Januar 2014  /  C-Photo, Ivorypress 2014

Toledo, El Greco und die Fotografie

cphoto.jpg
cphoto2toledo08interior01web.jpg
cphoto2toledo08interior02web.jpg

„Lunch Included“ nennt Philip-Lorca DiCorcia seine acht kleinformatigen Polaroids, die er an einem Tag in Toledo gemacht hat. Einen einzigen Tag hat er in Toledo verbracht, darin einge­schlossen ein langer Lunch, und gleichwohl sind acht verzaubernde und zugleich nachdenklich stimmende Bilder entstanden, die schliesslich zur strengen Form eines Kreuzes angeordnet wurden. Symbolhaft verschränkt, und möglicherweise vom Versuch geleitet, mit doppeltem Querbalken eine imaginäre Verbindung von Ost- und Westkirche anklingen zu lassen. Das oberste Bild ist dunkel, düster fast, und gibt den Kopf von Johannes dem Täufer, auf einem silbernen Tablett präsentiert, wieder, die weiteren Fotografien variieren zwei Ansichten von Toledo, die sich mittels Doppelbelichtungen langsam in einer dichten Wolkendecke auflösen. Epiphanie reversed. Die Erscheinung atmet nach unten aus. Die Predella, üblicherweise dem Altarbild unterlegt, scheint hier wie ein schwerer dunkler Deckel das Kapitel mit Gott, die Verbindung des Irdischen mit dem Himmlischen nach oben abzuschliessen. Philip-Lorca DiCorcia gelingt ein kammermusikalisch feines und kleines (kleinstes) Werk, das auf scharfsinnige Weise auf die Begriffsgrössen „Toledo“ und „El Greco“ Bezug nimmt. Die manchmal rasende, beschleunigende Durchfahrt von der Erde zum Himmel in El Grecos Gemälden, durch wild streunende Wolken hindurch, wird vom Fotografen ohne Aufdringlichkeit, bedächtig fast, auf den Kopf gestellt.

Das ist meine Sichtweise auf das kleinste, feinstofflichste, vielleicht auch hinterlistigste aller Werke im Projekt „Toledo Contemporanea“. Die Anteilnahme ist etwas kurzatmig, denn kaum sind die Werke gefertigt, konstruiert, montiert, steht auch schon der Drucktermin. „Der Text“ raunt es. Eine weisse Fläche, in Spalten unterteilt, bereits gezeichnet mit dem eigenen Namen. Das Briefing dazu ist kurz und bündig. Toledo! El Greco! Fotografie! 2014! 2014, weil auf dieses Jahr der vierhundertste Todestag des griechisch-toledanischen Malers fällt. Mehr als das scheint auch den beteiligten Fotografen im Vorfeld nicht mit auf den Weg gegeben worden zu sein. Ganz sicher jedoch Marcos Lopez nicht. Sein „Do whatever you want” im Begleittext, diese schmerzlich beschriebene offene Wunde der verschriebenen, aufgedrängten grossen Freiheit in Kurzzeit, rast offenbar nicht nur warm und kalt seinen Rücken rauf und runter, sie fährt ihm auch in die Knochen der Alltagskompetenz: Das I-Phone kommt ihm abhanden, Schlafmittel und Stativ bleiben zu Hause liegen, selbst die Bankomatkarte geht im Automatenschlitz vergessen. Im „Schweisse“ seines Angesichts tauchte Lopez in den geschichtsbeladenen Ort ein und versuchte, neben den Tausenden von fotografierenden Touristen sein Bild, seine Sichtweise, seine Poesie, seinen Weg zu finden. Vergeblich, wie er schreibt, mehr noch: eine „apokalyptische“ Erfahrung. Lopez flieht ins Hotelzimmer und baut sich mit Spielsachen „Made in China“ sein eigenes, temporäres Reich zur Geschichte Toledos, „Pretending to be a Templar“. Sein „Selbstporträt in einem Hotelzimmer“ vereint Versatzstück an Versatzstück zu einem absurden Theater: das fein säuberlich aufgehängte T-Shirt mit dem Selbstporträt von El Greco, zwei schwere Ritterrüstungen als strenge anonyme Wachen links und rechts des Betts liegen gemeinsam im Wettstreit mit dem üblichen Inventar eines Vier- oder Fünfsternhotels. In der Badewanne schliesslich ficht der spielerische Fotograf seinen Kampf mit einem Tempelritter „Made in China“. Dann reist er wieder ab.

