Januar 2020  /  Booklet (MAST, Bologna)

Uniform
Von der funktionalen zur symbolischen und von der modischen Arbeitskleidung zur Arbeitskleidung in der Mode

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Photos: Vincenzo Riccardo lo Buglio

Die Fotografien von Stephen Waddell führen uns gleich zu Beginn der Aus­stellung ins Thema ein: Links sehen wir einen „Asphalter“, wie man im Englischen sagt, einen Strassenarbeiter, der kniend im ärmellosen T-Shirt und fester Arbeitshose tief vornübergebeugt beim Verstreichen des heissen Teers fotografiert worden ist. Der Boden dampft, der Arbeiter versucht gleichzeitig mit der Hitze klarzukommen und den Asphalt möglichst gleichmässig zu verteilen. Im Bild daneben sehen wir, weit reiner, eine Flight Attendant, eine Stewardess in leuchtend roter Uniform. Sie steht nicht in einem einfachen Arbeitskleid, sondern in einer stattlichen, ästhetisch geschnittenen Uniform direkt am Fuss der Ein- und Ausstiegstreppe. Der Herr im weissen Anzug wiederum erinnert an Tom Wolfe, den berühmten Journalisten/Schriftsteller und Mitbegründer des New Journalism, dessen Markenzeichen seine weissen Massanzüge waren. Sein Anzug mit wild wehender Krawatte wirkt exzentrisch, frivol, er scheint sich selbst in seinem Auftritt am besten zu mögen. Das letzte Bild, das den Träger eines bläulich-silbern schimmernden Kunststoff-Sack zeigt, spielt mit dem Rot der Stewardess. Es zeigt uns einen Dienstleister, der auf dem Weg ist, einen prallvollen Sack zu einem Kunden oder zu sich nach Hause zu bringen. In seinem Auftritt mischen sich Alltagskleider und Berufskleider, er zeigt eine rote Schürze unter flatterndem Mantel.

Weltweit unterscheidet man bis heute zwischen „Blue Collar Worker“ und „White Collar Worker“, zwei Begriffe, die sich in vielen Sprachen der industrialisierten Welt durchgesetzt haben. In den 1990er Jahren wurde den beiden mit „Pink Collar Worker“ ein dritter Begriff zur Seite gestellt, der sich jedoch weniger durchzusetzen vermochte. Wir unterscheiden hier verschiedene Berufsgattungen und Arbeits­formen über das Arbeitskleid, den oft blauen Arbeitsanzug oder Overall der Handwerker und Fabrikarbeiter und den weissen Kragen als Zeichen für Anzug, weisses Hemd und Krawatte, für den „Verwaltungs-Torso“ also. Die pinke Schürze steht für viele Dienstleister im Gesundheitswesen, die weisse Schürze für Techniker, Ingenieure, aber auch für die Metzger, Bäcker, Köche, für Drucker, Buchbinder und viele andere mehr. Die weisse Schürze dient zudem über Jahrzehnte als Geschlechts- und Sozialdisktinktion. Es sind in vielen Kulturkontexten zuerst und lange immer die Frauen, die eine weisse Schürze tragen. 

„Die Mode, die psychologisch das Alltagsleben, die Gewohnheiten, den ästhetischen Geschmack widerspiegelt“, schreibt Warwara Stepanowa, konstruktivistische Künstlerin und Frau von Alexander Rodtschenko, in einem Aufsatz von 1923, „tritt ihren Platz an eine Kleidung ab, die für die Tätigkeit in verschiedenen Bereichen der Arbeit, für eine bestimmte soziale Handlung konzipiert ist. Dies ist eine Kleidung, deren Wert sich nur im Arbeitsprozess zeigt, und die ausserhalb des realen Lebens keinerlei Selbstzweck als besondere Form eines „Kunstwerks“ besitzt .“ Stepanowa spricht hier von Kleidern, bei denen das Material und seine Ausführung, seine funktionale Ausgestaltung zentral sind, hingegen weit weniger ihr Aussehen, ihre Ästhetik. Gerade bei den „Blue Collar Worker“ sind die Brauchbarkeit und die Haltbarkeit der Kleidung wichtig, und ebenso der Schutz, den das Material vor Schmutz und allenfalls auch vor Verletzungen bietet. Arbeitskleider nehmen im Thema „Kleider“ definitiv einen Sonderstatus ein.

