2006

Von der heiligen zur realen und zur ultimativen (Stadt-)Landschaft in der Fotografie
Vortrag [UBS-Wolfsberg Management Centre, Ermatingen]

Anhand der Landschaftsfotografie versuche ich zu zeigen, wie sich das Bild von einer heiligen zu einer realen und schliesslich zu einer ultimativen Landschaft verändert hat. Und wie sich dabei das Sehen zunehmend destabilisiert. Vorweg nochmals ein paar lapidare Bemerkungen und ein Rückgriff in die Vergangenheit, nachher wird es zügig in den Zeitraum der letzten 40 Jahre gehen.

Diese Vorbemerkung hier gilt grundsätzlich für jedes Sprechen über Fotografie: Da eine Fotografie sowohl ein eigenständiges Bild als auch ein Abbild von etwas ist, sind wir immer wieder gezwungen, auch über das Abgebildete reden zu müssen. In diesem Abgebildeten wiederum manifestieren sich zwei Dinge: Einerseits die Sicht eines Subjektes, des fotografierenden Subjektes auf die Welt und andererseits das Motiv, die Welt vor dem Objektiv - im ersten Fall fühle ich mich als eine Art Parallelsubjekt einigermassen kompetent, auch wir sind uns gewohnt, auf die Welt zu schauen -, im zweiten Fall hingegen gerate ich notgedrungen in ganz verschiedene Bereiche, hier zum Beispiel in den Fachbereich der Landschaft, der Stadtlandschaft, ins Thema der Stadt, der urbanen Organisation hinein. Das Reden über Fotografie zwingt immer zum Reden über viele Welten. Also ist es selbst eine Art destabilisierendes Reden mit Generalistenanspruch.

Eine zweite Vorbemerkung: Diese doppelte Doppelung, von der ich eben gesprochen habe - die Fotografie als Abbild und Bild einerseits und andererseits die Fotografie als abgebildete Welt, als Spur und als konkretisierte Sicht eines Subjektes auf die Welt - wird uns den ganzen Winter hindurch immer wieder beschäftigen. Das Thema der durch die Fotografie gesehenen Welt und der durch die Fotografie konstruierten, bedeutsam gemachten Welt - beides ist in der Fotografie, dem Medium entsprechend, untrennbar verbunden und nur in der analysierenden Betrachtung trennbar -, das Wechselspiel von passiver und konstruierender Wahrnehmung, von der Vorstellung "Landschaft" als Konstrukt und als Denkmetapher, vom Sehen als Orientierung soll uns hier besonders beschäftigen.

Als Petrarca Mitte des 15. Jahrhunderts den Mont Ventoux in der Provence bestieg und sich damit gleichsam von der Erde erhoben, gelöst hat und zum erstenmal die Natur als Landschaft bewunderte, war zweierlei geboren: das autonome Subjekt (das sich in der Gestalt Petrarcas übrigens Christus-ähnlich auf den Berg begibt) und die vor ihm liegende, von ihm getrennte Landschaft. In dieser Geste, dieser erleuchteten Handlung Petrarcas ist ein grosser Werte- und Orientierungswandel versinnbildlicht (auch wenn der Brief heute nicht mehr verbürgt ist). Die bis dahin geltende vertikale Orientierung und die totale Einheit und Ordnung unter Gott wird aufgebrochen, aufgebrochen in die horizontal ausgerichtete Dualität Subjekt-Objekt, in ein sehendes, erfahrendes, denkendes Subjekt, das auf eine vor ihm, zu Füssen liegende Welt trifft und sie sehend als Gegenüber erfährt. Gleichzeitig wurde die vertikale Ausrichtung in den Bereich des Glaubens verlegt.

Hier wiederholt sich die Auftrennung der Einheit, wie sie in der Bibel mit Adams und Evas Vertreibung aus dem Paradies geschildert ist. Und wie in jener so führt auch diese Auftrennung einer hierarchisch geordneten, selbstverständlichen Einheit neben dem Fortschritt fast zwangsläufig auch zu Unsicherheit. 300 Jahre später, praktisch in der Vollendung dieser Auftrennung, macht sich in der Romantik eine tiefe Unsicherheit breit, als Gefühl des Losgelöstseins, Verlorenseins, des totalen Getrenntseins vom grossen Sinn-Zusammenhang, von der grossen Erzählung. Dieser romantische Vollzugsschock garantiert bis heute den Psychologen und Psychiatern volle Beschäftigung und hat Existenzphilosophen wie Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre Nahrung für ihre Arbeit gegeben.

