2010

… und das Pochen wird lauter

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In den neunziger Jahren war es die Begegnung mit New York, mit dem Leben in Manhattan, die Catherine Gfellers Arbeit beeinflusste und sie allmählich veränderte. Sie betritt die neue Stadt, gleitet durch sie hindurch, versucht sich anzunähern, vorzutasten, will den verschiedenen Fassaden, Gesichtern, Maskeraden auf die Spur kommen, geht der Frage nach, wie sich dieses urbane Zentrum manifestiert, in welchen Farben und Materialien es sich zeigt und einprägt. Gleichzeitig spürt sie der Syntax der Stadt nach, erkundet ihren Takt, ihre Grammatik. Eine Art von Stereoblick leitet sie in ihren damals vor Ort entstehenden fotografischen Kompositionen. Ein struktureller Blick einerseits, der die Tektonik, die Rhythmik der Stadt erfasst, und ein notierender, abtastender Blick andererseits, der ihre Fassaden abfährt, ihre Materialien scannt, die Patina aufnimmt, aufsaugt. Und zwar vielfach: Catherine Gfellers Blick montiert nebeneinander, hintereinander, übereinander, also baue sie die Stadt mit visuellen Bausteinen nach, angrenzend oder überlappend, patchworkartig oder sequentiert zusammengesetzt. Ihre verschiedenen Perspektiven ergeben, zusammengeführt, einen komplexen, manchmal architektonisch konstruierten, manchmal filmisch montierten, manchmal musikalisch rhythmisierten Blick auf die Stadt. Die Haut und das Gestänge, das Gerüst der Stadt gehen in Gfellers „Urban Friezes“ Hand in Hand.

In diesen New Yorker Bildern scheint Catherine Gfeller noch eine zeitgenössische ‚Flaneuse‘ zu sein. Sie begibt sich in die Stadt, streichelt ihre Haut, hört ihren Klängen zu, verfolgt das Gehen und Fahren, spürt die verschiedensten Atmosphären auf. Sie hält sich dabei nicht bei der „Unwirtlichkeit unserer Städte“ auf, wie es Alexander Mitscherlich formuliert hat, sie problematisiert nicht – weder die Bodenpreise noch die Luftverschmutzung oder die Armut der Städte –, vielmehr liebt sie die Stadt, die Massen von Menschen, die Gerüche, den Lärm, den pausenlosen Betrieb, sie berührt sie, schmeckt an ihr, spricht mit ihr. In ihren Notizen spricht sie von den „Fragments intimes de la ville“. Diese Fotografien der neunziger Jahre, diese lebendigen Filmstreifen und Bildblöcke lesen sich wie eine Liebeserklärung an die Stadt, wie eine Lebensbehauptung, die sich trotz allem, trotz Unwirtlichkeiten, die Freude am urbanen Leben, die Poesie des Grossstadtlebens nicht nehmen lassen will.

Die fotografischen Bilder, die in Paris, der Stadt, in der Catherine Gfeller seit 1999 lebt, entstehen, geben das Abtasten, Abgehen, Abfahren, das poetische Sich-Annähern schrittweise preis. Sie wirken weniger statisch-beobachtend als vielmehr bewegt, dynamisch, sie pulsieren mit der Stadt. Catherine Gfeller und wir mit ihr tauchen in den Stadtkörper ein, sind mitten drin, sind Teil des Lebens und Rauschens. Szene nach Szene wechseln sich ab, rauschen an uns vorbei, als sei restlos alles, auch die Architektur, das Statische, Immobile in Bewegung. Catherine Gfeller gibt hier den ruhenden Blickpunkt, den sicheren Standpunkt auf, sie beginnt sich zu bewegen, fotografiert on the move, spielt mit der Vielfalt an Perspektiven dieser Stadt. Bewegungen, Spiegelungen und Mehrfachbelichtungen überlagern sich zu tranceartigen Gebilden. Als sei die Stadt eine Achterbahn, multiplizieren sich die Bewegungen der Stadt und der Fotografin zu kaleidoskopischen Bildern, zu pulsierenden Körpern. Diese Bilder sind „laut“, wir meinen sie zu hören, im Gegensatz zu den noch stillen, manchmal malerischen Fotografien aus New York, und sie wirken transparent, als durchleuchte Catherine Gfeller Raum und Zeit und ordne sie neu als wilden Tanz an.

