Januar 1998

Von Angesicht zu Angesicht
Nicolas Faures visuelle Phänomenologie der Schweiz

Ende der sechziger Jahre begann in den USA eine markante Bildrevolution. Die Vorstellung der amerikanischen Landschaft als einer grossen, grossartigen, unberührten, heiligen NATUR1 – über hundert Jahre hinweg in Landschaftsfotografien von Carlton Watkins über Edward Weston zu Ansel Adams und Minor White idealisiert und hochstilisiert zur Verkörperung des Ewigen, Beständigen, Göttlichen, das nur herausgefordert wird durch die eigenen Kräfte, durch Sonne, Regen, Schnee und Sturm – war plötzlich mit der Vorstellung einer sich verändernden Landschaft konfrontiert, der Besetzung des Landes, der Verwandlung der Natur in ein Territorium, das in Besitz genommen wird. Robert Adams, Lewis Baltz, Joe Deal, Stephen Shore und andere junge Fotografen stellten der bedeutungsschweren, entzückenden und entrückenden eine zeitgenössische realistische Sicht der konkreten, alltäglichen, banalen Umgebung entgegen. Diese neue Generation von Fotografen skandalisierte mit der Ausstellung «New Topographics» (1975) die Vorstellung des schönen, existentiellen Landschaftsbildes. Aus der ‹göttlichen› Landschaft wurde die Landschaft als reales Faktum und als künstlerisches Konzept.

Anfang der achtziger Jahre wurden in England scharfe Kritiken lanciert, als junge Fotografen wie Martin Parr oder Paul Graham es wagten, sich der sozialen Landschaft mit Farbfotografien zu nähern. Sozialdokumentarische Fotografie hatte schwarzweiss zu sein, wie Bill Brandt es seit den dreissiger Jahren vorgeführt hat, nur sie galt als realistisch – auch wenn die Erde farbig ist und die mediale Wirklichkeit die ländliche und städtische Welt schon länger mit Werbung voller Witz, Scharfzüngigkeit und grellen Farben überzogen hat. Der Zwang zum Realismus der abstrahierenden Schwarzweissfotografie war offensichtlich ein ideologischer. In den Augen der jungen britischen Fotografen wurde aus der Landschaft als Politik und Propaganda die Landschaft der realen farbigen Gegenwart. 

Mitte der achtziger Jahre bereitete die Mission photographique de la DATAR2 – das gross angelegte fotografische Projekt zur Erkundung damals aktueller Zustände im ruralen und urbanen Frankreich – der so allmächtigen französischen Bildpoetik der romantisierten Landschaft, der idyllisierten Stadtlandschaft mit Liebespärchen, Gegenlicht, freudig bellenden Hunden am Wasser endlich ein vorläufiges Ende, fast zwanzig Jahre später als die Cineasten das Frankreich Jean Renoirs hinter sich gelassen hatten. Die zarte, liebliche Bilderwelt von Robert Doisneau, Henri Cartier-Bresson oder Willy Ronis, seit den vierziger Jahren Sinnbild des französischen savoir vivre, brach am Brüsken der Banlieue-Architektur und an der Schonungslosigkeit, mit der Energiewirtschaft und Verkehr die Landschaften Cézannes zersetzten. Aus der poetischen, verzauberten, symbolisierenden wurde hier unverhofft die Landschaft als hard-edge-Tatsache, als Konfrontation mit der Gegenwart. 

Die Schweizer Bildnerei hat seit Hodler und Segantini (in der Malerei) und seit Albert Steiner (in der Fotografie) das Thema der grossgeschriebenen NATUR praktisch aufgegeben; die Schweizer Dokumentarfotografie hat sich gleichwohl bis Anfang der achtziger Jahre mehrheitlich der Reibung an der Gegenwart verweigert. Themen wie «Hirten auf der Alp», der «letzte Appenzeller Seidenweber», «Wanderschäferei in Niederbipp und im Verzascatal», «Schneegestöber beim Viehmarkt von Lauenen», «Bäuerinnen im Münstertal», «Bergbauern im Tessin» waren ihr hauptsächlicher bildlicher Alpsegen. Diese Themen dominierten über die vereinzelten, zaghaften Beschäftigungen mit der so unangenehmen, unmittelbaren Gegenwart; die Fotografen klammerten sich ein letztes Mal sentimental und anachronistisch an das Motto der Folklore «Typisch Schweizerisch»3, das schon eine Weile lang (wenn nicht schon immer) nur noch als Bild, als touristische Verklärung, als Sicht von aussen existierte. Das fotografische Konzept Landschaft blieb hier lange, lange Zeit konservierende Volkskunde, während die reale Schweiz sich im Eiltempo zu verändern begann.

