2018

Von der Ungeduld, der Neugier und dem Potenzial der Schnittstellen
Urs Stahel im Gespräch mit Nadine Wietlisbach

English Version: On Impatience, Curiosity and Photography as a Bastard →
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Nadine Wietlisbach: Was mit Robert Frank, einem Streit in der Romandie und einer Gruppe von Machern begann, ist heute die 25-jährige Geschichte des Fotomuseum Winterthur. 1987 präsentierte das Musée de l’Elysée eine Retrospektive von Robert Frank. George Reinhart hatte sich gemeinsam mit Walter Keller in den Kopf gesetzt, die Fotografien aus der Ausstellung in der Schweiz zu behalten. Nachdem sich Robert Frank mit dem Direktor des Musée de l’Elysée überworfen hatte, spitzte sich die Situation zu. George Reinhart bemühte sich, eine Gruppe von Leuten zu mobilisieren, um die Fotografien anzukaufen und irgendwo in der Schweiz zu platzieren. Bildet diese Anekdote das Initialmoment des Fotomuseum Winterthur?

Urs Stahel: Wir sassen im Sommer 1990 im Büro von Walter Keller an der Quellenstrasse 27 erstmals zusammen. Gemeinsam mit Martin Heller hatte ich im Juni desselben Jahres die Ausstellung Wichtige Bilder am Zürcher Museum für Gestaltung entwickelt. Zuerst gab es ein dreiseitiges Konzeptpapier mit ersten Ideen zu einem Fotomuseum, welches Walter Keller ein paar Monate zuvor geschrieben, mit Andreas und vor allem mit George Reinhart diskutiert und dann mit mir geteilt hatte. Wir sassen zusammen und fingen an, die Idee eines Fotomuseums zu entwickeln. Einige Entwicklungsstufen später haben sie mich gefragt, ob ich dieses Fotomuseum leiten würde.

Kannst du umreissen, wie sich die Konzeptphase gestaltete, besonders im Hinblick auf die Architektur?

Während der Konzeptions- und Planungsphase standen verschiedene Konzepte im Raum. Zuerst stand das Rundgebäude der Gebrüder Volkart, der heutige Sitz der ZHAW, zur Diskussion. Die Villa Corti im Villenviertel von Winterthur war auch eine Option. Für jeden Ort habe ich ein neues, auf das jeweilige Gebäude zugeschnittenes Konzept verfasst. Wir wussten auch, dass die Firma Volkart an die Turnerstrasse zieht, und konnten uns vorstellen, diese Option aufgrund der Nähe zum Bahnhof in Erwägung zu ziehen. Irgendwann wurde jedoch klar, dass diese Szenarien bis zur Realisierung alle etwa drei Jahre in Anspruch nehmen würden.

Eigentlich keine lange Zeit, wenn man bedenkt, wie lange heute zwischen der Initialzündung und einem Spatenstich vergehen kann. Ihr wart ganz schön ungeduldig!

Ich war mir sicher, dass wir jetzt die Energie dafür haben. Wir waren drei Leute, wir hatten die Idee, der Bedarf war ausgewiesen und ich wusste, dass nach drei Jahren alles wieder ganz anders aussehen würde. Andreas Reinhart erzählte dann von dem Gebäude, das er an der Grüzenstrasse in Winterthur gekauft hatte, um dort ein Kulturzentrum, die «Kultursagi», zu etablieren. Anfangs war es beispielsweise ein Probeort für Tanzschaffende. 1991 hatte er darin bereits eine Ausstellung mit Richard Avedon gemacht, mit den 15 Werken aus der Serie In the American West, die er von Kaspar M. Fleischmann erstanden hatte. Richard Avedon war bei der Eröffnung vor Ort; die Leute sassen rauchend auf dem Boden, es war ein Fest. Ich sah mir das Gebäude an und wusste: Wenn wir es erstmal nur temporär beziehen, müssen wir etwa 300 000 Schweizer Franken investieren. In dieser halb ausgeräumten ehemaligen Schreinerei, deren Ursprungsgebäude um 1870 herum gebaut worden war und in der zuvor die Elastikwäschefabrik Ganzoni war, konnte man ohne Investition keine vernünftigen Ausstellungen machen. So viel Geld in ein Provisorium zu investieren, erschien mir ein Wahnsinn. Am Ende entschieden wir uns für dieses Fabrikgebäude als dauerhaften Sitz des Fotomuseums, und nach einer relativ zügigen Umbauphase konnten wir am 29. Januar 1993 die Türen des Fotomuseum Winterthur an der Grüzenstrasse 44 öffnen.