Toledo! El Greco! 2014! Das ist eine dreifache Herausforderung. Existiert ein gutes Ölgemälde von Saint Tropez? Ist gute Kunst über dieses hübsche ehemalige Fischerdorf möglich? Diese Frage setzte sich bei mir fest, als ich eines Sommers durch das Musée de l’Annonciade, das Museum von Saint Tropez, schlenderte und einzig bei einem Gemälde des Fauvisten Albert Marquet interessiert stehen blieb. Wurden in den vergangenen Jahrzehnten interessante Fotografien, spannende Werke mit Fotografie von Venedig gemacht? Kann man San Marco, Rialto, Castello, Dorsoduro zum Thema der ernsthaften zeitgenössischen Kunst machen oder geht nur Venezia Marghera, dieser industrielle Moloch, der gleich neben dem Welterbe haust und brütet? Brauchen wir heute zwingend den Umweg über wirtschaftliche, gesellschaftliche, ja über systemische Fragen, um nicht nur das Gefühl, die Empfindung, sondern auch den Verstand der Betrachter zu wecken? Ja, es gibt Städte und Dörfer, die sind so schön, dass sie für Kunst, für Malerei kaum geeignet sind. Gilt das auch für Toledo? Diese Stadt der drei Kulturen, wie es touristisch schönmalerisch heisst, der jüdischen, christlichen und muslimischen Kultur, diese Stadt auch, die wie eine Festung in ein Wasserknie gebaut worden war, die Stadt des Schwertes und der spanischen Inquisition, und Toledo von heute, das wie viele zu klein, zu eng gebaute Schönheiten unter dem endlosen, täglich stärker anschwellenden Touristenstrom zu lahmen scheint. Eine Stadt – so viel zur persönlichen Perspektive -, die ich nicht kenne, weil meine eigene spanische Reise, meine spanische Liebe - ungleich der „Spanischen Reise“ von Julius Meier-Graefe, der die neue Begeisterung für Toledo und das Werk El Grecos um 1900 befeuerte – mich einst von Madrid aus ins beschaulich-melancholische Aranjuez, jedoch nicht nach Toledo geführt hat. 

El Greco! Das Wunder aus Toledo. Dieses vergessene, wiederentdeckte, einzelgängerische Malergenie, das die Moderne, das Maler wie Cézanne, Picasso, Beckmann, Kokoschka oder Macke fast schockartig beeinflusst hat, als endlich die Rezeption des dreihundert Jahre früher verstorbenen Griechen einsetzte. Picassos „Les Demoiselles d’Avignon“ von 1907, die Prosti­tuierten in einem Bordell, die sich ihren Kunden präsentieren, werden in ihrer Darstellung noch verwirrlicher, noch beunruhigender, wenn man den malerischen Bezug zu El Greco erkennt. „Die Körper der zwei karyatidenartig stehenden Akte und auch deren Nachbarin zur Rechten schrau­ben sich wie Figuren von El Greco empor“, schrieb ein Rezensent der mächtigen El Greco-Aus­stellung in Düsseldorf vor einem Jahr. Die Kunstgeschichte macht im deutschen Expressionismus starke Einflüsse von El Greco fest. Die eckig-kantige Behandlung der Figuren, die aufgerissenen Himmel und Wolkendecken sind im expressiven Teil der Moderne wiederzufinden.

In diesem gleichen ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts blühte in der Fotografie der Pikto­rialismus, der versuchte, sich vom Vorwurf der mechanischen Schärfe, vom Verlust der Einbil­dungskraft mit fotomalerischen Mitteln zu lösen, indem er sich mit weichzeichnenden, die Unschärfe zelebrierenden Objektiven, Entwicklungstechniken und Papieren dem Symbolismus und Impressionismus in der Malerei annäherte. Der Piktorialismus versuchte sich zu verstellen, um nicht als das wahrgenommen und akzeptiert zu werden, was Fotografie ist: ein damals mechanisch-chemisches Instrument, das mit einäugiger Perspektive die Welt erstaunlich realnah und scharf abbilden konnte. Der Piktorialismus wollte sich abwenden von der vorwärtsdrängen­den industriellen Moderne, die die Gesellschaft im 19. Und 20. Jahrhundert radikal veränderte, und versuchte sich gleichsam in atmenden, gefühligen Bildern ins Refugium der bestehenden geistigen Werte retten. Die Frage darf also ketzerisch in den Raum gestellt werden: Wie kann sich die Fotografie, die sich mit der Malerei immer sehr schwer tat, deren Geschichte von einem Minderwertigkeitskomplex der Malerei gegenüber geprägt ist, erfolgreich mit der unglaublichen Figur El Greco auseinandersetzen, der seiner Zeit so weit voraus war, dass er in der Kunstge­schich­te als Teil der Moderne diskutiert wird? Das ist die zweite grosse, bedrohliche Herausfor­derung für die am Projekt beteiligten Fotografen und Fotografinnen. Verbunden mit der oft beträchtlichen zeitlichen Beschränkung – Hinreisen, Einfühlen, Fotografieren, Abreisen –, die vielen fotografischen Projekten eigen ist.