Doch lassen wir das Verlorenheitsgefühl des Subjektes vorerst auf der Seite, dann hat dieses Subjekt-Objekt-Verhältnis – ich hier, dort die Welt - erstmal für neue stabile Verhältnisse, für eine neue stabile Ordnung gesorgt. Erste Orientierung und Ordnung des Menschen im Diesseitigen ist die Welt, die Landschaft, die er vor sich erblickt, die ländliche Landschaft ebenso wie die städtische Landschaft. Die zweite Orientierung ist der andere, der erblickte Mensch - daraus entspringt die Fülle an Porträtkunst -, und schliesslich folgt die dritte Orientierung, die gleichzeitig die erste Verunsicherung ist: der Augenblick, wenn der erblickte Mensch zurückschaut, mich anschaut, da werde ich meiner selbst bewusst - oder verunsichert, als ein von aussen Betrachteter, da erlebe ich mich als Objekt der Betrachtung.

Die 2. und 3. Orientierung interessiert uns hier nicht. Zur 1. muss man beifügen, dass sie nahezu perfekt war . Der Blick zum Beispiel in die klar strukturierte Stadt, in die "Città Ideale", hier wiedergegeben mit dem Beispiel des berühmten Entwurfs eines unbekannten Malers des 15. Jahrhunderts im Palazzo Ducale von Urbino (Bild La Città Ideale), stärkte Verstand und Ordnungssinn des Menschen, während der schweifende Blick über die Landschaft, über Poussins "Arkadien" zum Beispiel, die Seele, die Psyche des Menschen nährte - ein perfektes, sich ergänzendes Paar. Auch wenn beides eine Konstruktion, eine Fiktion des Sehens, wenn beides auch Repräsentation einer sich aufklärerisch gebenden Gesellschaft ist – eben die konstruierte Idealstadt und die imaginierte Ideallandschaft. Dieser Weltentwurf der Renaissance geht von einem zentralen Subjekt aus, auf das sich (perspektivisch konzentriert) die Totalität der Welt bezieht. Er erfährt im 19. Jahrhundert, im Zeitalter des bürgerlichen Individuums und der bürgerlichen Machtentfaltung, seinen Höhepunkt und bald auch seine letzte Blüte.

Zwei Beispiele dazu: Einmal das Panoramabild, ob gemalt oder fotografiert, wird zum Sinnbild der Weltergreifung: Die Welt liegt vor unseren Füssen, sie gehört uns, wir können sie be/greifen, das heisst zugleich ergreifen, in Besitz nehmen und begreifen, gedanklich durchdringen. Es wurden sogar 360-Grad-Panoramen geschaffen: wie hier im San–Francisco-Panorama von E. Muybridge und im Bourbaki-Panorama gezeigt, in der wunderbaren Arbeit von Jeff Wall - 360-Grad-Panoramen, welche dem sehenden Subjekt die totale Verfügbarkeit suggerieren, und doch auch ein wenig Schwindel auslösen - wir sind es nicht gewohnt, Gott-ähnliche, omnipotente Positionen einzunehmen.

Zweites Beispiel: die Stadt Paris. Sie wird unter Haussmann zum Inbegriff einer modernen, metropolitanen Città Ideale umgebaut, mit Versaille als Prospekt, als Konstruktionsvorbild (Bild). Klar gerichtet, geordnet, im Zentrum die Place Etoile und der Arc de Triomphe und dann sternenförmiges Ausscheren der Strassenzüge. Sie alle kennen dieses berühmte Beispiel aus dem Städtebau, ein Bild für die Verbindung von Ordnung und Macht, von Ordnung und Besitz. Die Strassen sind breit genug, die Ordnung nach innen aufrecht zu erhalten – sie sind zu breit für Barrikaden und genug breit für den Aufmarsch der Truppen - und sie sind so ausgerichtet und so lange, dass sie - gedanklich wenigstens - die Welt umfassen, dass sie erst in den Kolonien enden.