Du warst Gründungsmitglied der Kunsthalle Zürich. Diente die Kunsthalle als Modell für das Museum?

Architektonisch ja. Nach meiner Reise durch die USA wusste ich, dass es zentral war, die Fotografie zeitgenössisch zu betrachten, sie ja nicht wie ein Salonstück des 19. Jahrhunderts zu behandeln. Die Kunsthalle befand sich ja ursprünglich wie das Fotomuseum in einer Fabrik. Inhaltlich hingegen war die Kunsthalle kein Modell. Es war extrem wichtig, sich den Ort anders als eine Kunsthalle für Fotografie vorzustellen. Wenn man eine Kunsthalle eröffnet, dann bewegt man sich automatisch im zeitgenössischen Kunstbereich. Wenn man sich dann auf das Medium Fotografie beschränkt, dann führt das in eine Sackgasse. Es war für mich deshalb von Anfang an extrem wichtig, die Fotografie in ihrer ganzen Bandbreite zu betrachten, sie aufzufächern. Stell dir ein langes ausgestrecktes Seil vor. An einem Ende findest du das reine Dokument, die Abbildung der Realität, am anderen Ende das autonome Bild, das auch mit Fotografie gemacht wurde, das sich aber als Werk, als Kunstwerk, eben als autonomes Bild versteht. Zwischen diesen zwei Polen kann man sich spielend hin- und herbewegen – ich habe es schon immer geliebt, gedanklich die ganze Bandbreite dieser Schiene zu bespielen. Und heute wissen wir, dass dieses ausgestreckte Seil in ein dichtes, verzweigtes Mediennetz eingebunden ist. Mich haben immer beide Seiten extrem interessiert: sowohl die individuelle Reibung des Künstlers an der Wirklichkeit und seine Reflexion darüber als auch jene Arten der Fotografie, die vielleicht absichtslos, für einen privaten Zweck oder in einem bestimmten Auftragsverhältnis gemacht wurden; von Leuten, deren Namen vielleicht gar nicht mehr wichtig sind, die aber zu einer visuellen Soziologie der Gesellschaft beitragen. Befasst man sich nur mit Fotografie, die im Kunstkontext wahrgenommen wird, dann wird es eng.  

Diese beiden Pole waren auch entscheidend bei der Frage, ob es sich überhaupt lohnt – ob es richtig ist – ein Museum für Fotografie in genau jener Zeit in die Welt zu setzen, in der alle zeitgenössischen Kunstmuseen damit beginnen, Fotografie zu zeigen. Es gab einen Boom: Fotografie hielt Einzug ins Museum und wurde vom Markt entdeckt. Museen fingen an, sie zu sammeln und auszustellen. An der Art Basel hatten die Galerien alle einen Fotografen im Programm. Was dort gezeigt wird, ist aber nur ein Promille der fotografischen Produktion dieser Welt. Erst in der ganzen Vielfalt kann ein Fotomuseum lebendig sein, kann es eine ganz bestimmte wichtige Rolle in der Auseinandersetzung mit der Welt und seinen Medien spielen.

Trotzdem habt ihr über die Frage, ob es eine Halle – ähnlich den damaligen Hallen für Neue Kunst in Schaffhausen – oder ein Museum für Fotografie werden soll, intensiv diskutiert. Ihr kamt zu dem Schluss, dass es noch keine adäquate Sammlung für Fotografie in der Schweiz gibt, weil sich die Kunstmuseen damals noch nicht oder nicht ausreichend darum gekümmert haben.

