken, gelassen, aber leicht vornübergebeugt auf einem Mauerstück zu sitzen, mit dem Rücken zu uns auf einer Bank oder auf der Wiese im Park zu schlafen. Die Körper sind oft leicht verdreht, aus der Balance gebracht, sie schauen uns nicht an, sie kehren uns den Rücken zu, scheinen zu „fliehen“, sich, zumindest innerlich, zu entfernen, von uns, von sich selbst, der Geschichte und Politik des Landes, und gleichzeitig aufzulaufen auf dem Felsen von Gibraltar. „ ... when you spend your time on the edge, on the jumping-off place of Africa, trying to get on the other side, you're as a conse­quence turning your back on whatever's happening where you are, so you're not invested in what you're doing for your own country”, erläutert Yto Barrada in einem Interview das Wegdrehen der Personen, das sie auf ihren dokumentarisch-sammelnden Bildwegen ein­fängt. Und sie verschärft mit: “Es gibt in diesen Bildern kein Vergnügen. Sie zeigen Gewalt – eine stumpfe, schleichende Gewalt, die sehr viel greifbarer geworden ist, seit die Grenzen geschlossen wurden. Aber warum explodiert diese Gewalt nicht? Sie wirkt trügerisch wie eine vorrevolutionäre Lage, die ständig siedet, ohne überzukochen.“ Die Verrenkungen – aus der eigenen Geschichte, aus der postkolonialen gestockten Zeit, aus der vorgeschriebenen politischen Geographie heraus – entladen sich schliesslich ein erstes Mal im arabischen Frühling, wenn auch vornehmlich in den Nach­barländern.

Die Grenze zu Europa steht nicht allein. Tanger entwickelt innere Gräben, vergrössert sich schnell zu einer konformen Immobilienstadt. 5000 Baubewilligungen würden in einem Jahr erteilt, schreibt Yto Barrada. Die Stadt dehnt sich gegen Süden in die Land­schaft hinein. Und innerhalb füllen sich Schritt um Schritt die Brachen auf, wird das Unklare, Ungefähre durch Neubauten, durch neue Streusiedlungen umbesetzt. Ein Immo­bilienkapitalismus gepaart mit neoliberaler Politik macht sich breit, schlägt sich den Weg durch die bestehende Architektur, durch die bisherigen Landbesitzverhältnisse. Gren­zen also auch innerhalb der eignen Stadt, Schichtungen, die sich laufend verschieben. In ihren Foto­grafien zeigt Yto Barrada das Umstechen, Wuchern, Ausufern, das Besitzergreifen des neuen Bauens. Im Video Beau Geste (2009) pflegen und stützen drei Männer mit grosser Sorgfalt eine gebrechli­che Palme. Die von Yto Barrada engagierten Baumaktivisten arbeiten illegal – mit „kleinem Ungehorsam“ – gegen ein Gesetz an, das es Besitzern erlaubt, auf dem eigenen Land zu bauen oder das Land zu verkaufen, sobald keine Frucht mehr darauf wächst, kein Baum mehr steht. Die Baumaktion wird zum „Guerillagärtnern“ (Abdellah Karroum), das von zufällig vorbeigehen­den Beobachtern intensiv diskutiert wird.

Von Ceuta aus, der spanischen Enklave in Marokko, dürfen, so will es ein absurd anmutendes Gesetz, nur so viel Waren nach Marokko einführt werden, wie man persönlich auf sich tra­gen kann. Yto Barrada visualisiert diese Handelsbeschränkung mit einer Fotografie, auf der Berge von braunen leeren Kartons eine steile, staubige Treppe ins Nichts säumen. Alle entle­di­gen sich vor dem Zoll der Verpackungen und vergraben die Waren tief in ihren Kleidern, wie die Frau im Video The Smuggler (2006), die vor unseren Augen Stück für Stück für Stück ihrer vielen Kleiderschichten ablegt, in denen sie die Waren verbirgt.

Yto Barrada verfolgt die Veränderungen ihrer Stadt mit Argusaugen, und setzt ihnen Aktionen, Bilder und Filme entgegen. Doch es sind immer Bilder, die mit auffallender Ruhe, mit Distanz und Zurückhaltung das Geschehen beobachten. Sie sind weder ikonisch, noch kampftauglich. Sie wollen keine Aufklärungswaffen sein, keine wissenssichere, überhebliche Bildwelt, die genau weiss, wie sie sich verhalten, wie sie wirken muss. Okwui Enwezor spricht davon, wie sehr sie sich der „vampiristischen“ Vereinnahmung durch die Medien verwei­gern. Als würde Yto Barrada immer ein wenig zurückweichen, zwei, drei Schritte nach hinten machen, öffnen sich in ihren quadratisch ruhenden, fast statischen Farbbildern Blickfelder – auf eine Landschaft, eine städte­bauliche Konstellation, ein Sein, ein Ruhen –, es zeigen sich Dinge, Häuser, Menschen, damit wir als Betrachter uns mit ihnen beschäftigen, damit wir eintauchen, suchen, erkunden, den­ken. Auffallend entdramatisiert sehen wir hier ein Zeichen, da eine Geste, dort einen Um­stand, real und allegorisch zugleich. Salman Rushdie schreibt in seinem Roman „Mitternachtskinder“ zu Beginn, wie die Hauptfigur Saleem Sin auf magisch wunderbare, aber sehr zerstückelte Weise die „Frau“ durch verschiedene Öffnun­gen eines Tuches wahrnehmen durfte. Fragmentierte Begeg­nungen, die er sich im Kopf zu einem geheimnisvollen Ganzen zusammenzusetzen versuchte. Die Bilder von Yto Barrada scheinen ähnlich zu funktionieren. Sie sind Fragmente einer Sprache der Orientierung, der Lähmung, des Schmerzes, des kleinen Widerstands, einer Sprache der Liebe zu einer Stadt, die Heimat, Politik, Ware, Handel, die Leben bedeutet. Ihre Bilder eiern, lungern herum, als hätten sie alle Zeit der Welt, und spinnen dann wie die Flora in ihren Bildern ein Netz von Andeutungen, von Informationen, das sich allmählich zu einem Geflecht von poli­ti­schen, wirtschaftlichen, aber auch von emotionalen Bedeutungen verdichtet. Wie die Schwertlinien in Iris Tingitana  (2007) und die in unterschiedlichsten Umständen und Zuständen auftau­chen­den Palmen zu einer Art politischem Stimmungs­barometer werden, zu einem Merkmal, an dem sich der Blick und die Emotion messen kann.

Und die Hoffnung? Sie manifestiert sich im hölzernen Wandrelief Tectonic Plate (2010), in dem sich die Kontinente von Hand verschieben, sich einander annähern, berühren lassen, in dem Utopien langsam Realität werden. Doch (politisch-)tektonische Verschiebungen brau­chen be­kannt­lich Zeit.