Mai 2013  /  Photography Vol. 3 (Skira, Milano)

Von der Wahrheit zur Wahrhaftigkeit (und vom Pathos zum System)
Die Evolution des Dokumentarischen von 1950 bis 1980

English Version: From Truth to Truthfulness (and from Pathos to System) →
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Das berühmteste Fotoereignis der fünfziger Jahre war zweifellos die Ausstellung The Family of Man. Von Edward Steichen 1955 für das Museum of Modern Art in New York eingerichtet, reiste sie jahrelang durch Dutzende von Museen auf der ganzen Welt. Über 9 Millionen Menschen hatten sie schliesslich besucht, 2003 wurde sie in das Weltdokumentenerbe der UNESCO Memory of the World aufgenommen. 503 Aufnah­men von 273 Fotografen aus 68 Ländern sollten nach dem Zweiten Weltkrieg mithelfen, eine bessere Welt zu schaffen und das Verständnis zwischen den Menschen zu fördern, mit Themen wie Liebe, Glaube, Geburt, Arbeit, Familie, Kinder, Krieg und Frie­den. Ein gigantisches humanistisches und demokratisches Bildprojekt, das höchst erfolgreich war. Dennoch darf bezweifelt werden, ob es geeignet war, dabei zu helfen, den unglaublichen Schrecken, Schmerz, Verlust, die Tragödie des Zweiten Weltkrieges zu überwinden.

Roland Barthes hatte damals die Grundstruktur der Ausstellung und das darin gespiegelte Weltbild kritisiert: „Der Mythos von der conditio humana stützt sich auf eine sehr alte Mystifikation, die seit jeher darin besteht, auf den Grund der Geschichte die Natur zu setzen.“1 Er sah diesen Mythos in den Fotografien und weisen Sprichwörtern realisiert, die die Ausstellung begleiteten. „Hier zielt alles, Bildinhalt und Bildwirkung sowie die sie rechtfertigende Erklärung darauf ab, das determinierende Gewicht der Geschichte aufzuheben.“2 Er forderte schliesslich, ein fortschrittlicher Humanismus müsse diesen „alten Betrug“ umkehren, das heisst, die Natur und ihre Gesetzmässig­keiten „unaufhörlich aufreissen“, um endlich die Natur selbst als historisch zu setzen. Barthes griff dann das Thema „Geburt und Tod“ in der Ausstellung auf, und konstatierte: „Geburt und Tod? Wenn man ihnen die Geschichte entzieht, gibt es nichts mehr darüber zu sagen, dann wird der Kommentar rein tautologisch. […] Dass das Kind unter guten Dingen oder schlechten Bedingungen geboren wird, dass es seine Mutter Schmerzen kostet oder nicht, dass es von Sterblichkeit betroffen ist oder nicht, dass es zu dieser oder jener Form der Zukunft Zugang hat, davon müssten die Ausstellungen zu uns sprechen, und nicht von einer ewigen Lyrik der Geburt.“3

Diese Kritik folgte vier, fünf Jahre nach Theodor W. Adornos viel diskutiertem Funda­mentalstatement, man könne nach Auschwitz nicht mehr dichten, ja, es sei barbarisch, es zu tun.4 Eine Aussage, die Adorno nachjustiert hat, um ergänzend festzustellen: „Den Satz, nach Auschwitz noch Lyrik zu schreiben, sei barbarisch, möchte ich nicht mildern; negativ ist darin der Impuls ausgesprochen, der die engagierte Dichtung beseelt.“5 Von regionalerer Bedeutung ist die Kritik des Direktors des Kunstmuseums Basel an der Schweizer Fotografie. In der Sondernummer Photo 49 der Zeitschrift Publicité et Arts Graphiques von 1949 stellt Georg Schmidt fest: „Es ist der schweizerischen Form der ‚Neuen Fotografie̒ sogar gelungen, die Photographie, dieses vorzüglichste Instrument der Wahrheit, umzubiegen in eine Instrument der Verhüllung der Wahrheit, in ein Instrument der Schönfärberei mit den allersachlichsten Mitteln.“6 Die Problematik der einzelnen Statements steht hier nicht zur Debatte. Jedenfalls gründet auch die Kritik von Georg Schmidt auf der Erfahrung, dass sich etwas grund­sätzlich geändert, sich die Vorzeichen, die Grundbedingungen des Lebens durch den Zweiten Weltkrieg so radikal verschoben haben, dass es neue Sprachen, neue Bilder braucht, neue Absichten, Haltungen, neue Intensitäten auch, um dieser grundlegenden Veränderung der Welt gerecht zu werden. 