Das 19. Jahrhundert ist der Höhepunkt dieser Weltanschauung, dieser statisch geordneten, zivilen Ordnung, und zugleich erfährt sie da einen ersten Knick. Theodore Rousseau rief sinngemäss: "Lasst die zivilisierte Welt zum Teufel gehen! Es lebe die Natur, die Wälder und alte Gedichte!" Die Elektrifizierung und Dynamisierung von Wirtschaft, Verkehr und Stadtleben verändern im 19. Jahrhundert das Gleichgewicht zwischen Stadt und Land stark. Die Stadt – einst ein Konzept des Sozialen, des Rationalen, ein Vertrag des guten Benehmens in der Gemeinschaft der Menschen - wird allmählich, mit dem Grösserwerden, zum Inbegriff des Bösen, zum Moloch, zur Triebtäterin, die sich langsam ausbreitet und das Land infiziert. Das Land wird kolonisiert, die Natur wird bewirtschaftet. Im Gegenzug dazu – quasi Parallele und Korrektur in einem - wird dann zum Schutze des Landes aus der Sicht der Städter die Landschaft zur nationalen Angelegenheit aufgewertet, werden Teile der Naturlandschaften zum schützenswerten Nationalpark erhoben. Zur Verdeutlichung: In der sich wirtschaftlich dynamisierenden und ideologisch säkularisierenden Gesellschaft wird der Gegensatz 'gut-böse' langsam auch auf das Land und die Stadt übertragen. Was sich vorher ergänzte und oft sehr gut vertrug - bot doch die Stadtmauer auch dem Bauern im Notfall Schutz - wird nun zum Gegensatzpaar.

Die Landschafts-Fotografie am Ende des 19. Jahrhunderts und bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts ist davon durchtränkt. Die besten, sinnfälligsten Beispiele dafür liefert sicher die amerikanische Fotografie. Ich zeige Ihnen hier Bildbeispiele von Carlton Watkins, Eadweard Muybridge, William Henry Jackson, Edward Steichen bis hin zu Edward Weston, Anselm Adams, Minor White oder Brett Weston. (langsam zeigen, ich schwatze ja eh viel)

Bei diesen berühmten Fotografen ist die Landschaft leer - im Gegensatz zur vollen Stadt -; sie ist in sich ruhend, wirkt jedenfalls lebenszyklisch rhythmisiert - im Gegensatz zur Dynamik und Hektik in den Städten; die Landschaft wird hier heilig gesprochen - im Gegensatz zum Moloch Stadt. Estelle Jussim spricht in ihrem Buch "Landscape as Photograph" von der "Landscape as God", von der Landschaft als Gott, als Erhöhung, als Symbol. Edward Weston, Anselm Adams und Minor White, um nur drei bekannte Namen des 20. Jahrhunderts zu nennen, verwandeln die Natur in und mit ihrer Fotografie zur pantheistischen Erfahrung, zum naturalisierten Göttlichen.

Es formiert sich in der Fotografie die Vorstellung der amerikanischen Landschaft als einer grossartigen, unberührten, heiligen, grossgeschriebenen NATUR, sie wird idealisiert und hochstilisiert zur Verkörperung des Ewigen, Beständigen, Göttlichen, das nur herausgefordert wird durch die eigenen Kräfte, durch Sonne, Regen, Schnee und Sturm. Die Landschaft wird zum unberührten, heiligen Natur-Körper gegenüber dem vermaledeiten, beschmutzten Stadtkörper. Die Psyche des amerikanischen Subjekts schafft sich hier, wenn man so will, eine Fluchtmöglichkeit, ein Refugium des Ursprünglichen, ein Surrogat für das verlorene Heilige. Sie erschaut das Göttliche in der natürlichen Natur. Der Dichter Walt Whitmann ist die poetische Stimme dafür.

Ich greife hier die amerikanische Fotografie heraus, weil sie exemplarisch für diese Bewegung ist, weil in Nordamerika mangels mystifizierbarer Geschichte ausgeprägt die Erhebung der Landschaft den Verlust von Natur begleitet. Diese Entwicklung findet sich aber vergleichbar in praktisch jedem Land. In Italien zum Beispiel dauerte es bis in die siebziger Jahre hinein, bis sich die italienische Fotografie von der Landschaft als heiliger, mediterraner Venus befreien konnte.