Das stimmt. Und spezifischer gab es die Schweizerische Stiftung für die Photographie, 1971 gegründet, mit Sitz im Kunsthaus Zürich, die sich jedoch fast ausschliesslich auf Schweizer Fotografie konzentrierte. Das Musée de l’Elysée in Lausanne, das 1985 von Charles-Henri Favrod gegründet wurde, beschäftigte sich sehr lange praktisch nur mit Reportagefotografie. Sonst gab es kaum etwas. Das Kunsthaus Zürich selbst hat bis heute ein Problem mit dem Thema Fotografie. Wir waren deshalb überzeugt, dass es Sinn macht, eine Institution aufzubauen, deren erster und primärer Zweck es sein sollte, ein zentraler und möglichst attraktiver zeitgenössischer Auseinandersetzungsort für das Thema Fotografie zu sein, der aber zugleich schrittweise eine Sammlung, eine internationale Sammlung aufbauen sollte – obwohl wir uns schnell einig waren, dass wir das zu Beginn nicht aktiv tun konnten. Wir waren zu Beginn zweieinhalb Leute und mussten entsprechend erstmal unsere Energie darauf verwenden, die Institution auf die Beine zu stellen und zum Laufen zu bringen. Trotzdem konnten wir bereits nach fünf, respektive fünfeinhalb Jahren – bei der Ausstellung 5,5 – viele Sammlungswerke ausstellen, die zu einem guten Teil auf grosszügige Schenkungen zurückgingen.

Ihr habt euch in Bezug auf die zeitliche Ausrichtung der Sammlung klar positioniert. Wie kam es zu diesem Entscheid?

Durch Andreas Reinharts Verbindung zu Kaspar M. Fleischmann und seiner Galerie zur Stockeregg hat uns Anfang der 1990er-Jahre der kanadische Sammler Frank Kolodny dreissig, vierzig zentrale Werke aus den 1920er- und 1930er Jahren zum Verkauf angeboten. Wir waren also mit der Frage konfrontiert, ob dies für uns interessant sein könnte und ob jemand bereit wäre, das notwendige Geld dafür aufzubringen. Zu dieser Zeit waren die Preise für Fotografie noch relativ niedrig, aber es ging hier dennoch sicher um eine halbe Million Schweizer Franken. Ich habe dann vorgeschlagen, dass wir mit der Sammlung erst um 1960 einsetzen sollten. Ich wollte vermeiden, rückwirkend zu sammeln – es erschien mir nicht sinnvoll, die gesamte Fotogeschichte abzudecken und über eine Sammlung von 1839 bis heute zu verfügen. Dafür waren wir sowieso zu spät dran. Mit einer zeitgenössischen Sammlung und Rückgriffen bis 1960 konnten wir uns hingegen weit besser profilieren. Wir konnten auch in die Tiefe und Breite sammeln, statt nur einzelne rare Stücke zu erwerben. Schritt für Schritt wollten wir die wichtigsten Positionen der Gegenwart ankaufen, und zwar – wenn immer möglich – in Werkgruppen, in der Reihe von Fotografien, um die Sprache des Fotografen zu repräsentieren, und nicht bloss in Einzelbildern. Die 1960er-Jahre bilden zudem eine Zäsur, in der sich das Verständnis der Fotografie stark zu ändern anfing.

Die ersten Archivnummern in unserer Sammlung sind Arbeiten von Paul Graham.

Die erste Ausstellung haben wir mit Paul Graham gemacht und daraus haben wir ein Triptychon und ein Diptychon angekauft. Das sind sicher die ersten Ankäufe. Von George Reinhart haben wir einige Robert Franks geschenkt bekommen. Die Werke von Richard Avedon kamen etwas später über Andreas Reinhart in die Sammlung des Fotomuseums, im Wesentlichen aber als Depositum, als Dauerleihgabe. In einem programmatischen Text zur Sammlungspolitik, für uns und zuhanden des Stiftungsrats, habe ich die Vorstellung formuliert, dass wir einerseits die wichtigsten Positionen der Fotografie seit 1960 spiegeln wollen, und dass wir andererseits mit der Sammlung die Chronik der Ausstellungen begleiten wollen. Nur so ist es möglich, eine Sammlung aufzubauen, die sich von anderen Sammlungen unterscheidet. Nach zehn Jahren haben wir gemerkt, dass wir eine starke Linie im Bereich der konzeptualisierten Dokumentarfotografie hatten – von Lewis Baltz über Paul Graham und darüber hinaus –, dass jedoch der Einstieg der Fotografie in die Kunst, also die ganze Konzeptualisierung der Fotografie in der Kunst, eher dünn vertreten war, mit lediglich ein, zwei Werken und ein paar Ephemera. Mit dem für uns gewichtigen Ankauf der Jedermann Collection konnten wir das teilweise wettmachen.