Shirin Neshat wagt den direkten Vergleich. In der eigenen Form eines Re-enactments lässt sie muslimische Frauen und Männer die gleichen Posen einnehmen, wie die betenden, hinge­bungsvoll schwebenden Figuren in den Gemälden von El Greco. Und sie stellt die fotografischen direkt neben die gemalten Figuren. Die Haltung, der Blick, die gefalteten Hände, der Blick nach oben, das Sich-Strecken hoch hinaus zum christlichen Himmel in den Gemälden El Grecos, oft mit einer Übertreibung der Grösse der Hände, der Dehnung der Körper versehen, werden in den Fotografien nachgestellt, nachgefühlt und wohl mit Eigengefühl genährt wiederaufgeführt. Besonders die beiden Frauenfiguren überzeugen dabei. Mimiken und Gesten des dargestellten tiefen Erlebens, Erfahrens wirken durch den Vergleich erstaunlich universell. 

Flore Aël Surun verzichtet auf den direkten Vergleich. Doch ist sichtbar und spürbar, wie sie mit der Grazie, der Anmut der Figuren spielt, die in den Bildern von El Greco im göttlichen Licht eine Gnade zu erfahren scheinen. Sie stellt ihre Figuren ins Licht, ergiesst Lichtquellen über sie, lässt sie erstrahlen. Auch hier wirken die Frauenfiguren meiner Meinung nach stärker, weil sie weniger direkt, feiner, toniger, ambivalenter, alltäglicher auch agieren dürfen. Die beiden Männerfiguren hingegen stehen im fast scharfen strahlenden Lichtkegel, gebannt, gefangen genommen, ge­zeich­net vom Licht. Die unterschiedliche Behandlung fällt auf, ohne dass sich mögliche Bedeu­tungen auf Anhieb erschliessen. Gender geprägte Ungleichgewichte von aktiv und passiv, von Tat und Sein, können wohl nicht gemeint sein.

Jose Manuel Ballester reproduziert in seinen Bildern die expressive Weise, dnr expressiv-nervösen Duktus, mit dem El Greco seine Himmel, seine Wolken, den Blick durch die Wolken ins Göttliche malte, seine dynamischen, intensiven, heftigen, aufgerissenen Farbflächen. Er extra­hiert Himmel und Wolken, eliminiert allfällige andere figurative Bildanteile und kombiniert sie miteinander zu neuen Fotomalereien, oder aber er verschmilzt sie mit seinen eigenen land­schaftlichen Ansichten von Toledo, amalgamiert so fotografierte und gemalte Welt, Vergangen­heit und Gegenwart. 

Toledo, von weit entfernt betrachtet, Toledo bei Nacht, um Toledo herum: Die Arbeiten von Massimo Vitali, Matthieu Gafsou und Rinko Kawauchi scheinen bewusst oder unbewusst auszuweichen, wollen das Zentrum, das touristische Toledo verlassen, Massimo Vitali mit sichtbaren Wegen vom Kern in die Peripherie, in die Landschaft hinaus und wieder zurück, Matthieu Gafsou mit dem Entscheid, ausschliesslich bei Nacht zu fotografieren, dann, wenn die Stadt zur Ruhe kommt, wenn sie sich entleert und er mit „ihr“ alleine zurechtkommen darf. Rinko Kawauchi mit ihrem besonderen Blick, der die konkrete gebaute Welt als Vorwand, als Visier nimmt, um daran vorbei, darüber hinaus, in die vergessenen Winkel zu blicken, die lichten Momente einzufangen, die ihr wichtig sind. Vitali betont im Spiel von Innen- und Aussensicht, von Teilnahme und gelassener Übersicht den Kontrast, den Wechsel vom Lauten zum Stillen, vom Nahen zum Fernen, vom Trubel zur Ordnung, vom Durcheinander zum Ruhigen, Gewachsenen. Gafsou wiederum schafft mysteriöse Augenblicke. Seine Anlegestelle am Fluss, die auffallend hell aus dem Nachtdunkeln aufscheint und sich so präsentiert, in Pose wirft, als würde Romeo auf Julia, Tristan auf Isolde, Cathy auf Heathcliff, Orpheus auf Euridike, Leonce auf Lena oder Cyrano auf Roxane warten oder umgekehrt, das Bangen und Hoffen, bis das Boot des Geliebten anlegt, strahlt ein Geheimnis aus, dem wir nur das Zitat von Cyrano selbst unterlegen dürfen: “Nachts ist es schön, an das Licht zu glauben.” Doch das Licht, in dem die Anlegestelle aufscheint, ist so kühl, dass die Szene auch an den Taj Mahal erinnert, an die Anlagestelle zur letzten Reise, die der Grossmogul Shah Jahan zum Gedenken an seine grosse Liebe Mumtaz Mahal hat erbauen lassen. Rinko Kawauchi sammelt ihre Bilder unter dem Titel „Land of Light“. Sie fotografiert ausschliess­lich zauberhafte Augenblicke, in denen feine Lichtblitze die Welt verwandeln. Helle, lichte, leichte Augenblicke, poetisches Lichtsprudeln, das das Gemüt des Betrachters erhebt, das uns vergessen lässt, wo wir sind, das uns von einer guten wohlwollenden, unsere Seelen nährenden Welt träu­men lässt. 