Der unfassbare Schrecken des Zweiten Weltkrieges war zu gross: Man konnte nicht weitermachen, als sei nichts geschehen, nicht mit den gleichen Mitteln weiterwerkeln wie bisher – selbst wenn die Gesellschaften, ihre Institutionen, auch die Trägheit in uns Menschen mit aller Kraft versuchten, zum „courant normal“ zurückzukehren, sich in alter Form wieder zu installieren und zu festigen. Zu sehr hatte der Zweite Weltkrieg zumindest in jenen Ländern, die direkt von ihm betroffen waren, den Einzelnen auf sich selbst zurückgeworfen. Der Glaube an den Staat, an die Institutionen, die Kirche, die verschiedenen moralischen und juristischen Instanzen hatte eine tiefe Erschütterung, das Freudsche Über-Ich eine Verstörung erfahren. 

Eine der irrwitzigsten und schmerzlichsten Kunstrichtungen im Ausgang der 1950er-Jahre ist der Wiener Aktionismus, der mit seinen provozierenden Aktionen einen Gesell­schaftswandel herbeiführen wollte. Rudolf Schwarzkogler, einer seiner Vertreter, zielte in erschreckenden realästhetischen Aktionen, in denen er sich selbst durch Bandagen, Masken, Fesselungen, scheinbaren medizinischen Eingriffen, ja Folterungen in prekäre Lagen versetzte, darauf ab, eine Verdichtung, eine Konzentration, den sogenannten „totalen Akt“ zu erreichen. Sein Aktionismus und jener seiner Kollegen ist als Geste einer radikalen verinnerlichten aggressiven Selbstanalyse und Thematisierung, ja Bannung der Geister des Zweiten Weltkriegs zu verstehen. 

In der Regel waren die Reaktionen weit weniger drastisch. Doch das Verhältnis zur Welt begann sich allmählich zu ändern, die Subjekt-Objekt-Beziehungen verschoben, verlagerten sich, die Wahrnehmungen wurden auf der einen Seite subjektiver, näher, intensiver, innerlicher, körperlich auch und auf der anderen Seite kühler, operationeller und konzeptueller. Schrittweise fanden in verschiedene Richtungen ausgreifende Radikalisierungen der fotografischen Haltung statt. Der deutsche Fotograf Otto Steinert hat diesen Schritt praktisch und theoretisch lanciert. Mit dem Begriff der „Subjektiven Fotografie“ schuf er eine neue, eigene Foto-Philosophie, die der Gestaltung vor dem Motiv den Vorrang gab. Seine Fotografien sind kleine Lehrstücke, formperfekte, formgewaltige Exemplifikationen seiner Vorstellung von Fotografie. Trotz der Perfektion verebbte sein künstlerischer Einfluss erstaunlich bald – nicht aber seine grosse Einflussnahme als Lehrer auf die deutsche Fotografenszene der 1960er- und 1970er-Jahre. Seine Reaktivierung der Moderne unter subjektiv-gestalterischer Sicht blieb mög­lichweise zu formalistisch, zu kühl, um mit der gesellschaftlich Entwicklung Schritt zu halten. 

Zwei Positionen markieren hingegen deutlich eine Wende in der dokumentarischen Haltung der 1950er-Jahre: Ed van der Elsken mit Love on the Left Bank (1956) und Robert Frank mit seinem Buch über Amerika. Frank legt mit The Americans (1958 französisch / 1959 amerikanisch erschienen) eine neue Form von Reisebuch auf, ein fotografisches Roadmovie, van der Elsken ein dramatisiertes Szenenbuch in der Stadt Paris. Beide Projekte, so verschieden sie sein mögen, sind tief gezeichnet vom Existenzialismus der 1950er-Jahre, vom Gefühl, in die Welt geworfen zu sein und den Sinn selbst suchen, ihn sich selbst geben zu müssen. Eine Lebenshaltung, die sich ex negativo der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs verdankt. Es gibt ihn nicht, den vorge­gebenen Sinn, den Haltegriff, das vorgefertigte Haus, die geschenkte Struktur, das metaphysische Gebäude: Alles ist selbst zu finden, selbst zu installieren und auszu­probieren, in einer Welt, die, gezeichnet vom Trauma des Krieges, noch schlingert, gleichwohl schon mit Zug und Kraft auf dem Weg in den Konsum, in die Kom­merzialisierung unterwegs ist.