Wirft man von aussen einen Blick auf die Sammlung, stellt man fest, dass sie etwas Eklektisches hat, das der spannungsreichen Ausstellungsgeschichte des Museums entspricht. Man nimmt dein Interesse am Menschlichen, an der sozialen Interaktion, an den sehr klaren visuellen Entscheidungen wahr – und es gibt starke konzeptuelle Arbeiten. Das Fotomuseum Winterthur wurde auch mit aussergewöhnlichen thematischen Ausstellungen weltbekannt, wie Industriebild zum Beispiel, Trade, Im Rausch der Dinge, Darkside I + II. Thematische Ausstellungen fordern heraus: Sie lassen eine grössere Vielschichtigkeit zu und ermöglichen Reflexionen von Wirklichkeiten, von gesellschaftlichen Situationen.

Was du als eklektisch wahrnimmst, könnte man auch als Offenheit bezeichnen. Ich kam nicht aus einer bestimmten Ecke der Fotografie, ich hatte mich nie auf einen bestimmten Pfad begeben, ausser jenen der Qualität, der Dichte, der Wichtigkeit von Arbeiten. Das hängt vermutlich mit meinem Hintergrund zusammen. Ich habe Germanistik, Geschichte und Philosophie studiert. Also weder Kunst noch Fotografie; Letztere konnte man damals im Übrigen noch gar nicht studieren. Ich bin somit ein Quereinsteiger. Zu Beginn fand ich das oft mühsam, weil ich von aussen kam, mir den Zugang erarbeiten musste. Ich stamme aus einer Arbeiterfamilie, und so war auch der Einstieg in die Welt der Universität nicht ganz einfach. Rückblickend nehme ich dies jedoch als echte Chance wahr, auch, dass ich nach einem mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasium ein geisteswissenschaftliches Studium gewählt habe. Von Anfang an war ich in der Fotoszene der 1980er-Jahre ein etwas seltsames Wesen, eine Art Enfant terrible. Dies äusserte sich auch in der Art, wie ich über Kunst und Fotografie schrieb. Als ich die Ausstellung Wichtige Bilder kuratierte, wurde ich von den Künstlern angegriffen, weil ich die Dokumentarfotografen mit in die Ausstellung aufnahm. Gleichzeitig meinten die Dokumentarfotografen zu mir, was denn die arroganten Künstler in der Ausstellung zu suchen hätten. Ich sass also in einer Art Kunst-Fotografie-Graben fest und stand damit mit Ausnahme von Walter Keller oder Martin Heller relativ alleine da, weil ich immer beide Seiten gerne mochte, nichts grundsätzlich ausschliessen wollte. Mich interessiert es nicht, ob sich jemand Künstler oder Fotograf nennt, solange die Arbeit interessant ist. Mit dieser Ansicht war ich jedoch lange alleine.

Dieser Hintergrund nährte sicher mein Interesse, mich neben dem Vorstellen von Einzelfiguren oder Gruppen auch an Themen heranzuwagen. Ich wollte das Fotomuseum Winterthur einerseits mit starken, zentralen, wichtigen Einzelpräsentationen und andererseits mit thematischen Ausstellungen profilieren. Allerdings brauchen grosse thematische Ausstellungen in der Regel zwei Jahre Vorbereitung, während eine Einzelausstellung, wenn wir es sehr eilig hatten, auch mal in zwei Monaten umsetzbar war. Nach Im Rausch der Dinge beispielsweise gab es eine grössere Pause, weil Thomas Seelig und ich von dieser Ausstellung schlicht erschöpft waren. Bei zirka 170 unterschiedlichen Leihgaben aus aller Welt brummt und bebt das Museum; ein kleines Team kommt dann doch an seine Grenzen.

Inwiefern stehen deine Leidenschaft und dein Interesse für bestimmte Themen, die sich in den Ausstellungen manifestiert haben, in einem Zusammenhang mit der Sammlungstätigkeit?