David Maisel entfernt sich weiter als Vitali von der Stadt, er erhebt sich über sie, nicht mehr im Ballon, wie die ersten Fotografen der Fotografiegeschichte, wie Nadar zum Beispiel, sondern im aufregenden Helikopter, der über der Stadt dröhnt, während sich Maisel hinausbeugt und die Stadt in ihrer Grundstruktur, die Baustruktur mit ihren wunderbaren, versteckten Patios zu fassen versucht. Der Fremde klopft heute nicht mehr ans Tor, er landet von oben mitten in der Stadt. Toledo abstrakt. Ingeborg Bachmanns Simultanübersetzerin (in der Erzählung „Simultan“) wollte sich dieser Abstraktheit entziehen, wollte auf keinen Fall aus dem Städtchen Maratea heraus und hoch hinauf zur alles überragenden Christusfigur auf dem Hügel gefahren werden, doch ihr Wochenendbegleiter aus Rom fuhr sie wider ihren Willen, trotz heftigem Widerstand hoch.

Die Arbeiten von Dionisio Gonzalez täten richtig weh, wären es nicht nur visuelle Vorschläge. Hier wirkt er, auf bildlicher Ebene, nicht in den Favelas, nicht in Randzonen, sondern er bricht das alte, gewachsene Stadtensemble Toledos in einer Heftigkeit mit neuen Architekturen auf, dass wir um Atem ringen. Er durchsticht die Geschlossenheit eines über Jahrhunderte sich entwickelnden, verfestigenden, möglicherweise auch erstarrenden Stadtbildes, als hätten Raketen von oben und von unten zugleich eingeschlagen, als würden wir auf Tretminen stehen. Die Eingriffe wirken so, als habe man den Alcazar, der im spanischen Bürgerkrieg fast vollständig zerstört worden ist, nicht wieder minutiös aufgebaut, sondern den freiwerdenden Platz dem Neoliberalismus über­las­sen. Das Bild ist so verfestigt, dass mit einem einzigen Eingriff gleich alles auf dem Spiel steht, wie er selbst festhält. Bemerkenswert sind in die beiden langen Panoramen von Gonzalez, weil er uns darin die Stadt sowohl unberührt als verwandelt vorführt. Mittels Hardedge-Eingriffen spiegelt er die Selbstverliebtheit zeitgenössischer Architekturentwürfe an der Aesthetik vergan­ge­ner gebauter Machtansprüche und bricht unsere Erwartung an Einheit und Geschlossenheit. Die Zäsuren in Gonzalez‘ Bilder erinnern an die Heterogenität in El Grecos Himmelsmalereien.

Abelardo Morell kreiert in diesem Projekt selbst Malereien. Er webt fotomalerische Teppiche, in dem er Himmelsblicke und Bodenblicke, Fern- und Nahsicht, Stich und Faden verschmilzt. Mittels eines Periskops lässt er den Blick aus einem Zelt, das er mitten in der Stadt an verschiedenen Orten aufgebaut hat, auf die Sicht des Grundes, auf dem er steht, fallen. Subjekt und Objekt scheinen sich zu einem neuen, malerischen, fast abstrakten Gewebe zu verbinden, das Hier und Dort, das Sein und das Wollen, Architektur, Malerei und Fotografie verschmelzen, wie er es sich selbst wünscht. Toledo wird zum Bildteppich.

