Januar 2021  /  The MAST Collection. MAST 2022

THE MAST COLLECTION
A Visual Alphabet of Industry, Technology and Work

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Jetzt sind es bald zehn Jahre her, seit die Fondazione MAST mit dem konsequenten Sammeln begonnen hat. Es entsteht langsam, aber stetig eine umfangreiche, wichtige Sammlung von Fotografien (und Videos) zu den Themen „Industrie und Arbeit“ oder, etwas zeitgenössischer, „Industrie, Technologie und Arbeit“. Bis jetzt umfasst sie rund 6000 Fotografien von namentlich bekannten Fotografen, Fotografinnen und Künstler und Künstlerinnen, darunter auch Werke von sehr berühmten Fotografen und Künstlern. Darüber hinaus besitzt sie eine grosse Reihe an Alben mit weiteren 3000 bis 4000 Fotografien, oft aufgenommen von unbekannten Fotografen, zum Beispiel von einem Ingenieur, der mit der Konstruktion eines grossen Staudammes für ein Kraftwerk beauftragt war und dabei das Wachsen des Projektes schrittweise fotografiert und zum Abschluss des Bauprojekts seine eigenen Fotografien in Leder gebunden hat. Manchmal versehen mit dem Namen des Urhebers, oft aber auch ohne.

Im Laufe dieser zehn Jahre haben wir herausgefunden, dass es in der Welt nur ganz wenige Sammlungen gibt, die sich auf das Thema der industriellen Fotografie, eben der Fotografie von Industrie, industriellen Prozessen, Maschinen und den damit verbundenen Arbeitsformen spezialisiert haben. In der ausschliesslichen Konzentration auf das Thema, wie es die Fondazione MAST betreibt, ist uns bisher keine andere Sammlung begegnet. Am besten lässt sich das, vor allem da, wo die eigenen Beziehungen und Kontakte nicht mehr hinreichen, an einer Besonderheit festmachen: Nehmen wir zum Beispiel das Stahlwerk in Middletown, Ohio, das Edward Weston 1922 fotografiert hat. Diese Fotografie, oder eine dieser Fotografien, die er auf dem Industriegelände gemacht hat, werden auf dem Markt zu sehr hohen Preisen gehandelt, während Fotos vom gleichen Motiv aber von anderen, weniger bekannten, weniger berühmten oder gar unbekannten Fotografen und Fotografinnen weit billiger gehandelt werden. Das ist normal und üblich, wird man zu Recht sofort denken, so funktioniert doch der Markt, und das ist gut so! Das stimmt auch – aber nur unter einer Voraussetzung: Es stimmt nur dann, wenn das Interesse vor allem dem Fotografen, dem berühmten Edward Weston, seiner herausragenden Gestaltung und seinem Stellenwert im Markt und in der Fotogeschichte, aber weit weniger dem fotografierten Subjekt, dem Ort, dem Stahlwerk gilt. Würde das Interesse hauptsächlich dem Stahlwerk gelten, der Lokalität, seiner Funktion, seiner Gestaltung, seinem Einfluss auf die Umwelt, dann wären viele vermutlich auch glücklich mit dem spannenden, neuen Blick eines unbekannten Fotografen, seiner Sammlung von Bildern in einem Album zum Beispiel, das viele Aspekte dieses Stahlwerks offenlegt, die bislang nicht bekannt waren. 