Aus heutiger Sicht würde ich diese Frage so beantworten: Das wenige Geld, das wir zur Verfügung hatten, konnten wir nicht für unbekannte und teilweise anonyme Bilder ausgeben. Wir mussten ein paar Kriterien klar definieren, und deshalb haben wir uns auf Autorinnen und Autoren beschränkt. Sammeln ist sowieso etwas ganz anderes als ausstellen. Der Entscheid, etwas anzukaufen, ist von weit grösserer Tragweite, als ein Werk auszustellen. Entsprechend sind die thematischen Ausstellungen viel weniger in der Sammlung repräsentiert als Werkgruppen von einzelnen Fotografen oder Künstlern, wie Hans Danuser, Robert Frank, Nan Goldin und so weiter. Das Sammeln und Ankaufen von Gebrauchsfotografie, von anonymer Fotografie lerne ich gerade jetzt in der Fondazione MAST in Bologna. Hier gibt es einen klaren Fokus auf die Themen Industrie und Arbeit. Das Sammeln von Fotografie in diesem Bereich ist aber nur dann interessant, wenn man sich breit umschaut, wenn man auf der einen Seite die Fotografie des anonymen Fabrik- und Auftragsfotografen sieht, der immer die Ideologie des Besitzers wiedergibt, auf der anderen Seite dann jene des sozialdokumentarischen Fotografen, der in dieselbe Fabrik geht und seinen Blick auf den Schmutz und die schlechten Arbeitsbedingungen richtet. Hinzu kommt schliesslich der Künstler, der eine Drohne über derselben Fabrik kreisen lässt und eine Arbeit mit Videos über das Thema Industrie und Gesellschaft oder Industrie im Rahmen der Stadterweiterung entwickelt. Gerade dann, wenn ein Fokus sehr eng gesteckt ist – wie im Fall des MAST Bologna auf Industrie und Arbeit –, muss man die Sammlung öffnen und von anonymen Fotografen über die berühmten Industriefotografen bis in die Kunst hinein sammeln. Bis heute ist das Interesse an dieser Produktionswelt und ihrer Bilder noch immer gering, sodass die Fotografien an Auktionen zu entsprechend tiefen Preisen gehandelt werden.

Es gibt einen Teil der Sammlung, auf den internationale Institutionen mit einem neidischen Auge schielen. Kannst du mir die fabelhafte Geschichte der Jedermann Collection erzählen, die 2005/2006 für die Sammlung erstanden wurde?

Ich kenne nicht die ganze recht lange Vorgeschichte dieses Verkaufs, der übrigens nur ein Teilverkauf war. Die Jedermann Collection war noch viel grösser und man hätte auch danach noch weitere Werke kaufen können, uns fehlten jedoch die Mittel. Wir waren nicht die Ersten, die ein Angebot erhielten, aber es war dann doch aussergewöhnlich, dass wir es damals in einem gemeinsamen Effort geschafft haben, die nötigen Mittel aufzutreiben – die Stiftungsratsmitglieder unter dem Präsidium von Thomas Koerfer trugen einen wesentlichen Teil dazu bei. Ulrich Gebauer, Galerist aus Berlin, meldete sich eines Tages bei mir und erzählte, dass ein amerikanischer Sammler seine Sammlung konzeptueller Fotografie veräussern wolle. Wie bereits gesagt wies unsere Sammlung zu diesem Zeitpunkt eine Lücke auf: Wir hatten kaum Werke von Kunstschaffenden, die Fotografie als künstlerisches Ausdrucksmittel verwendeten. Und meiner Meinung nach musste dies, wenn man die Sammlung ab den 1960er-Jahren beginnt, korrigiert werden. Ich weiss noch, dass Thomas Seelig damals neu im Fotomuseum war und damit begonnen hatte, auch Ephemera für die Sammlung vorzuschlagen, Plakate, Broschüren und so weiter. Thomas reiste nach New York, um sich die Werke anzuschauen – man kann ja nicht einfach zwei Millionen blind ausgeben. Und schliesslich haben wir unser Interesse bekundet. Die Offerte hatte allerdings eine Zeitlimite, und so gingen wir sehr intensiv auf die Suche nach Geld. Und wir haben es geschafft. Dies war ein entscheidender Moment für die Sammlung des Fotomuseums Winterthur, des FMWs, wie wir manchmal sagten.