Halten wir fest: Die Fotografie, "dieses vorzüglichste Instrument der Wahrheit", wie sie manchmal genannt wird, wird also - im Feld der Landschaftsfotografie - lange Zeit nicht zum "Enthüllen bisher verborgener Wahrheiten" eingesetzt, vielmehr dient ihr Realismuscharakter als visuelle Beglaubigung poetischer, pantheistischer, konservierender oder politisch-ideologischer "Schönfärbereien". Selbst in der neusachlichen Fotografie, zum Beispiel in der Fotografie der Schweiz in den dreissiger, vierziger und fünfziger Jahre. Die Landschaft erfährt eine Erhöhung, in welchem Namen auch immer, mit der Sanktion des Wahren, weil mechanisch-technisch, physikalisch-chemisch hergestellt. Die Erfahrung der Welt durch Bilder im Verhältnis zur realen Entwicklung der Welt ist zeitlich immer verzögert. Diesen Widerspruch von Bildrealität und Wirklichkeit kennen wir aus eigener Erfahrung. Er findet seine Sehnsuchts-Parallele in unserem Wunsch, sich noch heute lieber in der Alt- als in der Vor- oder gar der Neustadt, lieber im mittelalterlichen Marais als am Boulevard Haussmann, und dann lieber an den Champs-Elysée als in den Pariser Banlieues zu bewegen.

Ende der sechziger Jahre nun begann gerade in den USA eine markante Bildrevolution. Die Vorstellung der amerikanischen Landschaft als einer unberührten, heiligen, grossgeschriebenen NATUR war plötzlich mit der Vorstellung einer sich verändernden Landschaft konfrontiert, mit der Besetzung, mit der Bearbeitung des Landes, der Verwandlung der Natur in ein Territorium, das in Besitz genommen wird. Robert Adams, Lewis Baltz, Joe Deal, Frank Gohlke, Dan Graham, Ed Ruscha und andere junge Künstler stellten der entzückten und entrückten eine zeitgenössische realistische Sicht der konkreten, alltäglichen, banalen Umgebung entgegen. Diese neue Generation von Fotografen skandalisierte u.a. mit der Ausstellung "New Topographics" (1975) die Vorstellung des schönen, existentiellen Landschaftsbildes: Aus der 'göttlichen', der heiligen Landschaft wurde die Landschaft als reales Faktum und als künstlerisches Konzept.

Ich werde fortan den Amerikaner Lewis Baltz als eine Art Leit-Figur beiziehen, weil er für die Entwicklung seit den sechziger Jahren exemplarisch betrachtet werden kann. Lewis Baltz und seine Kollegen und Freunde haben dieses Ideal Amerikas, das bisweilen als karg, leer, immer aber als in-sich-ruhend-schön-und-erfüllt dargestellt worden ist, ganz einfach bevölkert. Aus dem heroischen, poetischen Ich und die Natur wurde zuerst ein wir und der Park und schliesslich gar ein banales sie und das Gärtchen, das Areal. Sie, die anderen, sie, die Gesellschaft, und wir, die Nachgeborenen, Zuspätgekommenen, denn wenn es einst ein unberührtes Fleckchen Natur gegeben hat, dann stehen da nun immer schon Einfamilienhäuschen oder es liegen ausgefahrene Gummireifen herum, als Zeichen von: Da war doch schon wer. Die Landschaft ist auch im fotografischen Bild zum Territorium geworden, begrenzend, ausgrenzend, vor allem aber besetzt. (Bilder von Baltz)

Landschaft als Territorium, das Territorium als gebauter, gestalteter, besetzter Raum. Und das Gebaute - zum Beispiel die "Tract Houses" in ihrer gleichgültigen Banalität, die "New Industrial Parks" in ihrer unterkühlten, minimalistischen Eleganz (Bilder) – als stumme, fast gesichtslose Architektur. Lewis Baltz musste dann und wann eine Uebereck-Aufnahme beigesellen, damit wir weiterhin glauben, er habe Gebäude und nicht Grossleinwände aufgenommen, gebaute Körper und nicht nur immaterielle Bilder vor sich gehabt.

Nach der amerikanischen Landschaft entheiligten, entzauberten Baltz und seine Zeitgenossen das Eigenheim und ihren Ort. Seine Häuser und seine Städte erzählen nichts von den Skylines, nichts von den Kathedralen der anonymen Gesellschaften - wie es die Fotografie von Charles Sheeler, Edward Steichen oder Alfred Stieglitz taten, sondern vom endlosen amerikanischen "Vorgarten" des Mittelstandes. "Maryland" und "Park City" - Retortenhäuser und -städte, die die abendländischen Idealstadt mit einem Zentrum und sinnhafter, hierarchisch angeordneter Struktur pragmatisch-wirtschaftlich unterlaufen. Real-Estate-Landschaft, von Baltz wie ein Landvermesser abgeschritten und fotografisch verbucht, Real-Estate-Landschaft, die Stadt und Land unter monetären Gesichtspunkten eins werden lässt.