Die Ausstellung führt zu Beginn anhand von Fotografien verschiedener Fotografen unterschiedliche Arbeitskleider vor, unterschiedlich in der Zeit und im Gebrauch. Eine typische Arbeitsjacke im zauberhaften Bild von Graciela Iturbide zum Beispiel, tief vornübergebeugte  Baumwollpflücker mit langen Sammelsäcken bei Ben Shan, ein Reigen von Krankenschwestern mit ihren blauweissen Schürzen im Treppenhaus bei Alfred Eisenstaedt, „Small Trades“, wie Irving Penn sie nennt – mit zwei Fotografien eines Fischhändlers und zwei Metzgern –, von Walker Evans eine Fotografie von zwei Kohlenarbeitern am Hafen von Havanna, die Arbeitskluft von Bauern und Bäuerinnen in Farbfotografien von Albert Tübke, die Frauen und ihre Arbeitskleider in den Montagehallen von Fiat in Turin (in Fotografien von Paolo Agosti) sowie Gruppenfotografien, die das Vereinheitlichende, Einheitsstiften­de von Arbeitskleidern für die Gruppe, das Team demonstrieren.

Vom Mexikaner Manuel Alvarez Bravo wiederum sehen wir ein erstes eindrückliches Bild von archaisch anmutenden Schutzkleidern, dann Schutzhandschuhe bei Toshiba von Hitoshi Tsukiji, Schutzanzüge von Sonja Braas, von Hans Danuser und Doug Menuez. Bei Sonja Braas mit dem wichtigen Zusatz: „An Abundance of Caution”, das ist der Titel der Serie, aus der die Arbeit stammt, “deals with this colonization of our lives by fear and the resulting sense of impending doom, the low-intensity fear that surrounds us, shapes our space of action and forms a backdrop of our experiences and interpretations.” Und bei Hans Danuser mit der Ergänzung, dass die abgebildeten Arbeiten aus dem grossen Projekt „In Vivo“ stammen, in denen Hans Danuser in sieben Kapiteln Arbeitsplätze in Tabu-Zonen der Gesellschaft, der Welt der Wissensproduktion „vorstellt“. 

Im ersten grossen Raum prallen dann in Fotografien von Barbara Davatz die Arbeitskleider einer Kleinfabrik in der Schweiz (die Hälfte der Beschäftigten sind Italiener und Spanier) auf die Uniformen der Lehrlinge beim grössten Lebensmittelhändler „Migros“ in der Schweiz (fotografiert von Marianne Müller), die White Collar-Worker in den Büros, von Florian van Roekel als „Office“ fotografiert, treffen auf die schwarzdunklen Overalls von Minenarbeitern in den Fotos von Song Chao aus China und dann auf die drei geschürzten Frauen von Helga Paris, die sie in einer Kleiderfabrik aufgenommen hat. In all diesen Arbeiten spüren wir deutlich, wie stark nicht nur die Arbeitskleidung, sondern auch die Körperhaltung bei der Arbeit die Geschichte der Arbeitsbe­dingungen miterzählen.

Im Hintergrund des Raumes die zwei grossen Werke von Clegg&Guttmann, der „Letzte Versuch“ von zwei Jugendlichen beim abendlichen Konzert vor Publikum und „A Group Portrait of the Executives of a Worldwide Company”, beide in den 1980er Jahren aufgenommen. Gerade vor dem fast düsteren Hintergrund und der formellen Anordnung der beiden Clegg@Guttmanns wird deutlich, dass der Unterschied zwischen „blue collar“ und „white collar“ in keiner Weise nur der Beschäftigung entspricht, nur der Funktionalität der Arbeit gehorcht, in der Arbeitskleidung drückt sich vielmehr auch ein Standes-, ein Klassenunterschied aus. Die Fotografien von Arbeits­kleidern sind mit einem textilen und zugleich mit einem soziologischen Auge zu lesen und zu verstehen. Schauen wir hier etwas genauer hin:

Clegg & Guttmann betreiben seit langem eine Form der Porträtfotografie, bei der sie nicht die Regeln des Historikers befolgen, der ein Ereignis redlich und ernsthaft erzählt (fotografisch dokumentiert), vielmehr liebäugeln sie mit der Rolle des Hofmalers oder des Redners, der das Dargestellte je nach Absicht überzeichnet oder unter- und hintertreibt. Ausgangspunkt für diese Arbeit war ihr Interesse für jene Porträts, die heute noch die „Jahresberichte der Führungsetagen“ zieren. Porträts, die an das erste Auftreten des aufgeklärten, selbstbewussten, machtbewussten Bürgers in der holländischen Porträtkunst des 17. Jahrhunderts erinnern; Porträts, in denen die Präsenz zugunsten der Repräsentanz, die Natürlichkeit zugunsten eines rollenspezifischen rhetorischen Gehabes aufgeweicht oder aufgegeben ist: Nicht der Mensch zählt, sondern die Position, die Macht, die Rolle, die er innehat.