Jedes der vier genannten Beispiele offenbart einen tiefen Widerspruch zwischen der Realität und der bildlichen Beschäftigung mit ihr, der so lange andauert, bis eine neue Generation von Fotografen, unter Protesten, einen Paradigmenwechsel vornimmt. Die Fotografie, «dieses vorzüglichste Instrument der Wahrheit», wie sie manchmal genannt wird, wird lange Zeit nicht mehr zum «Enthüllen bisher verborgener Wahrheiten» eingesetzt, vielmehr dient ihr Realismuscharakter als visuelle Beglaubigung poetischer, pantheistischer, konservierender oder politisch-ideologischer «Schönfärbereien».4 Erhöhung, in welchem Namen auch immer, mit der Sanktion des Wahren, weil mechanisch-technisch, physikalisch-chemisch hergestellt. Dieser Widerspruch von Bildrealität und Wirklichkeit darf uns nicht ganz fremd sein. Er findet seine Parallele in unserem Wunsch, noch heute sich lieber in der Alt- als in der Neustadt, lieber im mittelalterlichen Marais als am Boulevard Haussmann, lieber an den Champs-Elysée als in den Pariser Banlieues, lieber in den Lagerhallen Sohos und Chelseas und weniger in Midtown Manhattan zu bewegen, obwohl wir wissen, dass diese Viertel eingegrenzte Tourismus- und Shoppingzonen sind, die unserem Wunsch nach intaktem städtischem Leben widersprechen. Die Landschaftsfotografie ist immer, wie die Vorstellung von Natur, ein Konstrukt: gleichzeitig Sicht nach aussen und nach innen. Sie ist also auch Spiegel unserer inneren Topographie und darum ebenso Verdrängungs- und Sehnsuchtsfotografie, wie einst die idealisierenden Stadtveduten in vergangenen Jahrhunderten.

Nicolas Faure ist der ‹neue Topograph› der Schweizer Landschaft und der Schweizer Fotografie. Er hat hier einen Paradigmenwechsel vorgenommen. Seit 15 Jahren realisiert er Werkgruppe um Werkgruppe mit Themen, welche die aktuelle Schweiz betreffen – mehrheitlich sind es Landschaftsfotografien, in jüngerer Zeit aber auch Porträts: das doppelte ‹Gesicht› einer neuen, gegenwärtigen Schweiz, der Landschaft, der Menschen; die doppelte Neuordnung der ‹ersten› Orientierung, des Blicks in die Welt und ins Gesicht eines Andern. Seine Fotografie hat von Anfang an Erhöhungen, Idealisierungen gemieden, hat direkt und einfach Vorliegendes, Augenscheinliches, Offensichtliches ‹gesehen› und bildfähig gemacht: Zeigen, was (vor und mit uns) heute der Fall ist – nüchtern und, für ihn selbstverständlich, in Farbe. Das neue, farbige Gesicht der Schweiz. 

Die Serie «Montagnes» (1989/90) machte Nicolas Faure allgemein bekannt: eine Reise in die Welt der Alpen nicht mehr als Wildnis, als fremde, ursprüngliche Natur, sondern als Naherholungsgebiet, Freizeitparadies, Touristenpark, als «hochalpine Fussgängerzone», in der alles Wilde der Vergnügungskultur zu weichen hat. Das Buch «Switzerland on the Rocks» (1992) hält den Findling in seiner merkwürdigen Mischfunktion als Markierung, Verankerung, Vorgartenschmuck, als ‹Natur›-Zeichen, ‹Natur am Bau›, künstlich arrangiert auf einer Verkehrsinsel, auf den Grünflächen vor High-Tech-Gebäuden, auf dem Spiel- oder Sportplatz fest. Nicolas Faure nennt sie «Pierres fétiches», natursakrale Fetischsteine, die in der hochzivilisierten, hochindustrialisierten, hocharbeitsteiligen Schweiz an das Wilde, Ungeformte, Ungenormte, an die Natur vor uns erinnern – am genau dafür festgelegten Platz. Der Findling als ‹Neger› moderner Stadtlandschaften und Wohnagglomerationen – als Exotik des ‹Heimischen›, als Ursprünglichkeitsversprechen.