Du hast Lewis Baltz erwähnt – eine wichtige Figur. Allgemein natürlich, aber vor allem auch für dich und die Geschichte des Fotomuseums, oder?

Möchte man eine Schweizer und eine internationale Figur herausgreifen, die für das Museum wichtig sind, dann sind das für mich Hans Danuser und Lewis Baltz. Bei Hans Danuser kann man gleich wieder etwas über die Sammlung sagen. George Reinhart hat über Jahre dessen Arbeiten gekauft und diese der Sammlung als Schenkungen übergeben. Deshalb hat das Fotomuseum eine der grossartigsten Sammlungen von Danuser. Die Arbeit In Vivo finde ich bis heute erstklassig. Ich verstehe nicht, wieso Hans Danuser damit nicht weltberühmt geworden ist. Wäre er Amerikaner und würde in New York gehandelt, dann wäre er es.

Die vierte von fünf Ausstellungen im ersten Jahr war Lewis Baltz: Regel ohne Ausnahme. Wir haben mit Paul Graham begonnen, parallel dazu haben wir Illegale Kamera gezeigt, dann William Eggleston, im Sommer Real Stories – Reales Geschehen in zwölf neuen Formen erzählt und dokumentiert, eine von Jan-Erik Lundström, dem damaligen Leiter der Fotoabteilung am Moderna Museet in Stockholm kuratierte Ausstellung, die wir übernommen hatten. Lewis Baltz war für mich damals schon eine wichtige Figur, zentral wurde er für mich aber, als wir uns begegneten. Wir wurden Freunde, er wurde für mich zu einem wichtigen Gesprächspartner und ich habe sehr viel von ihm gelernt. Baltz und Danuser sind zwei ganz zentrale Figuren, welche zu Beginn eine wichtige Rolle gespielt haben. Später wurden dann Nan Goldin, Roni Horn und viele weitere wichtig.

Denkt man über das Sammeln nach, und das finde ich äusserst zentral, spricht man vom «Reichtum» einer Sammlung. Es ist auch ein grosses Glück, dass man so viele Schätze hat, mit denen man arbeiten kann, die man immer wieder hervorholen, neu kontextualisieren, zur Diskussion stellen kann. Ich, die ich neu bin am Haus, empfinde es als Reichtum und als Herausforderung. Sicher gibt es aus deiner Perspektive auch die Auslassungen; Arbeiten, die man aus irgendeinem Grund nicht anschaffen konnte, oder Figuren, die man aus einem bestimmten Grund nicht gezeigt hat. Gibt es bei dir einen solchen Phantomschmerz, wenn du zurückdenkst? Etwas, bei dem du dachtest, da hätte man die Sammlung noch ausbauen sollen, aber es war aus verschiedenen Gründen nicht möglich?

Irgendwann erfuhr ich, wie sehr Jeff Wall offenbar auch das Fotomuseum im Blick hatte. Nach einer Ausstellung im Kunstmuseum Luzern 1993 konnte man ihn in der Schweiz für die nächsten vier oder fünf Jahre nicht mehr zeigen. Ich hätte sehr gerne eine Ausstellung mit ihm gemacht, dieser so wichtigen Figur, von der ich ein rasender Fan war. Könnte ich etwas an der Geschichte des Fotomuseums der letzten 25 Jahre ändern, würde ich unbedingt eine Jeff-Wall-Ausstellung mit einschliessen. Hätte man eine Zusammenarbeit mit ihm geschafft, wäre es auch möglich gewesen, eine Finanzierung auf die Beine zu stellen, um ein grosses Werk von ihm für die Sammlung zu erhalten. Damals waren seine Werke extrem teuer, viel teurer als andere zeitgenössische Fotografie. Das kostete dann schnell mal eine halbe Million US-Dollar. Dass dies nicht stattgefunden hat, finde ich äusserst schade.