In unserem Beispiel die Fünfergruppe von „Executives of a Worldwide Company“ (1980): fünf Männer, aufgereiht wie Perlen an einem lose sich übers Papier ziehenden Faden. Licht fällt einzig auf ihre Gesichter, ihre Hände und die blitzenden Dreiecke, geformt aus Revers, weissen Hemden und Krawatten. Der Rest der Figuren und das gesamte Umfeld versinken im altmeisterlichen Dunkel. Einer von ihnen ist unschwer als Chef auszumachen – nicht der im Bild höchstpositionierte, auch nicht der bestgekleidete, sondern der mit seiner Balance aus Bestimmtheit (im Blick) und souveräner Gelassenheit (der übereinandergelegten Hände) beste Spieler seiner Rolle.

Damit folgen wir schrittweise dem Bedeutungswechsel des Arbeitskleides hin zur Uniform. In der italienischen Sprache existieren dafür zwei Wörter, „Uniformi“ und „Divida“. Das eine Wort betont stärker das Vereinigende, das andere das Trennende, das Abgrenzende: Sie zeigen das Ein- und das Ausschliessende als zwei verwandte, verbundene Handlungen. Militärische und zivile Uniformen haben sich immer wechselseitig beeinflusst. Beide können Stolz und Ansehen vermitteln, beide können aber zugleich auch eine Bürde sein. Die beiden Autoren Hackspiel und Haas unterscheiden in ihrem Buch „Civilian Uniforms as Symbolic Communication“ (2017), die beiden Formen von Uniformen so: „Ziviluniformen als Medium symbolischer Kommunikation aufzufassen bedeutet, sie nicht primär über ihre Schutzfunktion – wie bei dem militärischen Uniformen – oder ihre ästhetischen Implikationen zu definieren. Vielmehr werden sie definiert über ihre Funktion, die darin besteht, dass sie auf die Ordnung der sie stiftenden Instanzen ebenso wie auf die Gesellschaft und die Kultur, in die sie eingebettet sind, symbolisch verweisen. (…) Sie signalisieren die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, sei es zu einer staatlichen Behörde, einer ständischen oder einer religiösen Gruppe, einem bürgerlichen Verein oder einem privatwirtschaftlichen Unternehmen. Uniformen können aber auch ausgrenzen, Trennlinien markieren und soziale Konflikte sichtbar machen oder gar intensivieren. Wer ihre Zeichen zu lesen versteht, entnimmt ihnen Informationen über Rang, Stellung, Aufgabenbereich, Kompetenzen und Zuständigkeit des Uniformierten.“

Im zweiten grossen Raum begegnen wir den sieben eindrücklichen Fotografien von „Olivier“, dem jungen Franzosen Oliver Silva, den Rineke Dijkstra kurz, nachdem er als Legionär aufgenommen wurde, porträtierte und dann noch sechsmal im Verlauf seiner 36-monatigen Ausbildung. Die Reihe demonstriert fast schmerzlich sichtbar, wie die Zeit im Militär und das Tragen der Uniform sein Wesen zu verändern, zu verhärten scheint. ”The idea was to follow a soldier, someone who comes in soft and young, then turns tough“, sagt die Künstlerin selbst.

Direkt gegenüber hängt die grosse Serie von Timm Rautert, der die Deutschen in zivilen Uniformen zeigt. Sie wirkt wie ein reicher, vielfältiger visueller Beleg der Feststellung von Hackspiel und Haas, dass Mode sich durch bewusste Gestaltung von Varianz und Mannigfaltigkeit auszeichnet, während die Uniformen auf Beständigkeit und Exaktheit zielen. Links und rechts davon sehen wir eindrückliche Formen von Uniformen bei Sergey Bratkov, bei Roland Fischers Mönch und Nonne und bei Judith Joy Ross: militärische, zivile und kirchliche Arbeits- und Symbolkleidung. Im Korridor daneben spiegeln die neun Fotografien von Herlinde Koelbl die politische Uniform der jungen Angela Merkel wider. Ums Eck noch zwei Uniform-Arbeiten von Timm Rautert: aus den Serien „Guardia di Finanza“ und „Amish & Hutterer“.