Das Ausstellungs- und Buchprojekt «Multikultur im Vorort – Meyrin» (1992-94) vereinigt rund achtzig fast klassisch angelegte Familienporträts von Fremden, von Familien, die kürzere oder längere Zeit in der Grossüberbauung der Genfer Gemeinde Meyrin wohnen. Meyrin, Wohnort von Nicolas Faure, ist mit mehr als hundert verschiedenen Nationalitäten eine aussergewöhnlich multikulturelle Gemeinde. Faure bittet deshalb um einen Porträttermin, in den Wohnungen, den Stuben der Grossüberbauung, vor Bildern aus früheren Zeiten, vor Mitbringseln aus der jeweiligen Kultur, auf Stilmöbeln oder Möbeln von Ikea und Interio. Vor dem Dekor dieser eklektischen Wohnkultur schauen die Familien – entspannt, weil vertraut, angespannt, weil ungewohnt, alltäglich oder herausgeputzt, westlich angezogen, in traditioneller Tracht oder gar uniformiert – direkt in die Kamera. Diese ‹Fremden›, sonst in der Regel im Plural genannt und mit verdächtigen Prozentzahlen versehen (haben wir 5% oder noch mehr ‹Jugoslawen› in der Schweiz?), werden zu Gesichtern, Personen, zu Menschen vis-à-vis, mit ihrer eigenen Geschichte, die sich hier mit dem internationalen Styling und mit der Geschichte der Schweiz kreuzt, für eine Weile mit ihr einhergeht. Der Blick konzentriert sich auf die Mischung von kulturellen Zeichen und auf die innerfamiliären Konstellationen.

«Face à Face» hingegen, 1994/95 und 1997 in Genf und Zürich aufgenommen, ist das Resultat einer schnellen Begegnung auf der Strasse vor halbdurchsichtigem Hintergrund. Vornehmlich junge Menschen erwidern den Blick des Fotografen, schauen gelassen, emotionslos, für den Augenblick der Fotografie ruhend, in die Kamera. Präsent und flüchtig zugleich: Das Bild einer Welt, die unterwegs ist, kurz anhält und sich weiterbewegt. Gesichter, vertraut und unergründlich zugleich. Das Bild zeitgenössischen städtischen Daseins; Einzelmenschen, weder Hierarchien noch Gruppen zugeordnet, individualisiert, atomisiert, allenfalls über Kleider, Stile, Marken lose zusammengeführt.

In «Paysages urbaines» (1994/95), einer bisher nicht veröffentlichten Serie, kulminiert Nicolas Faures Beschäftigung mit dem Territorium und dem ‹Betrieb Schweiz›. Sie zeigt eine begradigte, bis ins Detail geordnete, eingezonte moderne Schweiz: Verkehrszone, Industriezone, Jumbo-/Interio-Zone, Wohnzone, Freizeitzone und Randzone liegen nebeneinander, gehen geplant und funktional ineinander über. Energie und Verkehr, Produktion und Konsum sind geregelt, die Bereiche bis ins Detail verschränkt und vernetzt. Flugplatz, Autobahn, Energiedepot, Tennisplatz, Bürohaus, Spielplatz, Strommast, Lagerhaus: Kühl, emotionslos, bedeutungsentlastet scheint die Sache abzulaufen, zu ‹sein›; eine Art Screen-Life, wie durch eine Scheibe von der Vorstellung vom Leben getrennt. Einzig ein paar Fahrende, für den schweizerischen Bundesstaat seit 150 Jahren ein ungelöstes Ordnungsproblem, ‹stören› selten zwar, aber weiterhin das Eigenbild.