Lewis Baltz und seine Zeitgenossen schockierten mit diesen Fotografien, denn sie stellten eine Reihe von Dingen zur Disposition, die bisher heilig waren:

- die "gute Fotografie" eines Edward Weston oder Anselm Adams: ihr stellen sie nüchterne, unromantische, scheinbar wissenschaftliche Bestandesaufnahmen gegenüber

- den "engagierten" Fotografen: denn sie behelligen uns nicht mit ihrer gelungenen Gestaltung, ihren Emotionen und Meinungen, sie zeigen und moralisieren nicht

- das Subjekt, denn es erfährt keine Erfüllung, keine Erhöhung mehr, nicht mal Anleitung oder moralischen Kommentar, sondern es erfährt sich selbst als Teil eines Systems.

Der Blick in diesen Fotografien ist nicht mehr von einer Utopie getragen, ausser jener, möglichst utopielos zu untersuchen , zu forschen, was mit den Städten und den Vorstädten geschieht. Die Fotografen und Künstler setzen den Bildpurismus und die Form-Inhalt-Deckung als kritisches Instrument ein, ersetzen die Illusion der fotokünstlerischen Fertigkeit durch die Illusion der mechanistischen Beschreibung und zwingen derart dem Betrachter seiner Fotografien, also uns, dem Subjekt der Betrachtung, eine grundsätzlich neue Rolle auf: ohne Wahl und unsentimental den Blick auf die Welt vor ihm, auf die aktuelle, gegenwärtige Welt zu richten. In diesen sechziger und siebziger Jahren wird das Bild der Landschaft real, holt das Bild die Realität ein. Profanisiert, entschlackt und banalisiert: real ohne vordergründiges ideologisches Programm. Nach der grossen Diskrepanz zwischen dämonisierter Stadt-Landschaft und idealisierter Natur-Landschaft in der Fotografie, nähern sich hier die Bilder wieder an. Entpathetisiert werden sie zu verwandten Teilen ein- und desselben Systems.

Diese Fotografie wünscht sich ein Subjekt, dass sich nicht dem Staunen ergibt, sondern mitdenkt, auf die gesellschaftlichen Implikationen achtet, sie wünscht sich ein Betrachter-Subjekt als Partner im Erkundungsprozess, in der fotografischen Feldforschung.

Zwanzig Jahre lange, von Mitte der sechziger bis Mitte der achtziger Jahre, dominiert nun eine Fotografie, die "zeigen will, was da draussen der Fall ist", die ungeschminkt, möglichst neutral, fast wissenschaftlich genau hinschaut. Ihre Bilder sind gewollt sehr kühl gehalten, weil sie sich vom Humanpathos der fünfziger Jahre, von jeder Gefühlshaftigkeit absetzen wollen. Sie fotografieren im Zeichen des Konzeptualismus und des Strukturalismus, versuchen also den Strukturen, den Morphologien auf die Spur zu kommen, versuchen, der wuchernden Urbanität Typologisches, Systematisches abzugewinnen.

Diese Fotografie kann, die Haltung betreffend, auf Vorbilder zurückgreifen, die ich bisher ausgelassen habe: auf ein paar Fotografen der zwanziger und dreissiger Jahre, auf Albert Renger-Patzsch zum Beispiel, oder auf Walker Evans. Nur die Zeiten und Zeichen haben sich geändert, Landschaft wandelt sich hier insgesamt zu einer grossen, unendlichen Peripherie - von der Natur zur Peripherie, von der Prärie zur Peripherie, welch ein Wandel! (Struth, Garnell, Shore, Faure, Basilico, Sternfeld, Bustamente, Fischli/Weiss, Brohm) (Mission de la Datar)

Die vergangenen zehn, fünfzehn Jahre haben die Strukturen von Stadt und Land nochmals gründlich aufgewühlt. Wir sprachen schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Dynamisierung der Stadt, der Futurisierung. Die Veränderungen, die jetzt stattfinden, sind vielleicht noch grundsätzlicher. Nach der Eroberung des Raumes folgte die Eroberung der Zeit  - „Fahren, Fahren“, hat Paul Virilio dafür als Titel geschaffen -, nach der Eroberung der Zeit folgt die Aufhebung des Ortes - wir sind hier, arbeiten aber für dort und sind online verbunden. Was erstmals mit dem Telefon möglich war, eine ortsungebundene Kommunikation zu führen, wird nun alltäglich in Wirtschaft und Privatleben durch Fax, E-Mail und Mobiltelefon. Zentrum-Peripherie erfahren eine Drehbewegung, Zentren entleeren sich, werden umfunktioniert, Peripherie wird für die Wirtschaft zentral. Peripherie ist plötzlich überall, sie sind die "tommorrow Gegenden", lösgelöst von Geschichtlichkeit, von Bedeutung durch Gewachsenheit.

