2002

Valérie Jouve - Résonances

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Valérie Jouve präsentiert – anders als Joachim Brohm – kein in sich abgeschlossenes Projekt, sondern sie formt hier einen Raum aus ihrer sich immer weiter entwickelnden Arbeit, so gehängt, dass durch die Hängung eine Art von Klang, von visuellem Klangraum entsteht. Bei ihr steht auch das dokumentarische Erkunden nicht im Vordergrund, sondern mehr ein Vor­füh­ren, ein Anspielen, ein Erklingen lassen. Valérie Jouve gehört zur neuen Generation jener KünstlerInnen in Frankreich, die sich aus der Tradition humanistischer, reportierender Fotografie in ihrem Land verabschiedet haben, ohne jedoch die wesentlichen Elemente gleich mit über Bord zu werfen, und auch ohne, wie oft Mitte, Ende der achtziger Jahren, mit einer Art von demonstrativer Aesthetik die Fotografie als Bild zu behaupten. Valérie Jouve foto­grafiert Landschaften, vor allem Stadtlandschaften, hochverdichtete urbane Situationen, und dies eigentlich in dokumentarischer Art und Weise, mit einem bestimmten Ausschneiden, Rahmen des Gesehenen. Gleichzeitig jedoch – und das meint hier oft explizit im gleichen Bild – porträtiert sie Menschen, die sie in einer Bewegung, Handlung, einem Zurückschauen, einem Lachen, einem Auftritt festhält. Landschaft und Porträt, zwei klassische Themen in Malerei und Fotografie, hier nun so zusammen-, in ein Bild gebracht, dass sich vor und im dokumentierten städtischen Raum eine choreographierte Szenerie abspielt. Das Aufeinander­stossen von Abgebildetem und Inszeniertem, von grossstädtischem, urbanem Rahmen und dem Ausdruck, der Geste, der Handlung eines individuellen Menschen eröffnet einen fiktiven Raum mit dem Geschmack von Realität, und thematisiert spannungsvoll das Verhältnis, das Anklingen, die Resonanzen von Raum und Zeit, vom Menschen und seiner Umgebung.

Wir erleben den Umraum quasi als Bühne, als prägende Bühne, die einen Rhythmus, eine Atmo­­sphäre, eine Zeit- und Raumstruktur vorgibt, und darin finden wir Menschen, die in einem eigenen, eigentümlichen Zustand fotografiert sind. Die Personen nehmen auf uns Be­trach­ter keinen direkten Bezug, sie scheinen in Gedanken versunken, scheinen in ihrem eigenen Film zu hängen, scheinen auf etwas Anderes konzentriert zu sein. Diese "Bilder mit Figur", wie ich sie nennen möchte, wirken wie die Andeutung von Synthesen, die wir nicht sehen. Synthesen ist vielleicht etwas gewagt, aber wir spüren da eine Kraft in dem polaren Verhältnis von Stadtmaschine und individuellem Organismus, das wir verfolgen können. Die Bilder von Passanten hingegen halten das Ineinander von Körper und Architektur, von Ordnung und Weg, von Festem und Beweglichem dokumentarisch fest und rhythmisieren es dann zu Sequenzen. Der französische Fotohistoriker Michel Poivert fasst diese Passanten mit dem interessanten Begriff der "ikonischen Metronome", die "unerschütterlich mobil" seien. Durch die Szenerien hindurch, die uns Valérie Jouve präsentiert, bewegen wir uns, wandeln wir, und lassen uns beim Anklingen einer unausgesprochenen, angedeuteten Stimmung, Ge­schich­te, einem Klang verleiten einzuhalten, einzutauchen in diese rätselhaften, meist alltäg­lichen Situationen.                                                                                                      Urs Stahel