Zum Schluss Vik Muniz, der, wie Philip-Lorca DiCorcia zu Beginn, seinen Auftritt mit einem einzi­gen Werk abschliesst. Während DiCorcia sein Werk aus acht Bildern in Kreuzform verwebt, collagiert Vik Muniz aus Tausenden von Bildfragmenten ein einziges Bild, eine wilde, dichte Bildcollage mit der Ansicht von Toledo als Grundstruktur, mit Reissverschlüs­sen, die sich öffnen, um gleichsam das Innere, das Versteckte, das Hinter-der-Oberfläche-Stehende zu zeigen. Muniz benützt als Vorlage „Blick auf Toledo“, ein Bild, das El Greco 1597-1599 gemalt hat. Das Bild ist ihm gleichsam Schablone, vor der sich das Leben in seiner zeitlichen Dimension und in seiner Vielfalt abspielt, verdichtet, überlagert, als sähen wir durch Grecos Visier hindurch bis in die Jetztzeit. Während bei El Greco bei aller Dynamik des Farbauftrags letztlich Ruhe und Klarheit das Bild dominierten, scheint „View on Toledo, after El Greco“ überzuquellen, übervoll zu sein. Bildfetzen über Bildfetzen überlagern sich mit Sprachfragmenten versetzt zu einer dichten, wilden Textur, zu einem zeitgenössischen Lebensteppich, zu einer medialen Folie der Vorstellung „Toledo now!“. Auf nervöse Weise beginnt der Betrachter das Weltbild von heute mit jenem von El Greco zu vergleichen. Aussichtslos und erhellend zugleich. Grecos Gemälde wird auch „Gewit­ter über Toledo“ genannt, Muniz‘ Werk könnte dann entsprechend „Bildgewitter über Toledo“ genannt werden.

Toledo urban, Toledo abstrakt, Toledo light, Toledo now, Toledo tourismo, Toledo mein, Toledo dein: Die Fotografen und Fotografinnen sahen sich mit einem Kosmos an Bedeutungen konfron­tiert, die sich über Jahrhundert in den Gemäuern der Stadt abgelagert haben und schliesslich in der Neuzeit zusätzlich mit Medienbildern überzogen und von Touristenströmen zertrampelt worden sind. Darin die starke, verwirrliche Figur El Greco, die seit seiner Wiederentdeckung, seiner eigentlichen Wiedergeburt in der Kunstgeschichte für alles Mögliche vereinnahmt wird. Legendär ist die Reconquista von Toledo 1085, legendär auch die Inquisition in Toledo im 15. und 16. Jahrhundert, und schliesslich 1936 der heftige Kampf der Republikaner und Falanchisten um Toledo und den Alkazar, der zum grossen symbolischen Medienereignis im Kampf zwischen Kommunisten und Faschisten aufgebauscht wurde. El Greco hat den Grossinquisitor, den Kardinalinquisitor Don Fernando Niño de Guevara, porträtiert, die Repräsentanz blinder kirch­licher Gewalt, wuchtig, das Bild beherrschend, aber ohne den Blickkontakt zu uns Betrachtern gemalt – als könnte der Inquisitor uns nicht in die Augen schauen. Die Fotografen und Fotografinnen in diesem Projekt hingegen haben es meist gemieden, sich auf eines der geschichtsträchtigen Ereignisse einzulassen. Vielleicht zu recht, weil sie mit Fotografie kaum darstellbar und in der Bedeutung zu wuchtig, zu komplex sind, vielleicht auch, weil dafür die Informationen und die Zeit fehlte. Persönlich meine ich jedoch, dass sich die Fotografie wieder weiter und tiefer gehend einlassen muss, dass sie sich von der Manier der grossen, fetten behauptenden Bilder verabschieden sollte, von den massiven, lauten Behauptungen, dass wir durch die Fotografie die Welt verstehen, mehr noch, sie weiterhin im Griff haben. Fotografie bedeutete in ihren bunten Farben, dass sie weiss, wie die Welt läuft, dass sie die Probleme benennt und sie deshalb auch schon halb gelöst hat. Doch glauben wir das heute immer noch? Glauben wir den bunten Glaubensbekenntnissen weiterhin? Die Euphorie ist einer grossen Skepsis, einem dauernden, manchmal quälenden Zweifel gewichen. Das muss, das wird sich in Zukunft auch in den Bildern spiegeln. Wie im kleinen feinen Werk von Philip-Lorca DiCorica, der hier zwar wie japanische Kalligraphen nur wenig Zeit für die Ausführung benötigte, aber nur, weil er sich ein Leben lang darauf vorbereitet hat. Oder wie im schliesslich grossformatigen, aber ein­dringlichen „Gewitter über Toledo“, das Vik Muniz „nach El Greco“ als zeitgenössische Bela­gerung, ja fast als Schlachtfeld der Verstückelungen inszeniert.