Gleichzeitig verschärft sich die Problematik des Unsichbarwerdens. Wesentliches wird unsichtbar, wird in Kabel, Blackboxes, wird in den Untergrund verlegt. Wie reagieren darauf die Fotografen, wie reagieren wir Subjekte darauf? Dazu nochmals, stellvertretend, Lewis Baltz und seine Adaption an diese neuen postindustriellen Hyperville-Verhältnisse.

Seine Adaption an die sich verändernden Verhältnisse von Mitte der achtziger Jahre an – ich nenne sie die Baltz'sche Wende - ist ein komplexer Bewegungsablauf, den ich mit Abgang rückwärts und Auffahrt mit Verneigung und halber Drehung, wie ein Helikopter beim waghalsigen Powerstart, wie eine Kamera beim wilden Travelling, anschaulich schildern will.

Abgang aus einer inneren und einer äusseren Dreiecksgeschichte: 1. hier der Fotograf, dort die Welt, da das Foto-Zeichen - schauen und zeigen, was der Fall ist, aus einer entsentimentalisierten, quasi-wissenschaftlichen Position, mit der Genauigkeit eines Landvermessers, der Kälte eines Immobilienhändlers. Zu sehen waren da in kühlen Schwarzweissfotografien die Bauten und Ruinen von heute, die Randzonen, Abfallhaufen der Gegenwart, geometrische und organische Architektur als äusseres Zeichen für Strukturen, für Macht und Zerfall. Und 2. hier der Fotograf, da das Foto und dort schliesslich der Betrachter, der anfänglich die Bildwelt und dann immer stärker den Autor anstarrte. Beides lange Zeit fruchtbare, erfolgreiche, dann auch verhängnisvolle Dreiecksgeschichten. Der geliebte Autor verliess also seine Position, beschnitt lustvoll (die Reproduktionen) seiner Ikonen und beschleunigte seinen Standpunkt.

Auffahrt, weil die modernen Verkehrswege, Kommunikationsschlaufen, die alten Standorte, die alte Topographie nicht mehr bedienten. Dieser Seh- und Denkraster der Topographen wurde zur Aussenstation, fragwürdig, weil quasi-objektiv, fragwürdig, weil quasi-aussen, fragwürdig, weil statisch, obwohl der Boden unter den Füssen längst zur Rollbahn geworden ist.

Die Antwort von Baltz sind die Generic Night Cities, die Trilogie Ronde de nuit, Docile Bodies und The Politics of Bacteria. Die Night Cities, ein- oder mehrteilige, immer grossflächige Nachtstädte, betören mit heftigen Hell-Dunkel-Mustern, mit grellen Farben, die aus dem Schwarz der Nacht hevorstechen. Sie sind ein Scheinwerferlicht­Spektakel, das ebenso fasziniert und gefällt wie auch schmerzt durch die schrille Künstlichkeit. "Landschaft" nicht mehr als ein "vor uns Liegendes", sondern als vollumfänglich kommerzialisiertes Labor, in dem wir mitten drin stecken. Die Stadt als riesiges Geviert von Passagen, ein Raster von Strassen, von Highways, auf denen wir unterwegs sind und eine Reihe von Terminals, der Parkplatz, der Häuserblock und schliesslich der Bildschirm, vor dem wir haltmachen, ohne anzukommen, ohne zuhause zu sein - um gleich wieder - elektronisch - unterwegs zu sein. Diese Nachtlandschaften, die er "generic night cities" nennt, wirken wie die Bühne eines letzten grossen Spektakels. Stadtlandschaften bei Nacht: Kein Tageslicht gibt eine klare, hierarchisierte Ordnung vor, tausend künstliche, schrille Lichter locken und weisen. Die Stadt als Parking Lot oder Fahrspur, stop and go, ein einziges urbanes Labor. Die Bilder wirken so dünn und flächig und bunt wie Schalttafeln, die Städte wirken ein wenig wie offengelegte Chips, voller Kreisläufe, eine Maschinerie von Lust und Kraft und Macht und Untergang. Ohne Tiefe, ohne Perspektive, ort- und zeitlos. (Bilder)

