April 2012  /  Du 825

… und haben Sie die tiefe Schwärzung einmal gerochen …

<p>Oben: Seiten aus <em>Molino Verde</em> von Agustín Jiménez, Mexico City (Ediciones Montmartre, 1932, 64 Seiten, 94 s/w Fotos)<br />Mitte: Umschlag von <em>The Latin American Photobook</em> von Horacio Fernández (Aperture Foundation Inc., 2011)<br />Unten: Seiten aus <em>Para verte mejor, América Latinavon</em> Paolo Gasparini, Mexico City (Siglo XXI Editores, 1972, 180 Seiten, 185 s/w Fotos)</p>

Oben: Seiten aus Molino Verde von Agustín Jiménez, Mexico City (Ediciones Montmartre, 1932, 64 Seiten, 94 s/w Fotos)
Mitte: Umschlag von The Latin American Photobook von Horacio Fernández (Aperture Foundation Inc., 2011)
Unten: Seiten aus Para verte mejor, América Latinavon Paolo Gasparini, Mexico City (Siglo XXI Editores, 1972, 180 Seiten, 185 s/w Fotos)

Das berühmteste Buch der Schweizer Fotogeschichte – die «Fabrik» von Jakob Tuggener – kostete vor fünfzehn Jahren 450 Franken im Antiquariat. Ein stolzer Betrag, dachte ich damals, als ich das vollständige Exemplar, gut erhalten, mit Umschlag, Einlegeblatt und mit seltener persönlicher Widmung des Fotografen an «meinen lieben Stöckli – zum Lobe unserer Todfeindschaft von Deinem Wahlfreund Tuggener.» erworben hatte. Vor ein paar Wochen flatterte das Werbeheft des Antiquariats Ozanne ins Museum, mit Raritäten auf dem aktuellen Markt. Der Händler aus Paris verlangt darin 4‘500 Franken für das gleiche Buch. Zehnmal teurer, und ohne Widmung. «Fabrik» von Tuggener ist nur ein Beispiel unter vielen. Seit zehn Jahren, noch heftiger seit fünf Jahren, ist das Sammeln von Fotobüchern das grosse Thema geworden. Seit Martin Parr und Gerry Badger die beiden Metabände «The Photobook: A History», die umfangreichen Bücher über Fotobücher publiziert haben, ist ein eigentliches Rating gestartet worden. Kaum sind Bücher auf dem Markt, werden sie eingestuft und gehortet, kosten bald schon 500 Euro und mehr. Fotobücher sind der neue Hype.  Sie sind das neue Sammel- und Investitionsgut geworden.

Macht das Sinn? Soll man wirklich die Bücher und nicht gleich die Fotografien selbst sammeln? Ein Buch über Picasso ist ja schön, aber ein Klacks im Vergleich zur Malerei selbst. Ein Grund dafür mögen die steigenden Preise für Fotografie sein. Vom Markt geschätzte Fotografie kostet heute schnell mal 50‘000 bis 500‘000 Franken. Ein zweiter Grund ist Sammlerwut, die sich, einmal losgetreten, irgendein Objekt vornehmen kann. Hauptsache zwei oder drei wollen dasselbe, dann lohnt es sich zu wetten und zu streiten. Doch die eigentliche Ursache ist weit grundsätzlicher. Picassos kaufen wir nicht im Dutzend, Fotografien hingegen schon. Fotografien kommen schon auch einzeln, viel lieber aber zu zweit, zu dritt, in einer kleinen Reihe, einer grösseren Gruppe, einem gestalteten Block. Fotografien können wie Buchstaben sein, die sich zu Sätzen, zu kleinen Erzählungen formieren. Und diese Sprache der Fotografie hat sich bisher nirgends besser ausformuliert als im Buch.

Doch ein Fotobuch ist nicht einfach ein Fotobuch. Es kann zum Beispiel ein gebundener Stapel sein: fast beiläufig bei Christopher Wools «Absent Without Leave» und beängstigend streng und machtvoll im eindrücklichen Buch «Ein-heit» von Michael Schmidt. Es kann aber auch ein luftiges Leporello sein oder ein Band voller schwerer Bildtafeln, denken Sie nur an das «Weltgrundieren» bei Anselm Kiefer. Jürgen Klauke und Pipilotti Rist kreieren das Buch als Performance-Raum. Joachim Schmid, Hanspeter Feldmann, Christian Boltanski und viele ihrer Jünger begreifen das Buch als Sammlung, als gebundenes Archiv. Dann funktioniert es als Sampler von Real-Soziologie, als fein gerahmtes Blickfeld oder komplexes Situationsnetz. Als Tagebuch, Fluss, als Therapie, als Erinnerungs- oder Ahnungsraum, als gescheite diskursive Welterzählung. Beat Streuli verstand seine frühen Bücher als filmische Sequenz, Chris Marker als «ciné-roman». Karl Lagerfeld und Jürgen Teller machen es zum Märchenbuch. Es kann billig gebunden sein wie ein Spiralheft oder als Fetischobjekt in Pelz gekleidet werden, ein «Adult-Comedy-Action-Drama» sein.

Das Buch als Novelle, als Roman, als wissenschaftliche Schrift, als Bildschichtung – als fotografische Literatur, das reine Fotobuch oder das fein ausbalancierte Foto-Sprach-Werk, selbst gemacht oder found footage, aus Zeitungen ausgesäbelt: Das ist das Geheimnis des Fotobuches, sein grosser Reichtum! Und wenn Sie die matte und unendliche tiefe Schwärzung, dieses Nachtschwarze von Fotografien, die im Tiefdruck auf offenem Papier gedruckt worden sind, nicht nur angeschaut, sondern zudem intensiv gerochen und tief in sich aufgesogen haben, dann ahnen Sie, weshalb sich Fotobücher bestens als Fetischobjekte eignen. Sie kriegen etwas für Ihr Geld!

Ein Markt braucht Kataloge, braucht Datenbanken, damit das Wechselgeschäft läuft. Denis Ozanne aus Paris und viele andere Antiquare liefern sie. Heute alle online vernetzt. Der Hype hat aber auch die seriöse Auseinandersetzung geweckt. Zurzeit erscheint ein Fotobuch über Fotobücher nach dem anderen: Die Fotobücher über Paris, die Fotobücher über Köln, die japanischen Fotobücher der siebziger Jahre, die lateinamerikanischen Fotobücher, und auch die Schweizer Fotografie, gesehen durch die Geschichte ihrer Bücher, umfangreich, detailkundig, gescheit. Vergessene Fotogeschichten werden so wieder präsent. Doch all dies geschieht zu einer Zeit, da weltweit eine Buchhandlung nach der anderen schliesst, die Margen für Verlage auf normalen Betriebskanälen wie Schnee im Frühling wegschmelzen. Dennoch: die Liebe zum Fotobuch ist ungebrochen, ist heute grösser denn je. Und auch die Lust am Produzieren hat noch nicht abgenommen. Neue technische Möglichkeiten haben neue Felder eröffnet: die Eigenproduktion von hunderten von kleinen Heftchen, von Zines im kleinen Kreis. Wer nicht dazugehört, weiss nicht einmal, dass etwas erschienen ist. Im Zeitalter der Totalinformation verschlaufen sich spannende Kleinstproduktionen auf windigen Wegen. Sicher ist: Der Hype um diese Hefte folgt auf den Fuss.