Juni 2012

Vom Verschwinden, Vergessen und Wieder-ins-Bild-Setzen
Rosângela Rennós visuelle Archäologie

Den Begriff «Appropriation Art» im engeren Sinne verwenden wir, wenn ein Künstler oder eine Künstlerin bewusst, und das heisst ausgehend von einer künstlerisch-strategischen Überlegung, einzelne Werke anderer Künstlerinnen oder Künstler kopiert. «Ausleihen, Klauen, Aneignen, Erben, Assimilie­ren … Beeinflusst-, Inspiriert-, Abhängig-, Gejagt-, Besessen-Sein, Zitieren, Um­schreiben, Überar­beiten, Umgestalten… Revision, Re-Evaluation, Variation, Version, Interpretation, Imitation, Annäherung, Improvisation, Supple­ment, Zuwachs, Prequel … Pastiche, Paraphrase, Parodie, Piraterie, Fälschung, Hommage, Mimi­kry, Travestie, Shan-Zhai, Echo, Allusion, Inter­textualität und Karaoke»1 – all dies sind Aneignungsformen, die hier nicht als Plagiat verstanden werden, sondern als ein beabsichtigter künstlerischer Zugriff. In einem weiteren Sinne spricht man von Appropriation Art, wenn sich ein Künstler oder eine Künstlerin bzw. ein Kunstwerk mit vorgefun­denem ästhetischem Material beschäftigt, z. B. mit Werbe- oder Pressefotos, Archiv­bildern, Filmen, Videos etc.. Dabei kann es sich entweder «um exakte, detailgetreue Kopien» handeln oder aber es werden «in der Kopie Manipulationen an Grösse, Farbe, Material und Medium des Originals vorgenommen.»2 

Rosângela Rennós Kunst weist einen deutlichen Zug von Aneignung aus. Ihre Arbeiten bestehen mehrheitlich aus Fotografien, doch sie sind fast nie von ihr selbst aufgenommen, sondern Rennó findet sie in privaten und öffentlichen Archiven, auf dem Flohmarkt, beim Recherchieren, auf Reisen bei Händlern und auf Märkten in der ganzen Welt. Manchmal integriert sie die gefunde­nen Alben und Fotografien direkt in ihre eigenen Arbeiten, aber weit öfter refotografiert sie die Bilder und verwandelt so ihre Materialität, Beschaffenheit und Grösse. Aus kleinen Fotos von 3 x 4 cm Grösse oder aus Glasplatten im Format 8 x 10 inch werden beispielsweise 165 x 118 cm grosse Bilder. Ja, sie eignet sich vorgefundene, ausgegrabene Bilder an, es zeichnet sich jedoch ein wesentlicher Unterschied zu bekannten Formen der Appropriation ab: Aneignungskunst entsteht meist aus einer Situation der Fülle, ja der Überfülle heraus. So, wie Menschen erst dann beginnen, absichtlich, willentlich und konsequent, vielleicht gar mit Lust abzumagern, wenn die Existenz­siche­rung kein Problem mehr darstellt, wenn Nahrungsmittel in Fülle vorliegen und wir uns nicht mehr unter grosser körperlicher Anstrengung um sie bemühen müssen, so bedienen sich Künstlerinnen und Künstler aus dem Fundus vorhandener Bilder, wenn sie mit einer Überfülle an Bildern konfrontiert sind und sich ernsthaft die Frage stellt, weshalb noch ein weiteres Bild in die Welt gesetzt werden sollte, wenn es schon so viele gibt und sie wie aus einer ewigen Quelle täglich neu sprudeln. Ein zentraler Motivator für die Aneignung ist der nahtlose Überzug der Welt mit Bildern, der die reale Welt zu verbergen scheint. Ein zweiter Grund ist der grosse Zweifel an der Vorstellung von «Originalität», der Vorstellung von einem Autor, der mit neuen, besonderen, originellen, mit der Vergangenheit brechenden, bisher nie gesehenen Werken in die Welt der Kunst eintreten und diese revolutionieren soll. Diese Vorstellung nährt sich auch heute noch aus einem überkommenen Geniebegriff, der davon ausgeht, dass das «Genie» wie eine (positive oder negative) Sintflut über die Welt hereinbricht und sie verändert. Syste­mische, strukturalistsiche und dekonstruktivistische Sichtweisen entzaubern diesen Deus ex Machina, bezweifeln die Autonomie des Autors und begreifen die Welten der Natur, der Dinge und des Geistes als interdependent, als miteinander verbunden und vernetzt. Der Autor wird so zum Moderator, zum Kurator, der bestimmte Situationen verschiebt, ordnet und dadurch neue Kontexte und andere Bedeutungen schafft – auch das eine gehörige Leistung in einer Welt, in der das Begreifen weit hinter der Geschwindigkeit von Wirtschaft und Wissenschaft, von Wirklichkeit im Allgemeinen hinterherhinkt. 