Die grosse Trilogie mit Ronde de nuit, Docile Bodies und The Politics of Bacteria wirkt wie drei mächtige Historiengemälde am Ende der Geschichte. Je rund 2 bis 2 Meter 50 hoch und 12 Meter lang sind sie, unterteilt in Segmente, Module. Thema ist die Überwachung, die Kontrolle, die Untersuchung. In Rondes de nuit tauchen wir aus einer Art Märchenwelt - "the forest where I lost myself" - in die Unterwelt, in das Souterrain, die Schächte und Kanäle; und am Ende des Dunkels stehen wir vor dem modernen Sternenmeer, dem blenden Lichtermeer einer City, vor Manhattan als ultimativem Firmament. Extrakte von Videoüberwachungen einer Polizeistation werden mit Bildern von Kabeln, Schläuchen und einem Grossrechner gemischt. Mit Dantes Inferno als literarischem Raunen, mit dem Verweis auf Dürrenmatts Buch Der Auftrag, in dem dieser dem cartesischen Theorem "Ich denke, also bin ich" einen zeitgenössischen Drive verpasst: Ich bin, weil ich beobachtet werde.

In Docile Bodies dringen wir - entlang von Bildern aus der Neurochirurgie - durch die äussere Schicht, die Erscheinung der Dinge, ins Innere des Körpers, in seinen Mechanismus ein. Endoskopieren des Körpers mit Überwachung am Bildschirm meint, ins Innerste des Körpers hineinsehen, den Körper an die grosse Maschine andocken, ihn in neuer Demut delegieren. Der vernetzte, angeschlossene Körper.

The Politics of Bacteria ist eine Montage aus Bildern, die in und um das neue Finanzministerium in Paris-Bercy entstanden sind. Die Werkstruktur ist symmetrisch, in der Form eines Altarbildes mit eine, rechten und linken Altar-Flügel organisiert. Zentral in der Mitte eine Überwachungssituation, links und rechts davon ein Bildgewebe mit Männern und ihren Mimiken und Gesten von Macht, breitbeiniges Stehen, Abstützen in der Hüfte, Uniformen, Helmen. Äussere Zeichen als Visualisierungen von Unsichtbarem, von Macht und Repression.

In jeder der drei Arbeiten, diesen neuen, ultimativen Landschaftsbildern, wechseln nah und fern, Detail und Totale, brillant und gerastert so hart geschnitten ab, dass der Betrachter keine Ruhe findet, keine Idealposition im Sinne der klassischen Perspektive einnehmen kann. Es sind 'gesampelte' Bilder, angeordnet zu grossen, rhythmisierten Bildblöcken, zu Wandstücken zusammenmontiert. Neue Panoramen, nicht jene des Glaubens an totale Übersicht, sondern Cine-, Endo-, Videoramen, die mit montierten Fragmenten einer fragmentierten, beschleunigten, ruhelosen und doch fundamental kontrollierten Welt entsprechen wollen.

Dazu auch ein Schweizer Beispiel: Die Fotografien von Nicolas Faure aus dem Kernforschungszentrum CERN (Centre Européen de Recherche Nucléaire) ziehen dem Betrachter den Boden unter den Füssen weg, lösen Raumperspektiven und jegliche andere Halt- und Anhaltspunkte auf. Wir 'schwimmen' orientierungslos in der Landschaft einer technoiden Welt, deren Bild anspielt auf Themen von Vernetzung, Übermittlung, Eingriff und Kontrolle. Uns wird schwindlig, weil wir fasziniert in diese Welt eintauchen und mit diesen Bildern gleichzeitig Gefühle des Sich-Verlierens, des Ausgeliefertseins verbinden. Landschaftsfotografie wird nun Zivilisationsbild, Wissenschaftsbild, Mediabild.

Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk hat formuliert: "Wenn es wahr ist, dass wir Wahrheit über die Welt nicht in dem finden, was wir in urpassiver Wahrnehmungseinstellung von ihr sehen, hören und fühlen, sondern dass wir sie jenseits der Sinnenerzeugnisse vorstellen und wie eine ontologische Geheimschrift 'lesen' müssen, dann liegt es im Wesen dieser Wahrheit, dass wir uns an ihr schwindlig denken. Wem nicht schwindlig ist, der ist nicht informiert."