Der Markt erzählt uns also mit den erzielten Preisen, wo genau die Interessen der Sammler liegen. Aber er tut es nicht alleine,  auch der Smalltalk, das Pausengespräch bei der Arbeit, die Einladung zum Essen oder die Abendveranstaltung sind Orte, an dem wir unsere Interessen preisgeben. Wir verraten uns oft selbst, auch wenn wir das gar nicht geplant haben. Die Gespräche drehen dann oft ihre Pirouetten auf neuen, zauberhaften, glatten, matten oder glitzernden Oberflächen: dem Lack des neuen Autos, den Keramikplatten im Badezimmer, der Wirkung des neuen Makeups, dem sanften Glitzern des neuen Seidenkleids, der Aussenhaut einer neue Architektur. Die Freude an der Erscheinung, am Augenblick des Neuen, die Lust an der perfekten Hülle ist gross, jedenfalls weit grösser, weit aufregender als an der Produktion dieser Gegenstände, ihre Erforschung und Entwicklung oder die Auswirkungen, die unser Interesse, unser Konsumverhalten haben kann. Es zählen die Oberflächen und nicht die Hintergründe, die Erscheinung ist es, und nicht die Struktur, die Produktion, nicht die Herstellungsbedingung. Entsprechend eben auch genau dieser Print von Edward Weston, Charles Sheeler, Thomas Struth und von Margarete Bourke-White oder Germaine Krull, um fünf berühmte Fotografen zu nennen. Und weniger die visuelle Beschreibung, Analyse, die Erforschung der Bedingungen des Lebens und Produzierens – mittels der Visualisierung durch die Fotografie.
Die Sammlung der Fondazione MAST macht beides zugleich. Sie betreibt einerseits – mittels Fotografie und Video – Grundlagenforschung, Ursachenforschungen, visuelle Geschichtsschreibung, folgt den Produktionsabläufen, aber auch den Resultaten, Bedingungen und Folgen in der Industrie, der Technologie und der Arbeitswelt, andererseits ist sie aber ebenfalls eine Sammlung von Fotografien, die sich jederzeit bemüht, möglichst überzeugende, starke, eindrückliche, auch seltene, rare Bilder dieser wenig beachteten Welt zu vereinen. Sie ist also eine Sammlung von kostbarer Fotografie und ebenso ein Archiv von visuellen Zeugnissen der Industriewelt, der Geschichte und der Gegenwart der Industrie, und, wo mit dem Medium Fotografie überhaupt möglich, der Zukunft. Notabene einer Welt, der Arbeitswelt, der Produktionswelt, die sicher einen Drittel der gesamten lebensweltlichen Jahre und der welträumlichen Ausdehnung der Menschen umfasst, wenn nicht mehr.
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Fotografie hat den Ruf, universal zu sein, eine universale Sprache zu sprechen. Leider kann sie diesem Ruf meist nicht wirklich gerecht werden. Fotografie hat – ganz im Gegensatz zur Sprache – keine klare Struktur, keine Grammatik und Syntax, die es vielen Menschen erlauben würde, in einer Fotografie das Gleiche wie der Nachbar und wie alle Nachbarn der Welt zu sehen. Einen Grossteil dessen, was wir in einer Fotografie zu erkennen glauben, projizieren wir in sie hinein. Nun, was bedeutet das für eine Sammlung mit Industriefotografien? Es bedeutet schlicht, dass wir uns beim Betrachten eine Reihe von Fragen stellen müssen, und zwar immer wieder. Kurze, knappe und lange, auch komplizierte Fragen, die in zwei Richtungen gehen, in die Richtung der Aufnahme, des Fotografen und in diejenige des Betrachters, des Sehens, Lesens und Verstehens einer Aufnahme. 
Also, zum Beispiel so: Wer hat wo, wann, was, wie und zu welchem Zweck fotografiert? Wer ist der Auftraggeber der Fotografie, was ist der Verwendungszweck, welcher Fotograf/ welche Fotografin hat aus welchen Gründen den Auftrag zu fotografieren erhalten. Und Fragen wie: Wer spricht hier? Und wer schweigt? Was wird gezeigt und was wird absichtlich oder unabsichtlich versteckt? Wir alle kennen nun das Framen einer Fotografie aus eigener Erfahrung, spätestens, seit wir alle mit unseren Handys zu FotografInnen mutiert sind: Was noch in den Rahmen kommt und was rausfliegt, ist matchentscheidend, ebenso der Ort, an dem wir stehen, oder einen Schritt daneben. Geografische Lokalisierung paart sich dabei mit monetären, sozialen und persönlichen Bedingungen zum Grosskontext der Aufnahme und bestimmt so ihren Gehalt mit.
