1995  /  Jean-Louis Garnell: Werke 1985-95 (Fotomuseum Winterthur)

Transformation

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Die Häuser wirken, als seien sie skulptural behandelt. Ihre verschlossenen, fast abweisenden Fronten ziehen sich verschachtelt, rhythmisiert der Strasse entlang hoch. Es sind Baukörper, die Garnell wie Kuben aussehen lässt, hingestellt, gruppiert, arrangiert. Das Grau ihres Verputzes unterscheidet sich nur wenig vom Grau des Asphalts. Es ist etwas heller, leitet über zum noch leichteren, graublau bewölkten Himmel. Dieses Monochrom unterbrechen schwach die ausgebleichten Tore und das dunkle Grün des Baums. Die Atmosphäre dieser ersten Fotografie im Katalog erinnert an die Stilleben von Morandi. Fast schattenlos sind es die Dichte der Farbflächen und die Anordnung dieser Farbkuben, die der Fotografie Kraft und Leben verleihen. Was aber bei Morandi leicht und licht und warm ist, ist hier kühl und verschlossen. Diese Strassendorflandschaft wirkt in ihrer Verschlossenheit abwesend, unbewohnt. Sie wirkt wie ein strenges Denkmal, wie die gebaute Erinnerung an eine Zeit vor den heftigen Umstrukturierungen, die auch die französische Landschaft und ihre Dörfer erfasst hat. Das Pendant zu diesem Denkmal ist das Bild einer neu gebauten Siedlung, die derart angeordnet ist, dass sich eine Art von Innenhof bildet, in den unser Blick fällt. Diese Siedlung wirkt ebenfalls abgeschlossen, unbewohnt, aus anderen Gründen aber: Ihre kubische Anordnung und die neuen Fassaden wirken zusammen so, als sei die Siedlung ihr eigenes Modell - künstlich, gesichts- und geschichtslos.

Die beiden Fotografien entstammen der ersten von zwei Serien von Bildern, die Jean Louis Garnell 1985-86 zur "Mission photographique de la DATAR", der fotografischen Erforschung der französischen Landschaft, beigesteuert hat. Die Serie, die auch einige Strassenbilder umfasst - südlicher Urbanismus mit starken Licht-Schatten-Kontrasten, allgemein graphisch-dynamisch ausgeprägt und mit der Besonderheit, dass der Fluchtpunkt jeweils aufgehoben, zumindest versteckt scheint -, markiert einen Wendepunkt in seiner Arbeit. Beruflich von der Informatik herkommend, hat er bis zu diesem Zeitpunkt einige Tausend kleinformatiger Schwarzweissnegative belichtet. Sie gelten ihm heute nur noch als Vorzeit, als Lehre. Mit dem Wechsel zur Farbe und zur grossformatigen Fachkamera geht eine inhaltliche und formale Konzentration einher. Das Plötzliche, das Schnelle, das (beim Vorbeigehen) Erhaschte der Fotografie scheint ihm unwichtig, wenig aussagekräftig zu sein. Seine Fotografien werden zunehmend präziser, strenger, wandeln sich zu Setzungen, zu Konstruktionen mit Gesehenem, werden ein Ins-Bild-Setzen von Gedanken, Ideen und Empfindungen gegenüber der Welt. Viele Fotografien der ersten Serie sind ihm dagegen zu offensichtlich, zu vordergründig. Geblieben ist nun dieses beschriebene Foto, End- und Anfangspunkt in einem, das ein zentrales Thema von Garnell erahnen, kühl-verhalten anklingen lässt: das Thema des Übergangs, der Transformation.

Das nachfolgende Bild im Katalog - es markiert den Beginn seiner zweiten Serie für die DATAR-Mission - formuliert das Thema der Transformation aus. Wir sehen ein Stück Landschaft, einen engen konzentrierten Ausschnitt, in dem sich vier Farben, das helle Beige der Steine in der Gegend, das dunkle Grün südlicher Florea, das satte Blau des Mittagshimmels und das Dunkelgrau des gekiesten Teers, die Waage halten. Am linken Bildrand ist der Grund für dieses Patchwork zu sehen, eine neu geteerte Strasse, die sich in Opposition zur gewachsenen, wuchernden Natur in geschwungener Geometrie nach links aus dem Blickfeld zieht. Zentrum des Bildes ist jedoch ein nur wenig geformtes Gemisch aus Sand, Steinen, Kies und Teer, durchsetzt mit ein paar Abfällen und Grasbüscheln.