Ohne Rücksprache mit der Künstlerin und ohne persönliche Kenntnis der Situation in Brasilien könnte man versucht sein, auch für Rosângela Rennó die Menge bereits vorhandener Fotografien als zentrale Ursache für ihr Handeln zu sehen. Schliesslich findet sie auf Flohmärkten und in Archiven Fotografien in Hülle und Fülle, und sie ist, wie wir alle, in einer globalisierten Welt täglich mit dem endlosen Strom an produzierten und distribuierten Bildern konfrontiert. Doch der eigentliche Grund ihres künstlerischen Handelns ist ein anderer, ein genau entgegengesetzter. Cuauhtémoc Medina hält in seinem Aufsatz über Rosângela Rennós Última Foto (Letztes Foto), 2006 fest: «In a country that remains unwaverlingly devoted to the promise of progress (which is presumed to imply a rejection of the past), it is not without irony that photography, both a crucial agent of modernization and a witness to the crimes of modernization, would ultimately be trampled under the ceaseless thrust of modernity.»3 Und Rosângela Rennó weist in einem Gespräch darauf hin, dass es so etwas wie ein verbrieftes kollektives Gedächtnis in Brasilien nicht gebe. Mit verschlingender Kraft scheint die brasilianische Gesellschaft nach vorne zu streben und dabei die Ordnung des Geschehenen, die Erinnerung an Vergangenes systematisch zu verdrängen, zu vergessen, absichtslos oder mit Absicht bestimmte Erinne­rungen zu streichen. Unerbittlich wird stetig alles unter die Oberfläche gepflügt, was das Weiterkommen, den Fortschritt, die Zukunft behindert. Auch die gesellschaftlich-kulturelle Erinnerung ist ideologisch gefiltert.

Aneignung gegen das Vergessen scheint ein zentraler Handlungsmotor im Werk von Rosângela Rennó zu sein. Ein Ankämpfen gegen das kollektive Verdrängen, gegen eine Zukunft mit gähnend leerer Vergangenheit; Aneignung im Kampf gegen die Leere, gegen das Vakuum im Rück­stoss des Zukunftsmotors. Als Ai Weiwei nach dem Erdbe­ben in Sichuan um Informationen ringt, bezeichnet er das Erinnern der Namen der Verschütteten, Verstorbenen, Ermordeten als den geringsten Respekt, den wir ihnen schulden, die kleinstmögliche Wiederherstellung der Würde. Rosângela Rennó scheint auf ihre Weise als Fährtensucherin unterwegs zu sein. Das gilt schon für ihre frühe Arbeit Imemorial, 1994, in der sie Porträts von Arbeitern aktualisiert, die beim Bau der zukunftsgerichteten Stadt Brasilia gestorben sind. Sie entwirft hier ihre erste visuelle Trauerarbeit gegen das absichtliche oder unabsichtliche Vergessen der Opfer eines nationalen Grossentwurfs, gegen das Zuschütten des Gewesenen im Dienst des Kommenden. In Cicatriz (Narbe), 1996 oder Vulgo [Alias], 1998 betreibt Rosângela Rennó eine Art mentaler Archä­ologie, indem sie Fotos von ehemaligen Häftlingen, die sie als Glasplatten im Carandiru-Gefängnis in São Paulo Glasplatten findet, fast schmerzhaft gross vergrössert, so dass wir einerseits die Kälte dieser früheren formalen Identitätsfotografie, andererseits die Verlebendigung (aller Narben, Tatoos, aller Niederschläge auf die Haut, störrische Haarwirbel eingeschlossen) durch die Vergrösserung beim Betrachten physisch spüren. Eine bildliche Fleischwerdung der Verdrängungen ins Unbewusste, ein spätes, aber wichtiges Heraustreten der Strafgefangenen aus der Anonymität. 