In Richtung der BetrachterInnen der Aufnahme aber, also von uns, müssen wir zusätzliche Fragen stellen: Was war damals mit der Aufnahme gemeint? Was ist unabsichtlich reingerutscht? Was sehen wir heute und was sehen, verstehen wir nicht? Was sehen wir deutlich anders als die BetrachterInnen zum Zeitpunkt der Aufnahme? Handelt es sich hier um ein Dokumentarfoto aus einer narrativen Bildreihe oder um ein konzeptuell angelegtes Kunstwerk. Alle diese und weitere Fragen erzeugen zusammen ein Netzwerk, einen Kontext, innerhalb dessen die Fotografie allmählich Bedeutung annimmt, allmählich gelesen und hoffentlich richtig verstanden werden kann. Wir können übrigens, teilweise zumindest, auch mehr verstehen als damals, weil wir gleichsam durch die Zeitspanne, die vergangen ist, hinter die Kulissen schauen können, und eine vermeintliche Absicht, eine Konstruktion, die nur blenden, nur vorgeben will, nun sofort erkennen. Eine Fotografie, im Auftrage einer Firma erstellt, wird eine Fabrikhalle immer weit sauberer und heller wiedergeben als eine Fotografie der gleichen Halle, aber aufgenommen von einem kritischen Dokumentarfotografen, der sich Zugang verschafft hat, um die prekären Arbeitsbedingungen zu fotografieren. Das ist Fakt.
Diese so wichtige, zentrale Kontextualisierung benötigt, nebst der normalen konservatorischen Betreuung, enorm viel Zeit. Zeit, die aber in der Zukunft aufgebracht werden wird, will man eine „sprechende“ und nicht eine „schweigende“ Sammlung aufbauen. Sammlungen beginnen erst dann zu reden, so hat es der Fotokünstler und Fototheoretiker Allan Sekula treffend formuliert, wenn wir eine oder mehrere Fragen an die Sammlung, das Archiv stellen. Sonst schweigt das Archiv, sonst bleibt es auffallend, schmerzlich stumm. 
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Um die Sammlung für diese Ausstellung beredt zu machen, verwenden wir eine Reihe von Begriffen, Themen, Berufen, von Funktionen und Werten aus der Welt von Industrie und Arbeit, denen wir die rund 480 Fotografien und 10 Videos zuordnen. Genau sind es 53 Begriffe, also quasi 53 Kapitel in der Ausstellung, in die hinein die Fotografien ausgestellt werden. Doch wir reden von weit mehr Begriffen, als wir Kapitel haben – sicher das Doppelte an Begriffen –, um uns allen bei der Vorstellung zu helfen, wie gross das Netzwerk an Begriffen, Funktionen, Bezeichnungen überhaupt sein könnte, um auch nur annährend die Bereiche, Themen, Fragen, Prozesse, Produktionen und Produkte aus den Grossfeldern Industrie, Technologie und Arbeit vorstellen und diskutieren zu können. Wir können eigentlich gar nicht anders, als die Tragweite und Bedeutung dieser Welt in einer Ausstellung zu „unterschätzen“.