Erstaunlicherweise nehmen wir das Gesamte als ein Stück Landschaft wahr, obwohl das Natürliche, das, was am ehesten der Vorstellung von "Natur", von Landschaft entspricht, auffallend an den Rand gedrückt ist. Eigentlich verschwindet es fast, eingeklemmt zwischen Himmel und Teer. Das Grau des Teers überdeckt vieles, überzieht und durchschneidet die Landschaft; der helle Einschnitt des Strassengrabens wird zur zivilisatorischen San-Andreas-Spalte. Der Horizont übersteigt den Fluchtpunkt im Bild so deutlich, dass der Himmel kaum mehr eine befreiende Funktion, nicht mehr die Rolle der Verheissung spielen kann. Diese Fotografie ist nicht anklagend, vielmehr ist sie ein Zustandsbericht, verdichtet zum Modell-, zum Denkbild. Ihre innere Anordnung verleitet zum Spekulieren über das Diesseitige als Scharnier, einerseits als Abstraktion, Loslösung von einem Jenseitigen, von der Ursprungsidee, und andererseits als Demonstration des Machbaren, der Besitznahme, der pragmatisch erfolgenden Umwälzungen. Das Bild ist zugleich Dokumentation und Symbol einer Wucherung, einer gewalttätigen, wenig kontrollierten Transformation.

Diese zweite Serie enthält weitere Baustellenfotos, zeigt die Kraft des Eingriffs in die Natur, führt korrespondierende und widerstreitende Zeichen in Natur- und Strassenlandschaft vor, gibt der Stadt das Bild einer ewigen Baustelle, eines Schwebens von Festlegung und Auflösung, lässt das Alphabet der Transformation, das Alphabet der Werkzeuge und der gestalterischen Eingriffe aufspielen. Das Braunrot gebrannter Ziegel steht gegen das knallige Blaugrün einer Bauhütte aus gestrichenem Metall; der rostbraune Metallrost als Träger für Baumaterialien lenkt die Aufmerksamkeit auf die Leitplanken der Strasse und die gerasterten Häuserblocks in der Ferne. Umbruch wird hier gezeigt, ohne dessen euphorische Form als Aufbruch und ohne dessen apokalyptische Variante als endgültiger Zusammenbruch - in den Farben von kühl-bläulich über warme Mischtöne bis zu brillanten Farbkontrasten reichend, in den Formen sich von weichen, informellen Übergängen zu heftigen geometrischen Gegensätzen und chaotischem Durcheinander entwickelnd, schliesslich in der Stimmung von heiter-idyllisch über faszinierend-bunt bis zu missklingend und grotesk wechselnd. Eine Palette unterschiedlicher Färbungen des Themas und der Realität von Transformation, vom In-der-Schwebe-Sein.

Die Beschreibung legt nahe, dass Jean Louis Garnell eine besondere Form von Dokumentarismus beabsichtigt. Er arbeitet einerseits sehr "fotografisch": Er inszeniert, arrangiert nichts, glaubt an die Kraft und die Differenziertheit der gegebenen Realität, die es im fotografischen Bild zu vereinfachen, zu kondensieren gilt. Gleichzeitig ist seine Haltung sehr "malerisch". Wenn sein Ausgangspunkt auch strikt die geschaute Realität ist, so ist sie unter bestimmten Vorzeichen, genährt von einer Idee und mit besonderer Sorgfalt betrachtet, ausgewählt und ist dann mit der Dauer und Konzentration erfordernden und Stabilität gewährenden Fachkamera aufgenommen. Es entsteht ein Bild, mit der Gelassenheit einer offenen Farbfläche, mit der Kraft eines Symbols zugleich ausgestattet. Seine Fotografien weisen gestalterische Merkmale auf, die weniger konkrete, denn allgemeine Bezüge, eine Art Sinnverwandtschaft zur Malerei offenbaren, etwa zu Hard Edge, lyrischer Abstraktion und zu Farbfeldmalereien. Bereits in diesen "Paysages" baut sich eine Spannung auf zwischen der dokumentierten Wirklichkeit und der Autonomie des Bildes.