Bei fünf bis sechs Ausstellungen im Jahr besteht die Auswahl erst einmal aus extrem vielen Auslassungen; man wählt schlussendlich nur einen Bruchteil der gegenwärtigen und vergangenen Produktion von Fotografie aus. Umso wichtiger war es, dass das, was man ausgewählt hat, einen Sinn ergab, dass das Werk etwas Zentrales vermitteln konnte. Und daran würde ich nichts ändern, wenn ich zurückschaue. Es gibt kaum eine Ausstellung, von der ich denke, dass sie misslungen ist. Und es gibt kaum eine Figur, die ich weglassen würde. Es gibt Fotografen, die heute nicht mehr so wichtig sind, deren Ausstellung damals aber spannend und relevant war. Jean-Louis Garnell ist fast ganz aus der Szene verschwunden, Henry Bond hat seine künstlerische Laufbahn beendet und arbeitet nun als Wissenschaftler. An den Setzungen würde ich nichts ändern, aber daneben gibt es vieles, was wir nicht geschafft haben oder nicht machen konnten, etwa weil etwas bereits in der Nähe ausgestellt wurde oder man einfach nicht dazu kam oder etwa aufgrund der finanziellen Voraussetzungen nicht die Möglichkeit hatte. Wenn man beginnt, über Auslassungen zu sprechen, öffnet sich natürlich ein riesiges Feld.

Zwei Jahre nach deinem Weggang vom Fotomuseum Winterthur hast du in einem Gespräch mit Martin Jaeggi erzählt, dass du dich künftig auf Projekte in Kammermusik-Dimensionen eingestellt hättest. Stattdessen hast du dich aber in sinfonieartige Strukturen gestürzt, damals mit der Biennale in Ludwigshafen, Mannheim und Heidelberg. Sieben Museen, eine Ausstellungsfläche von viertausend Quadratmeter, 7 Orte – 7 prekäre Felder. Nun ist etwas Zeit vergangen, du bist nach wie vor in der Fondazione MAST in Bologna beschäftigt. Du befandest dich in diesem langen Arbeitsleben zweimal in der Position, einen leeren Speicher vorzufinden und Weichen stellen zu können. Was hat sich im Vergleich zu vor 25 Jahren an deiner Situation geändert, vor allem auch in Bezug auf deinen kuratorischen Habitus?

Ich habe die Kunsthalle Zürich mitbegründet, das Fotomuseum mitbegründet. Und ja, ich kann vorsichtig sagen, das MAST in einer kleinen Weise mitbegründet zu haben. Jedenfalls war ich früh bei der Planung mit dabei, und es gibt Strukturen im Bereich Fotografie, die aufgrund meiner Ideen entstanden sind. Schon im Vorfeld wurde ich angefragt, eine Art Berater zu sein. Die Sammlung im MAST fing ich bei null an. Ich habe nun 15 Ausstellungen gemacht und sie zu realisieren wird immer anspruchsvoller und aufwendiger, denn das Thema bleibt immer dasselbe – Industrie und Arbeit – und die einfachen Ausstellungen habe ich zu Beginn aus dem Ärmel geschüttelt. Meine Konzentration auf Bologna wird grösser und grösser. Mein kuratorischer Habitus? Ich werde in gewisser Weise freier, frecher, offener in der Art, wie ich mit Fotografie in Räumen umgehe, trotz des einschränkenden Themenfelds.

Woran ich nach wie vor glaube, ist, dass in dieser gigantischen, reichhaltigen, vollen Welt, in der wir leben, Projekte nur dann eine Chance haben, wenn man sie sich richtiggehend erkämpft und prägt. Das muss nicht immer als Einzelfigur sein, das kann auch als Gruppe sein, wenn darin jeder die volle Verantwortung übernimmt. Ich war immer eher eine Einzelfigur. Ich hatte natürlich das Team vom Fotomuseum, aber in meiner kuratorischen Tätigkeit war ich ein Einzelkämpfer; später dann zeitweise ein Duo mit Thomas Seelig. Und nun bin ich wieder solo unterwegs, wenn auch nicht ganz freiwillig, weil das MAST vorläufig nicht wirklich eine Teambildung zulässt. Aber ich hoffe dennoch, dass ich endlich Zeit finde, mich hinzusetzen, um die zwei, drei Bücher, die mir im Kopf herumschwirren, schreiben zu können. Dafür muss ich aber erst mal das Tempo etwas runterfahren.

 

Urs Stahel ist Gründungsdirektor des Fotomuseum Winterthur und leitete das Haus an der Grüzenstrasse 44 (und 45) zwanzig Jahre lang.