Catherine Gfellers Arbeit öffnet sich hier Schritt um Schritt, setzt sich zunehmend aus. Sie gibt die anfänglich beobachtende Distanz auf, taucht in die Stadt ein, gibt sich ihr hin, wird Teil der Stadt. Sie gibt die Aussenposition, die Trennung von Subjekt und Objekt, von Betrachtender und Betrachtetem auf. Sie fügt sich ein, wird Agens und nicht mehr nur Reagens. Die pragmatische, wirtschaftliche City wandelt sich in ihren Augen, mit ihren Bewegungen zu einem lebendigen, pulsierenden, existenziellen und erotischen Körper, der sich öffnet und schliesst, der aufnimmt und ausspuckt. Zunehmend setzt sie Videokameras ein und „berichtet“ mit ihnen vom Gang der Dinge, vom Schreiten durch die Welt, von Körpern, die sich begegnen, überlagern, aneinander vorbeischlängeln, aufprallen, vom Verlust der Ordnung. Schliesslich rast sie auf ihrem Scooter durch die Stadt, reiht sich ein, steht quer, konfrontiert sich: „S’infiltrer dans les paysages“ bezeichnet sie es selbst in der Videoarbeit „Brouillages“ (2001).

Dieses Einlassen, sich Gehenlassen, sich Verlieren ist auch sichtbar in den Foto- und Videoarbeiten der letzten Jahre. „Les Déshabilleuses“ von 2002 ist eines der ersten Videos, das die klassische Perspektive umkehrt und die Künstlerin als Protagonistin ins Blickfeld rückt, wie sie sich langsam auszieht, Stück um Stück, Schicht um Schicht, Farbe um Farbe, Geschichte um Geschichte – als häute sie sich unendlich, als lege sie langsam alle durchlaufenen Zeiten, Räume, Ereignisse, Persönlichkeiten, alle möglichen Befindlichkeiten ab. Sie oder viele, jetzt oder immer, für sich, heute, gestern, sich dauernd verwandelnd, in einer Mischung von Schutz und Preisgeben. Die geschlossene Einheit wird – wie das Haus, die Häuserfront, das Häusermeer, die Stadt – aufgebrochen in Raum und Zeit.

„The Waders“ (Les Frayeuses) von 2007, aufgeteilt in sechs installativ angeordnete Videos, verbindet die Protagonistin mit der Welt, das Subjekt mit dem Objekt, im Akt des Gehens, Schreitens, Wandelns – auf dem Grund, der Erde, dem Asphalt, dem Kies, im Sand und Wasser, barfuss oder in Schuhen, mit den Füssen den Boden unserer aufrechten Existenz erforschend. Der Blick rennt mit den Frauen mit, schaut ihren Körpern entlang runter, so strikt auf die Füsse fokussiert, dass der Boden zum Laufband wird, dass das Schreiten mit der Welt eins wird, oft unruhig, forschend, suchend, gehetzt, auch bestimmt, erobernd, begleitet von heftigem Atmen, von Atemlosigkeit bisweilen, von Gedanken, Worten und Geräuschen. Geht es hier um viele Personen oder um eine Person in vielen unterschied­lichen Zuständen, Situationen? Wohnen wir einer Aufspaltung bei, einer Aufsplitterung einer Person zum multiplen Ich? Die Videostill-Abfolge “Versions of Her“ (2006) rollt eine mögliche Person in einer Reihe von Eigenschaften aus, in verschiedene, sich auch widersprechende Aspekte, Bewertungen, Unzulänglichkeiten eines umkreisten, umstellten, beobachteten und sich selbst reflektierenden „Ichs“.