„Kleider machen Leute“, heisst es im Deutschen. Und signifikant umgekehrt heisst es im Italienischen: “L’abito non fa il monaco”. Mit der Öffnung zur deutschen Bedeutung hin in „vesti un bastone e ti parrà un signore.“ Das eine Sprichwort spricht von der Kraft der Oberfläche, der Erscheinung, das andere von der Kraft der Tiefe, der Essenz, des Wesens. Kleider machen Leute ist ebenso ein bekanntes Sprichwort als auch der Titel einer Novelle des bekannten Schweizer Schriftstellers Gottfried Keller. In dieser  Geschichte gelingt es dem Schneidergesellen Wenzel Strapinski sich dank edler Kleidung in der Gesellschaft hochzuhangeln.

Im letzten Raum (und auf dem Weg dahin) thematisieren die Arbeiten von Oliver Sieber, Barbara Davatz, Andreas Gelpke, Andri Pohl, Paolo Pellegrin, Herb Ritts und Weronika Gesicke den schrittweisen Wechsel der Arbeitskleider, der Uniformen zum Stil und zur Mode. Bei Sieber wandelt sich die Erscheinung zur persönlichen und Gruppen-Uniform, bei Gelpke kontrastieren Anzug und Kleid als bürgerliche Uniform mit der Nacktheit und dem Körper als antibürgerliche Arbeitskleidung, bei Paolo Pellegrins Aufnahme der Virgin Sun Air und ihres Begründers und Besitzers Richard Branson wandelt sich die Uniform zum Brand der Firma, bei Weronika Gesicke übersteigert sich uniformes Benehmen und Sein zur Karikatur. Die beiden Fotografien von Brad Herndon und Hiroji Kubota thematisieren den Kontrast zwischen Camouflage und stolzer Uniform, zwischen deutlich und symbolisch einprägsam sichtbar und wie extrem unsichtbar sein wollen. In der Geschichte der Mode tragen Frauen männliche Arbeitskleider zuerst als Camouflage, um zu verstecken, dass sie eigentlich Frauen sind, manchmal um wie Männer im Krieg als Soldaten kämpfen zu dürfen. Später jedoch tragen sie männliche Arbeitskleider als Befreiung aus den herkömmlichen strengen Kostümvorschriften und den verordneten Rollenbildern. Das Arbeitskleid, das Cross-dressing wird in der Frauenmode der letzten zwei Jahrzehnte immer wieder zum Bild eines neuen coolen Frauen-Selbstbildes. In der Ausstellung zu sehen in Catwalk-Bildern von Dior, Balmain, Balenciaga, Byblos, Etsy, Moschino, Vêtements, Calvin Klein, Liam Hodges, Hi Vis, Chalyan, Burburry, D&G, Cristina Neves, Louis Vuitton, wie Arbeitskleider in Mode verwandelt werden.

Der Titel "Beauty lies inside", den Barbara Davatz den abschliessenden Portraits gibt, greift einen mehrdeutigen Slogan auf, der eine Zeit lang auf Tragetaschen von H&M gedruckt wurde. Sie lud Verkäufer und Verkäuferinnen des Modehauses in ihr Studio ein, um sie ausserhalb des Arbeitskontextes zu fotografieren. Barbara Davatz geht es dabei nicht um eine Charakterstudio, sondern „um eine Art soziologische und ethnographische Bestandsaufnahme: Wie sehen junge Schweizerinnen und Schweizer im 21. Jahrhundert aus? Was bedeutet Identität in einer globalisierten Welt? (Peter Pfrunder) Alle Mitarbeiter leben und arbeiten in der Schweiz, stammen aber aus den unterschiedlichsten Ländern ab, aus dem Kosovo, aus Serbien, Rio de Janeiro, Indien, natürlich der Schweiz etc. Was sie hier vereint, ist einerseits ihr Zugang zu erschwinglichen H&M-Kleidern, andererseits die globale Vorstellung einer  Arbeitskleidung, die sich betont als Anti-Uniform verkauft, als globale Identität einer jungen Generation.

Das letzte Wort hat die Arbeit von Tobias Kaspar. Für seine Serie „The Japan Collection“ fotografierte er Stickereien aus den Archiven eines Schweizer Textilherstellers. Diese werden seit den 1960er Jahren ausschliesslich für den japanischen Markt hergestellt, der sich damals für westliche Konsumgüter öffnete. Kaspar skaliert die kleinen Stickereien zu fast lebensgroßen Figuren, so dass jeder Stich, jeder Faden und jeder Fehler sichtbar wird. Zugleich entsteht, wie er sagt, ein gebrochenes Spiegelbild der gegenseitigen Projektionen – hier auch figurativ zwischen dem Kellner und der Dame, zwischen seiner Dienst-Uniform und ihre Standesrobe. - Und die gesamte Ausstellung wird von Guards in Uniform bewacht, in den lebensgrossen Videos von Marianne Müller.