Die Begriffe sind alphabetisch geordnet, reichen also von „Abandoned“ bis zu „Waste“, „Water“, „Wealth“ and „Worker“. Begriffe mit Z sind im Englischen selten. Einzelne Folgen lesen sich so: „Appropriation, Architecture, Artificial Intelligence, Blast Furnace”, “Bridges, Canteen, Capitalism, Car, Casting”, “Craft, Dam, Development, Digital“, „Female Worker, Financial Business, Food Industry, Forge, Form”, “High Voltage, Ideology, Industrial Exhibition, Industrial Landscape”, “Leisure, Lunch Break, Machine, Manifestation” oder ”Robot, Scaffolding, Science, Security & Health, Service Industry”. Fett eingeschwärzt sind die Themen, die in der Ausstellung behandelt werden, in Normalschrift jene Themen, die mitgedacht, die mitbehandelt werden könnten. Die Verbindungen, Schnittstellen, die sich durch das visuelle Alphabet ergeben, sind manchmal treffend, oft unverhofft, immer aber erfrischend, und regen, so die Idee dieses Narratives, zum ergebnisoffenen Nachdenken, zu einer Art kreuzweisem Denken an.  So prallen zum Beispiel düstere schwerindustrielle Landschaften auf „helle“ hochtechnologische Apparate, schweisstreibende Handarbeit, handwerkliche Geschicklichkeit auf digitale Welten, auf automatisierte Datenverarbeitung oder Manifestationen auf den Markt und Markt-Crash, auf Migration und Office Work. Wir erleben also gleichsam, wie eine Verschlagwortung der ausgestellten Sammlung zu einem Aufeinanderprallen von Teilbereichen  und damit in den Augen von uns BetrachterInnen zu neuen Ideen und Erkenntnissen führen können. 
Das gleiche geschieht mit den Fotografien und den Fotografen. Die 53 Kapitel fühlen sich wie 53 Kleindörfer an, in denen Alte und Junge, Reiche und Arme, Fitte und Kranke zusammen wohnen, oder wie Fabrikareale oder Fabrikstädte, in denen sich leicht 250 und mehr Berufe in allen Altersgruppen vereint finden. Hier treffen sich unterschiedliche Haltungen, unterschiedliche Wahrnehmungen und Gestaltungen. Dokumentarische Fotografie trifft auf inszenierte, konzeptualisierte Kunst, alte Papiere und Verfahren wie Albumenprints auf neuste Digitaldrucke oder Inkjetprints, kohlig-schwarze auf knalligfarbige Abzüge. Zeitlich abgetrennt haben wir lediglich das 19. Jahrhundert, also die Frühzeit der Industrialisierung und der Geschichte der Fotografie. Inhaltlich immer wieder unterbrochen durch Porträts von Arbeitenden, Leitenden, von Arbeitslosen, Arbeitsuchenden und Migranten.
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Die Parallelität von Industrie und Fotografie und Moderne ist frappant. Die Fotografie ist ein zentrales Kind der Industrialisierung und zugleich ist sie ihr stärkster visueller Rapport, Erinnerung und Kommentar in einem. Beide dienen der Moderne, der Aufklärung und der Machbarkeit, also der Vorstellung, der Überzeugung, heute mehr der Illusion einer Beherrschbarkeit der Erde. Fotografie und Industrie beginnen mit viel analogem Aufwand und komplizierter Chemie und enden vorerst als superschlanke und leichte digitale Geräte, die ständig klicken, posten und senden, die überall hin mitgenommen werden, permanent vernetzt sind, die, vereint, die Welt bebildern, bedrucken und beschicken, mit digitalen Leuchtbildern und 3D-Drucken. Von Industrie, Fotografie und Moderne zu Hochtechnologie, Bildgenerierungs­maschine und Post-Post-Moderne, also eine Art von AI-Moderne 4.0. Vom reinen Abbild zu AI-gesteuerten Bilderzeugnissen. Ein langer, intensiver Weg über viele Berge und Hindernisse, mit vielen Erfolgen, aber auch grossen Schändlichkeiten, oft sogenannten Kollateralschäden. Und doch ein äusserst kurzer Weg, ein Komma nur, im Vergleich zu den 300‘000 Jahren der Menschheit. Einiges – Eindringliches, Beeindruckendes, Erhellendes – von diesen verrückten, intensiven, explosiven 200 Jahren ist in dieser Ausstellung – „The MAST Collection – A Visual Alphabet of Industry, Technology and Work“ – in knapp 500 Fotografien und Videos zu sehen.