Die Rote Serie – Vermelha (Militares), 1996-2003 – unter anderem ausgestellt bei der Biennale von Venedig, umgibt den Betrachter oder die Betrachterin mit einer langen Reihe von grossen Bildern, Bildnissen von Menschen in Soldatenuniform, die so tief rot eingefärbt sind, dass sie fast wieder im Ahnungslosen verschwinden. Das Rot drängt in verschiedene Richtungen, es wirkt wie ein Dunkel­kammerrot, so als würden wir dem fotografischen Auftauchen der Bildnisse auf dem Papier beiwohnen, und gleich­zeitig ist es ein dunkles, schweres Rot, das die hier und dort in Europa und Amerika gefunde­nen, in der Regel stolzen Porträts von Soldaten oder Offizieren vor hübschen Hintergründen (der Zuckerhut in Rio, blühende Gärten etc.) im «Blut der Geschichte» versinken lässt. Ein Rotfilter verstärkt üblicherweise den Kontrast der fotografierten Landschaft, diese Rotschicht hingegen mindert den Kontrast, bettet Hell und Dunkel auf fast gleicher Helligkeitsstufe ein. Farbfläche und Fotofläche, Träger und Sujet verschwimmen ineinander. Individuelle Repräsentationen als Macher, Sieger in Uniform, werden gleichsam ins Blut der leidenden Menschheit getaucht.

In Apagamentos (Auslöschungen), 2005 bietet sich ein Netz von schwarzweissen oder eingefärbten Dias, gut von hinten beleuchtet und wie auf einem Studierpult präsentiert, dem Studium von Kriminalfällen an. Als sei der Fall aufgerollt, scheinen sich visuelle Fakten zu offenbaren, doch sie sind allesamt fragmentiert, halten mögliches Wissen und offene Frage in der Schwebe. Hier wird erstmals die Fotografie als Evidenz selbst mit ins Spiel gebracht und in Frage gestellt: Je mehr wir sehen, desto weniger wissen wir. Wir erleben als Betrachter die totale Blendung; angezogen von vermeintlichen Fakten verlieren wir uns in ihrer Aufdröselung, ihrer Dekonstruktion, und in der Unmöglichkeit, Gewissheit allein über visuelle Repräsentationen zu gewinnen.

2005-510117385-5 (2009) ist ein weiterer verzwickter Fall. 2005 wurden in der Nationalbibliothek Brasiliens 751 Fotografien aus der Sammlung D. Thereza Christina Maria gestohlen, einer rund 23.000 Fotografien umfassenden Privatsammlung, die der Kaiser D. Pedro II 1889, nach der Proklamation der Republik Brasilien, der Nationalbibliothek schenkte. Über die Jahre wurden in mehreren Etappen 101 Fotografien wiedergefunden. Rosângela Rennó fotografierte die Rückseiten aller 101 wiedergefundenen Fotografien und hat diese zum einen in ein Album eingelegt und zum anderen in 500 Bücher mit Goldschnitt eingebunden. Die Rückseiten dokumentieren die Schäden und Eingriffe an den Fotos, etwa den Versuch, den Stempel der Nationalbiblio­thek wegzuätzen, aber auch abgekniffene Ecken und anderes. Das Werk spricht Bände über den Diebstahl in der sogenannten ikonografischen Abteilung der Nationalbibliothek, es thematisiert auf stille, verhaltene Weise das Thema der kulturellen Amnesie, des sorglosen Umgangs mit dem kulturellen Erbe. Bibliotheca von 2002, die erste grosse kartografisch angelegte Installation von Rosângela Rennó, thematisiert auf andere Weise den Umgang mit dem kulturellen Erbe. In 37 Schaukästen sind Alben und Fotografien eingelegt und die Schaukästen sind verschweisst. Die Betrachterinnen und Betrachter wandern an den verschlossenen, nach den sechs Kontinenten geordneten (Nord- und Südamerika gelten dabei als zwei Kontinente) und eingefärbten Vitrinen entlang und müssen sich mit der fotografierten Aufsicht, also mit einer Aufsichts-Reproduktion der in den Vitrinen ausgestellten «Kulturschätze», begnügen. Der eigentliche Fetisch bleibt sichtbar weggeschlossen.