Die Werkgruppe «Die Neue Schweiz», seit 1994 work in progress für das Museum für Gestaltung Zürich und das Bundesamt für Strassenbau, erkundet die Autobahn als zeitgenössisches Territorium, das die Schweiz wie Geäder, wie geschwungene Raster durchzieht, das neue Räume, neue Zonen und Strukturen schafft. Das Autobahnnetz verwandelt die Schweiz vollends zur Modell- und Kunstlandschaft, aseptisch, hyperreal, virtuell. Einige der Fotografien erinnern an die klinisch-sterilen Sets von «Fahrenheit 451», des 1966 gedrehten, futuristischen Films von François Truffaut. Das Netz rahmt die Landstriche ein, erklärt sie zu verkehrsnahen oder -fernen Zonen, schafft eine Art ‹Verkehrtop›, das aber nicht wie das Biotop als kleinste Enklave überall Platz findet, sondern verdrängend, dominant den Platz behauptet. Von der einen Seite her gesehen geordnete, gezeichnete, gerichtete Landschaft, von der anderen Seite her geteilte, versehrte Landschaft.

Die Fotografien aus dem Kernforschungszentrum CERN (Centre Européen de Recherche Nucléaire) schliesslich – 1997 fast altmodisch mit der Fachkamera, auf das Stativ montiert, sorgfältigst durch ihre Optik wahr- und aufgenommen – ziehen dem Betrachter ganz den Boden unter den Füssen weg, lösen Raumperspektiven und jegliche andere Halt- und Anhaltspunkte auf. Wir ‹schwimmen› orientierungslos in einer technoiden Welt, deren Bild anspielt auf Themen von Vernetzung, Übermittlung, Eingriff und Kontrolle. Uns wird schwindlig, weil wir fasziniert in diese Welt eintauchen und mit diesen Bildern gleichzeitig Gefühle des Sich-Verlierens, des Ausgeliefertseins verbinden. 

Die Schweiz ist ein geteiltes Land, nicht nur in Berge und Mittelland, in die alemannische und lateinische Schweiz, in hohe und tiefe Steuerfuss-Zonen. Jeden Morgen im Hauptbahnhof Zürich – und in allen anderen Hauptbahnhöfen auch –, begegnen sich die Pendler, die zur Arbeit fahren, und die Ausflügler (in jüngster Zeit nicht nur freiwillige), die mit der Tageskarte an den Blausee fahren, die Bernina «machen», den Glacier-Express nehmen. Die Sichten der beiden Gruppen sind ‹richtungsgetrennt›, auch wenn sich ihre tatsächlichen Wege kreuzen, auch wenn ihre unterschiedlichen Geschwindigkeiten sich gelegentlich stören. Die Blickpunkte sind so unvereinbar, wie vordem Realität und Bildrealität, wie eine Bildrealität mit der anderen. Auch in der Schweiz existieren zwei (und noch mehr verschiedene) Geschwindigkeiten. Auch in der Schweiz hören sie unterschiedliche Radiosender, DRS 1 oder 3, sehen Schweiz 1 oder RTL2 – und doch enden beide am fast gleich-verkehrten, je künstlich inszenierten Un-Ort: der Pendler im Alpengarten vor dem High-Tech-Büro, der Ausflügler in der hochalpinen Fussgängerzone. 

Nicolas Faures Fotografien zeigen neben allen Entwicklungen, seiner Fotografie und der Landschaft Schweiz, als Konstante vor allem solche Konstellationen: zugespitzt und manchmal witzig der Findling in der Stadtlandschaft, die Motorradgruppe auf dem Berggipfel; entlasteter, ruhiger die Konstellationen der Familien, unter sich, als Fremde in der Schweiz, und des Paares, Er/Sie, Er/Er; und abstrakter, konzeptueller der graue Asphalt um den grünen Rasen, die gelbe Bank vor blassblauem Horizont, die spitzig-rote undurchdringliche Hecke. Eine Anhäufung von Steinen gibt vor, ein Hügel zu sein, und es sind doch nur auf- und losgerissene Asphaltstücke oder Natürlichkeit simulierende Betongüsse. Nicht einmal die Steine sind mehr original; ihre Künstlichkeit lässt zweifeln, ob der Schnee im Hintergrund echt oder per Computer eingesetzt worden ist. Wildnis und das Gedanken freisetzende, unbesetzte, unbestimmte Terrain, das Niemandsland, finden sich nicht mehr in den Bergen, sie stellen sich als Biotop auf Zeit an den Randzonen ein, sind Terrain vague entlang der Autobahn, um die Einkaufszentren herum, so lange wenigstens, wie die Planer und die Restbesitznahme verspätet sind. 