Die "Désordres" von 1987-88 führen diese Entwicklung konsequent weiter. Zuerst einmal sind es jedoch Fotografien mit einem klar erkennbaren, wenn auch über die ganze Bildfläche verteilten Motiv. Hunderte von Gegenständen in der Küche, im Arbeitszimmer, im Wohnzimmer und in mehrfach definierten und genutzten Räumen türmen oder verstreuen sich zu dem, was einst Interieur genannt worden ist. Waren es in adligen oder patrizischen Zeiten grosse Säle mit einer genau kalkulierten Raumarchitektur und einer Möblierung, die hierarchisch gegliedertes Residieren erlaubte, so waren es in bürgerlichen Zeiten der Salon, das Esszimmer, die Bibliothek, mit denen weniger hierarchische Funktionen, denn die Absicht verbunden wurde, sich in der Welt einzunisten und sich als Person mit ganz bestimmten Zeichen zu manifestieren. Beide Formen der häuslichen Existenz haben strenge Vorschriften und Aufgaben; die Repräsentation war das vordringlichste, sie kam weit vor den praktischen und gefühlsbetonten Seiten des Wohnens. Entsprechend waren die Zimmer und die Gegenstände (und auch deren malerische Darstellungen) als ein Feld voller Zeichen, voller Bedeutungen zu lesen und auch zu verstehen.

Garnells Interieurs zeigen den Endpunkt einer Öffnung, den Augenblick, bevor die Ambiance-Industrie das "Schöne Wohnen" und den Einsatz der Leere als geschmackvolle Alternative zur Völlerei der Zeit begreift: das Wohngemeinschaftszimmer, das Studentenzimmer, das anarchische Hausen - das Dasein nach aller Pragmatisierung, nach der Auflösung jeglicher Hierarchie. Es sind Interieurs, Kleinszenen, "Sittenbilder", wie Jean-François Chevrier halbironisierend bemerkt, in denen sich die Bedeutung verloren hat, was obenaufliegt, ob die Butter auf dem Brot oder umgekehrt. Jeder Kodex, jede angestammte Bedeutung scheint zusammengebrochen, ist bewusst oder unbewusst zusammengeschmolzen zu einer Haltung der Anti-Bedeutung, der Anti-Repräsentation, der Non-Ecriture, dem Offenen, Chaotischen, "Informen". Stabilität bieten einzig der Boden und die Wände der Räume, der Rest ist mobil.

Was hier im Übergang vom Sujet zum Inhalt der Bilder formuliert ist, findet seine Entsprechung in der Bildform. Es sind flächengreifende Fotografien, ohne Zentrum, ohne lesbare Struktur. Farb- und Form-Zufälle, ausgreifend, ungestaltet, unordentlich, bunt. Die formulierte antibürgerliche Form des Hausens findet ihre bildliche Form im etwas chaotischen All-over. Es ist das Ende des Stillebens, das Ende des bürgerlichen Interieurs (auch des atmosphärisch gemalten in der Art von Bonnard oder Vuillard), das hier formuliert ist - und die Sichtbarmachung der Absenz von Ordnung und Hierarchie, des Durcheinanders als anarchisches, offenes, wucherndes, gleichschwebendes Lebensprinzip.

In den Fotografien ohne Personen, den wirklichen Interieurs, löst sich der klassische Aufbau auf, der Horizont verschwindet, das Bild wird zur Fläche, wird selbst zum Horizont. Bei den grossen "Désordres" - mit jeweils einer oder zwei Figuren, weniger Personen, denn Gestalten oder Figurenfragmente - taucht das Bild wieder in die perspektivische Tiefe ab, nur um durch Spiegelungen, durch Bild-im-Bild-Situationen die Darstellung wieder zu brechen. Die "Désordres" sind Orte der ständigen Umschichtung, Neudefinition, der Anhäufung und Auflösung - Bildform, Bildmotiv und Bildthema stützen sich dabei gegenseitig.

Für die dritte Gattung, die Garnell durchspielt - nach der Aussenwelt und der Innenwelt nun 1989 das Porträt -, trifft er ein paar Vorkehrungen. Er geht mit einem Stuhl spät abends nach draussen und setzt die zu porträtierenden Personen unter eine Strassenlaterne. Nacht-Porträts bei vorhandenem (elektrischem Licht) erfordern eine beträchtliche Belichtungszeit von eineinhalb bis zwei Minuten. Garnell betätigt den Auslöser, dann lässt er die Person ihr Porträt formen, ob sie nun stillhält oder sich bewegt, ob sie in den 90 Sekunden weint oder lacht oder beides tut. Kondensation von Zeitdauer auf dem Film, Erdauern statt Fixieren. Die Situationsveränderungen schichten sich übereinander, verschmelzen das Bestimmte, Eigenartige zu einem Porträt der Zeit, des Seins in der Zeit. Garnell, der sich immer gegen das Urplötzliche, das Überfallartige der Fotografie wehrt, findet hier die Gegenform. Das Porträt als Geschichte, als Protokoll seiner eigenen Entstehung.