Die Arbeiten der Serie Menos-valia, 2005–2007 schliesslich verknüpfen den kulturellen mit dem ökonomischen Wert. Die Anordnung von Alben, Fotografien und Gegenständen auf drei langen Wand­stücken gibt auf systematische Weise wieder, ob Rosângela Rennó beim Kauf eines Objekts den angegebenen Preis bezahlt hat oder, nach ausgiebigem Handeln, weniger oder viel weniger bezahlt hat als ursprünglich gefordert. Entsprechend liegen die Werke auf dem Träger auf oder sinken in ihn ein, sind vollständig oder den Prozentzahlen gemäss entzweigeschnitten. Der Titel der Arbeit spielt mit Menos-valia / Mais-valia, was dem Marxschen Begriff des Mehrwertes entspricht; die Arbeit selbst verbindet finanzielle und symbolische Aspekte eines «Guts» miteinander. Der ursprüngliche symbolische Wert eines Albums ging schon verloren, bevor es auf dem Flohmarkt als Verkaufsobjekt auftaucht; er wird noch weiter entleert, wenn dann intensiv um seinen Preis gefeilscht wird. Der Verlust an Seelen- und Handelswert wird physisch am Objekt selbst nachvollzogen – das Objekt selbst mag später neue Wertzuweisungen, neue Symbolisierungen durchlaufen.

Die Ökonomie des Symbolischen oder das Symbolische der Ökonomie wird in A Última Foto von 2006 direkt auf das Verschwinden der analogen Fotografie angewendet. Rosângela Rennó lässt hier 42 Berufsfotografinnen und -fotografen aus Rio de Janeiro Aufnahmen der Christusstatue «Cristo Redentor» auf dem Corovado in Rio machen. Jeder Fotograf erhält eine andere analoge Kamera, mit der er die «Letzte Fotografie» dieser Kamera schiesst. Das vergrös­serte Foto wird zusammen mit der Kamera, die dieses Foto erzeugt hat, ausgestellt. Die Instal­la­tion mit den 43 Fotos und gleich vielen Kameras (eingeschlossen ihr eigenes, mit der Ricoh 500 ihres Vaters geschossenes Foto) wird zu einer Art Schwanengesang der ver­gehen­den analogen Fotografie. Inzwischen gibt es die allermeisten dieser Kameras nicht mehr, Filme und Papiere werden nicht mehr produziert, gerade eben verkündete Ilford das Ende der Produktion von Ilfochrom, dem früher berühmten Cibachrom. Die Arbeit hat grosse Diskussionen ausgelöst, zum einen über Copy­right­fragen im Hinblick auf öffentliche Gebäude und Statuen – das Fotografieren des berühmten Monuments von Rio ist nur unter besonderen Bedingungen erlaubt –, zum anderen über die Frage, ob das Ende der analogen Fotografie auch das Ende der Fotografie an sich sei. Die Arbeit selbst wirkt keineswegs wie ein Lamento, vielmehr wie ein fast kühles, faktisches Wahrnehmen. Erst in der Rezeption wird es sinnlicher, gefühlsbetonter, wenn Cuauhtémec Medina festhält: «Pure information lacks the capacity to inspire fetishism.»4

Alle Arbeiten von Rosângela Rennó, auch einige ihrer Videoarbeiten, thematisieren mentale Zustände der Jetztzeit, befragen den Umgang mit der Vergangenheit, das Einbeziehen von Erkenntnissen aus der Geschichte für die Gegenwart und Zukunft. Sie wissen um den ideologischen Gehalt eines gesteuerten Kulturverlusts, sie demonstrieren im Aufdecken von vergessenem Bildererbe die grassierende kulturelle Amnesie. Ihre Werke lesen sich wie ein Repositioning der Appropriation Art in politisch-kultureller Hinsicht, mit einem Hang zum Dreidimensionalen, zum Skulpturalen, zur Installation – so als wollte Rennó die Amnesie möglichst körperlich demonstrieren, die Verluste möglichst «fleischig» wieder auferstehen lassen. Nicht immer handelt es sich bei ihren Funden um eminent wichtiges Kulturgut; es können auch einmal «nur» Seltsame Früchte sein (Strange Fruits, 2006). Immer aber handelt es sich um Formen von politisch bewusster kultureller Archäologie und das inständige Bemühen, mit diesen Werken eine visuelle Anthropologie Lateinamerikas zu installieren.

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1 Michalis Pichler, «Statements on Appropriation», in: Fillip, Nr. 11, Vancouver 2010, zit. nach Wikipedia.

2 Zit. nach Wikipedia, «Appropriation Art», http://de.wikipedia.org/wiki/Appropriation_Art (Stand: 20.12.2011). 

3 Cuauhtémoc Medina, «A Beautiful Death: On Rosângela Rennó’s Última Foto», in: Prefix Photo 17, Vol. 9, Nr. 1, 2008, S.24

4 Cuauhtémoc Medina, «A Beautiful Death: On Rosângela Rennó’s Última Foto», in: Prefix Photo 17, Vol. 9, Nr. 1, 2008, S.20