Die Schweiz in Nicolas Faures Fotografien ist ein geteiltes, richtungsgetrenntes und zugleich ein verschachteltes, eng vernetztes Territorium: bunt, frisch und künstlich wie Waschmittelfarben, verbaut, besetzt und begrünt wie die allerbeste Südlage, eingezont bis zum Gitter um die Industrieanlage, den Sportplatz, die Autobahnbrücke herum, eingebunden in Verkehrsnetze mit besten Anschlüssen vom Velo zum Auto zur Bahn und zum Flugzeug. Auch wenn Nicolas Faure im Wortsinn meist aufrecht hinschaut, verrutscht doch das Reale ins Künstliche, Klinische, krisenhaft Ordentliche; weil er scharf und rigoros hinschaut, zeigt selbst das Vordergründige surreale Züge; und weil er nichts als hinschaut, genau und entspannt zugleich, öffnet sich das Bild, öffnen sich die Bild-Zeichen den Betrachtern. 

Als Nicolas Faure in New York lebte, in den siebziger Jahren, stand er distanzlos mittendrin, zeigte direkt, veristisch, agil das hektische Leben, das Hin und Her, Kreuz und Quer. Der Schnelligkeit und dem Chaotischen entsprechend fotografierte er dieses Stadtleben mit der Kleinbildkamera. Die Bilder der Schweiz, diesem auf der einen Seite bierbäuchigen, behäbigen, beamtet-organisierten, landschaftlich scheinbar ruhenden und auf der anderen Seite schlanken, schnellen, fast gewalttätig effizienten und eben besetzten Land, benötigen dann ein grösseres, dichteres, detailreicheres Format. Lange Zeit fotografiert er mit dem 6x7cm-Format, um schliesslich zur grossformatigen Fachkamera, zum genauen Messinstrument zu greifen. Seither sind seine Bilder Landkarten, voller Zeichen, Wege, Kreuzungen, voller genau festgehaltener Konstellationen, offen, undramatisch, kaum je symbolisch überhöht; seither ist Nicolas Faure kein Reportagefotograf mehr, sondern ein konzeptueller bildlicher Landvermesser mit einem kleinen Hang zur Narration. Sein Gang ist aufrecht-normal, der Blick ist ungetrübt-scharf – seine Fotografie entspringt tatsächlich aufrechtem Stehen –, daraus entstehen Tableaus, die präzise und doch offen sind, die Dinge zeigen, ohne gleich vieles zu meinen. So entsteht eine vielfältige, grossflächige visuelle Chronik, eine visuelle Phänomenologie mit präzisem Sinn fürs Bildnerische. ‹Landschaft› als Folie einer Schweiz im Umbruch, in einem Land, das zur kühlen, modernen, effizienten, aber auch anonymen, künstlichen, bedeutungsleeren Stadtlandschaft geworden ist, vom Genfer- bis zum Bodensee, mit Abstechern in die Alpen. 

Wir, die Betrachter, die im Bild imaginierten Subjekte, stehen von Angesicht zu Angesicht zu einer Modellandschaft, die Fotografie geworden ist, zu einer Fotografielandschaft, die Wirklichkeit geworden ist – und einem Prospekt der Gegenwart gegenüber. Denn dokumentieren heisst immer auch entwerfen. Nicolas Faures Fotografie entwirft das Bild der gegenwärtigen Schweiz: Kein Alpsegen, weder rührend noch besinnlich, sondern normal-surreal, so wie der archaische Findling im künstlichen Rasen. Seine ‹Bildrede› ist so erhaben wie eine Lautsprecherdurchsage, kühl, klar und entsprechend der Landschaft ‹Schweiz›: funktional. Sein Engagement für dieses Land ist weder anachronistisch noch sentimental, wohl aber zeitgemäss international – in Transparenz und Schärfe des Blicks.

1 Siehe Estelle Jussim/Elizabeth Lindquist-Cock: Landscape as Photograph. New Haven and London, 1985
2 Paysages Photographies. En France les années quatre-vingt. Mission Photographique de la DATAR, Paris 1989
3 1976 schrieb die SBG (Schweizerische Bankgesellschaft) ihren grossen Fotopreis zum Thema "Typisch Schweizerisch" aus.
4 Zitate aus einem Text von Georg Schmidt in: Photo 49, Sondernummer der Zeitschrift "Publicité et Arts Graphiques", Lausanne 1949, S. XVIII

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