In „Anarchies II“ (2008) formen sich überlagernde, durchdringende Felder von Gegenständen, Kleidern, Möbeln zu einem herausfordernden Chaos, in dem eine Person zu agieren, zu schwimmen, tanzen, liegen, schlafen oder schlicht zu versinken scheint. Offen, ambivalent bleibt, ob die Szenerien als bedrohlich oder als malerisch-festlich wahrzunehmen sind, ob sich die Protagonistin darin als Messie verliert, oder ob sie sich öffnet, sich anarchisch mit den Gegenständen, die sie umgeben, temporär vermählt.

„Friction“ (2001), „Pulses“ (2003) und „Directional Piece“ (2006-2009) tragen diese Unordnung, das gelebte Komposit wieder nach aussen. Alle drei Videos thematisieren unterschiedlich geschnitten, beschleunigt den „Verkehr“ der Stadt, das Leben, die Fahrten, Wege, Kreuzungen. Im „Directional Piece“ in einer Geschwindigkeit und Dichte der sich überlagernden Bilder, dass die Wand, auf der das Video projiziert wird, zu atmen, zu wogen scheint. Pausenlose Ströme von Menschen und Autos, in neun Feldern, und in jedem Feld mehrfach überlagert angeordnet, erzeugen zusammen mit einem lauten, dichten, eindringlichen Geräuschpegel das Bild der Stadt als ewiger Karneval, als sich immer schneller drehendes Karussell. Die Verdichtung der über- und nebeneinander geschichteten Versatzstücke ist so hoch, dass wir eine Psyche vermuten, die nichts mehr ordnen kann, in die Eindrücke ohne Anfang und Ende, ohne Dämpfung eindringen. Stadtchaos oder Kopfchaos oder beides zusammen. Unklar, was hier Subjekt und was Objekt sein könnte, wer agiert, überschäumt und durch die Schichten bricht. Körper lösen sich ineinander auf, verschlingen einander. Die fotografischen Arbeiten, die mit „Chimères“ (2008) betitelt sind, spiegeln dieses Verfliessen, dieses dichte Anverwandeln von Gegenständen, Räumen und Zeitebenen im Innenraum. Sie verschmelzen es zu einem Guss, lassen das eine das andere werden, erzeugen Mischwesen, Chimären.

Catherine Gfeller thematisiert und visualisiert in ihren Arbeiten Seinszustände in unterschiedlichen Ausformungen. Sie spricht nicht von Absichten, Handlungen und Resultaten, nicht von Ereignissen, sie erzählt auch nicht wirklich, selbst wenn eine Frau (die Künstlerin) redend durch die Strassen geht. Vielmehr schneidet sie Teile aus Zuständen, Situationen und überlagert sie, verabsolutiert sie, bis ein vielfach „verleimtes“ Verbundstück entsteht, ein Kondensat, ein Sediment öffentlichen oder privaten Lebens. Es scheint nicht ihr Ziel zu sein, damit die eine grosse Wahrheit zu formulieren, sondern Zwischenstücke zu liefern, Atmosphären, Stimmungen, Geräusche, Gewirr, das Eigen geräusch der Stadt, des Privaten, das Grundrauschen der Existenz. Während alle an die Spitze des Turmes streben, um aufzusteigen, das Ziel zu erreichen, die Welt zu überragen, kümmert sich Catherine Gfeller um die Struktur des Turmes, das Gewirr der Verstrebungen, das Ächzen des Metalls im Wind, das heftige Atmen beim Aufsteigen. Ihr Erkenntnisinteresse gilt den einzelnen Komponenten und ihrer endlosen Schichtung: der Fülle an Blicken, der Kreuzung der Wege, Fahrten, dem Begehen der Erde, dem Versinken in der Welt der Gegenstände. Mit ihrem morphologischen Zugriff visualisiert sie den Stadtkörper und den Menschenkörper, die Stadtpsyche und Einzelmaske, mischt sie urbane und private Zustände, macht sie sichtbar und, als verwende sie ein Stethoskop, hörbar. Wir hören den Herzschlag, das Rauschen der Blutbahnen, das Zittern der Nervenbahnen, das Atmen des Stadtseins, Alleindaheimseins, Einsseins, Verlorenseins … und das Pochen wird lauter.