Wem nicht schwindlig ist, der ist nicht informiert - und wer nicht heftigst mit der Welt in Bewegung ist, dem, diesem Subjekt, wird laufend schwindlig. Das Wesen der heutigen Welt ist wohl nur in Bewegung adequät erlebbar und auch begreifbar. Doch wohin sollen wir schauen? Was wird die Landschaft von morgen sein? Wird sie sich gänzlich unserer Vorstellung von Landschaft entziehen? Eine Cyber-Landschaft, mit virtuellen Knoten, aber ohne Ortsbild, ohne Stadtzentrum? Und wer schaut? Welches Subjekt? Wer werden wir sein? Fleischliche Cyborgs in Scanscapes?

Wohin Fotografen und Fotografinnen in diesen Jahren schauen, was sie als ultimative Landschaften begreifen, lasse ich jetzt – pars pro toto - wie ein kleiner Reigen vor Ihren Augen vorbeiziehen. Es wird kein Panorama ergeben, weil die Zeit der Uebersicht vorbei ist, es wird vielmehr ein Mosaik sein, auf dem sie mithüpfen können, wie im berühmten Kinderspiel "Himmel und Hölle".

Also, Sie sehen zum Schluss in Kurzfassung Arakis Inkarnation der Stadt als weiblicher Körper, eine alte surealistische Idee, japanisch und radikal wiederbelebt;

Andreas Gurskys Architekturen und Innenräume und Menschenlandschaften als geometrisierter Ausdruck von Raum, Verkehr und Macht,;

Thomas Bayrles endzeitlich geordnete und entleerte Stadtbilder, Stadtbilder, die zu Strukturbilder werden;

Florian Schwinges Autobahnstrukturen und - Abstraktinen;

Karlin Appolonia Müllers Los Angeles-Bild als Mediastadt;

Edgar Cleijne und seine Luftbilder von Lagos, die Urbanistiker wie Rem Koolhaas als Modelle studieren;

Dan Holdsworth und Miles Coolidge Totalreduktionen;

Aglaia Konrads und Kanemuras Eintauchen in das Monster 'gebaute Welt', in das unbewältigte Problem der Massen, an dem jede Qualitätsvorstellung scheitert;

Ruji Myiamotos Architekturkollapse;

Anthony Hernandez Bilder von Homes der Obdachlosen in LA;

Massimo Vitalis Menschenlandschaftsbilder;

Joachim Brohms kleine, delikate Fotografien über Freizeitbeschäftigung;

Philip Lorca di Corcias Stadtbilder;

Olivo Barbieris Verwandlungen von Realarchtiektur in Palermo und Milano in Modelle, in virtuelle Realitäten,

Joachim Brohms Baustellenbilder;

Claudio Mosers Hindernisse des zeitgenössischen Flaneurs

Frank Thiels Fassadenmodelle als Thema des Vorblendens,

Bernard Voïtas Konstruktionen von Architektur und Urbanität, mit dem Geschmack von Realität;

Heidi Speckers Wandel von realer Architektur zu Cyberarchitektur;

Kitajimas Sterlisierung von Toyko und Horishima,

Marc Räders Bild der postindustriellen Lebensorganisation ,

des berühmten Architekten Rem Kohlhaas' Ueberblendungen von Bild und Text, von realer Stadt und Begriffen

Matt Mullicans virtuelle Stadtmodelle,

Hans Danusers monochrome Eislandschaften, Landschaften, die in der Forschung entstehen oder erzeugt werden,

und Günther Selichars neue, monochrome Landschaften, die kalten Screens, die Tore zur Cyberwelt, die selbstleuchtenden Schirme, die geräuschlos und technologisch kühl das Raumgefühl und den Ordnungssinn aufstören und sie dann zu einer Scheibe plattdrückt.

Weitere Beispiele wären auch Jörg Sasses und Rémy Markowitsch‘ Landschaftskonstruktionen oder Fischli/Weiss Blumen- und Pilzzüchtungen.

Petrarca ist auf den Berg gestiegen, neue aktuelle Landschaftsfotografie geht häufiger in den Untergrund, verliert sich an chaotischen Un-Orten, Nicht-Orten, thematisiert Schaltstellen im gesellschaftlichen Gefüge. Taucht sie wieder auf, und zwar nicht gerade mitten auf einer Kreuzung in Manhattan, dann sucht sie sich auch die Ruhe, nicht die gefüllte, sinnige, bedeutungsträchtige, sondern die Leere, den einfachen Haiku - dann ist die abendländische, einst christlich geprägte 'Schilderei' (Bildnerei) buddhistisch angehaucht, wie die Beispiele von Sugimoto und Axel Hütte zeigen.