Auf der Ebene der Figuren wird kräftig an der Vorstellung der Identität gerüttelt: "Die Welt ist weder völlig stabil noch völlig instabil. Das gleiche gilt für das Selbst. Das unreflektierte Leben der Identität verlangt zu wenig; doch die Flexion der Identität ist nichts Geringes. Man sollte sie würdigen. Und wohl denen, die mit dem Anfang anfangen." (Leon Wieseltier) Die Porträts sind Fluidum, keine Festkörper, sind Kontinuum, keine Augenblicke, sind Daseinsprotokolle. Auf der Ebene der Fotografie, der Porträtfotografie, werden das Ausschneiden, Fixieren, Stehlen, Erhaschen, Festlegen - alles Eigenschaften des Porträtierens - aufgelöst. Das Bild dehnt sich, es dehnt Index, Darstellung und Identität, es dehnt die Bedeutung ins Allgemein-Existentielle und zeigt schemenhafte Personen geworfen ins Sein.

Drei klassische fotografische (und einst auch malerische) Gattungen, und Garnell führt uns Auflösungen vor: die Auflösung des Sujets, des Motivs, die Auflösung der Gattung selbst. Er thematisiert die Transformation der fotografischen Praxis und einiger Marksteine in der Welt. Die Ideallandschaft hat ausgespielt, selbst ihre harmlos-idyllischen Varianten sind nurmehr Vorstellung, Sehnsucht. Die Landschaft, unsere Welt, ist von einer umfassenden Veränderung ergriffen, die auch das Leben innerhalb der Mauern mit einbezieht: Die Désordres verleiten dazu, sie als Sinnbild für einen (lebbaren) Nullpunkt zu lesen, für die Auflösung der tradierten (Wohn-)Alphabete und der mit ihnen verbundenen Wertsysteme. Und schliesslich gerät die Vorstellung des gültigen Porträts, abgeleitet von der Vorstellung der gültigen, währenden, gefestigten Identität, ins Zittern, kaum spielt die Zeitdauer, das Vergehen mit.

Garnell hat das Auflösen noch ein Stück weiter getrieben. Seine strenge Serie von sechs Nachtbildern (1989) formuliert das Ende der beschreibenden Abbildung. Nicht das Ende der Bildkraft, im Gegenteil, denn die Nachtbilder erzeugen eine Sogwirkung, wirken im Massstab so real, so 1:1, als ob ein Mensch aufrecht hineinsteigen könnte.

Nach dieser Auflösung ist alles möglich. Garnell ist nicht mehr auf die bekannten Strukturen, zum Beispiel die Serie, und nicht mehr auf bestimmte Sujets angewiesen. In der Spannung zwischen Darstellung von Realität und autonomer Bildform kann er fotografische Bilder entstehen lassen. Einzelne, die alleine bleiben oder sich zu einem Diptychon, einem Triptychon oder später in den "Suiten" zu einer Gruppe von fünf Bildern gesellen. Ein Meer, ein Berg, ein schwedisches Interieur, eine Menschenmenge, das Triptychon "Buch, Disc, Planfilm" (Träger von Sprache, Ton und Bild, von Literatur, Musik und Fotografie): Diese Bilder - wie auch die "Kleinen Stücke", die Farbstiftschachteln, die geteilte Kugel, der Apfel und das Glas - lassen eine dreifache Kraft der hohen Konzentration, der Einfachheit und der Gelassenheit spüren. Ein Grün steht gegen ein Blau, eine offene gegen eine geschlossene Form: ganz einfache Dinge und Formen, mit entspannter Präzision vorgetragen. Und es reicht, zahlenmässig, ein, zwei, drei Bilder herzustellen, es müssen nicht immer gleich zehn, zwanzig sein, wie das Vokabular des Fotografierens es in der Vergangenheit erfordert hat, es reicht die Konzentration auf eine Sache - auf diese Sache, auf jene, auf das.

Die Welt öffnet sich für Jean Louis Garnell, bestimmend wird das Denken, werden Ideen, die sich an dem, was ist, was da vor uns in der Welt ist, entzünden. Ideen, die dann nicht einfach realisiert, mit Bildern illustriert werden, die vielmehr Ausgangspunkt für ein Werk sind, das wiederum das Recht hat, sich selbst zur eigenen Wahrheit zu entwickeln. Dieses Vorgehen macht Garnells Bilder zugleich präsent, offen und einfach.

Ein Beispiel von vier neuen Fotografien, welche die Jahreszeiten, gesehen aus dem Fenster seiner aktuellen Wohnung, festhalten. Ein Konzeptualist der siebziger Jahre hätte die Kamera immer in die exakt gleiche Position gebracht, um mit dem vorgegebenen Raster von Blickwinkel, Optik, Film und Belichtungszeit den Wandel der Jahreszeiten festzuhalten und dabei Bildmaterial zu produzieren, das (halb)wissenschaftlichen Kriterien zu genügen versucht. Garnells Bilder hingegen sind alle leicht verschieden, unterschiedlich cadriert, weil jede Situation, Empfindung, jedes Bild sein eigenes Recht hat, seine eigene Ausarbeitung erfordert, seinen eigenen Klang erzeugen soll.

In den "Suiten", fünf mal fünf Bilder, realisiert 1993-94, sind die Bilder, formal gesprochen, jedes für sich gesetzt, folgen sich in unterschiedlichen Abständen, sind unterschiedlich gross, formen ein Ganzes, bei dem die Leerstellen, die Zwischenräume ebenso wichtig wie die Bilder selbst sind. Jede einzelne "Suite" erzeugt ihren Klang. Musikalische Bildstücke. Ein Satz mit Intervallen, mit Diskontinuitäten, welche die Betrachter in der Wahrnehmung schliessen. Jean Louis Garnell hat damit begonnen, seine engste Umgebung, seine Freundin, seinen Sohn, den Blick aus dem Fenster, ein Interieur, die Schwiegereltern zu fotografieren: seine Welt, nicht die Landschaft aller, nicht mehr die Unordnung anderer, nicht das Gesicht an sich, vielmehr seinen Raum, mit sich selbst als Akteur. Das, was da ist - "ici-même". Zwei Suiten an seinem früheren Wohnort, drei am jetzigen Wohnort realisiert, mit zunehmender Konzentration, enger werdendem Radius: Die letzte Suite zeigt seine Arbeitswelt, ein zerknülltes Papier, wieder aufgefaltet und an die Wand gehängt, den Computer auf dem Tisch, ein Selbstporträt vor der Türe als Hintergrund, zwei Tassen und eine Kanne Tee auf dem Boden, eine Aussicht aus dem Fenster. Die Rahmenbedingungen, die Werkzeuge und die Möglichkeiten der Sinngebung.

Die Bilder haben einzeln einen Wert und formen gemeinsam einen Gesang. Visualisierte Empfindung, des Seins, der Zeit, konkretisiert an Familie, Kind, Arbeit, Innen- und Aussenwelt. Voilà. Das Dasein, jetzt so, dann anders, heiter und gespannt, leicht und konzentriert, langsam und bewegt. Garnell erreicht hier mit Fotografien eine Entsprechung zur Unmittelbarkeit von Musik. Ein Gleichschweben von Darstellung und Klang.

Jean Louis Garnell: Werke 1985-95. Persönliche Werke müsste man der Richtigkeit halber sagen, denn die Aufträge, unter anderen jener für das Ärmelkanalprojekt "Mission photographique Transmanche" und jener für Saarbrücken, sind hier weggelassen, ebenso das Projekt "du musée au musée" in Lyon und die Gruppe mit den 60 Fotografien von Kunstkatalog-Umschlagrück­seiten. Dennoch darf sein Werk gesamthaft als eine Art von undramatischer Praxis, ein von subjektiven Gefühlen distanziertes Tun und Lassen verstanden werden, das versucht, verschiedene Eigenschaften wie spontan, nicht-spontan, entstanden und gemacht, präsent und abwesend, strukturiert und ohne Ordnung, leicht und schwer miteinander zu vermitteln, zu einander in Beziehung zu setzen. Sein Werk sind visuelle Rhythmen, kommunizierende Bildgefässe, sind kleine Synthesen jener Eigenschaften, die unser Dasein allgemein ausmachen. Seine Fotografien werden zum Bild für ein Da-Sein, einfach, untheatralisch, doch alert und in stetigem Wandel begriffen.