Robert Franks Weg scheint, drei, vier Jahrzehnte lang, eine Art seismografische Paral­lele des Laufs der Welt sein, ein Weg, der sich in feinfühligem Reagieren und zunehmendem Distanzieren von der Gesellschaft entwickelt. Er radikalisierte sich von Dekade zu Dekade, distanzierte sich von der Welt, vom eigenen Tun, hörte auf zu fotografieren, begann zu filmen, nahm schliesslich das Fotografieren unter neuen Vorzeichen wieder auf. In The Americans arbeitete er sich noch an der Geschichte der Fotografie ab, erfolgreich, perfekt: ein Blick nach draussen, der sich in Bewegung setzt, der zeigt, dass hier jemand geistig und physisch unterwegs ist, der Bilder macht, weil er schaut, beobachtet, versteht, ein Blick auch, der zugibt, persönlich zu sein. In den sechziger, siebziger und achtziger Jahren wird Frank immer subjektiver, direkter, persönlicher. Seine oft zwei- und dreiteiligen Text-Bilder-Collagen wirken wie freigelegte Nervenstränge, offene Stromkabel, wie die Wicklung eines Motors von Leben, von Existenz. Er entwirft schliesslich in hoher autobiografischer Nähe mit Fotografie und Texten kleine Lebenssituationen, die von Heiterkeit bis zur Tragik, von Hoffnung zu Verzweiflung, von Liebe zu Verlust pendeln. In einer Tiefe, die bisweilen den Atem nimmt, in einer Unruhe – mit angerissenen Fotos, dunklem, auslaufenden Polaroid-Rand und kritzelnder, hektischer Schrift –, die den Pulsschlag der Aufregung spüren lässt, in einer Tragik manchmal, die alles in ihren düsteren, schwarzen Schlund zu schlucken scheint. Das Werk dieses Robert Franks keucht manchmal vor Verzweiflung, stösst sich immer wieder an der Sinnlosigkeit der Wirklichkeit, der Welt, kämpft mit ihrer Absurdität, sucht eigenen Sinn, findet Licht, verliert Menschen, kämpft gegen Resignation, verlangt aus der Nacht nach Licht, Glück, unbändig, schonungslos, dürs­tend, leidend.7

Der Mensch ist in eine sinnlose Welt geworfen, und aus dieser Sinnlosigkeit gibt es kein Entrinnen. Das ist unsere existenzielle Absurdität, wie Albert Camus, wie Jean-Paul Sartre sie (mit Abweichungen voneinander) formuliert haben. Der Mensch ist sich dieser Situation bewusst, doch kann er nicht anders, als sich nach Sinn sehnen, als weiter zu drängen, vorwärts zu schreiten, er muss denken und handeln, um zu überleben, er muss in der Liebe die Leere und die Absurdität temporär aufzuheben versuchen. Robert Frank entwarf in seinen Polaroids und verwandten Arbeiten seit den siebziger Jahren eine ungeheuerlich existenzialistische Bilderwelt, die Entwurf und Spur, Vision und gelebtes Leid zugleich ist und die ein komplexes Bildbewusstsein mit tiefem Erleben, Erfahren, Erdauern verbindet. Und seither stapft er immer weiter, auf der Suche nach „something that has more of the truth and not so much of art“.8

Ed van der Elsken kreierte 1956 mit Liebe in Saint-Germain des Prés die Frühform einer Doku-Fiktion, eine theatrale Liebesgeschichte, die sich im Pariser Quartier des Existenzialismus abspielt. Eine Art Fotoroman, der in der Armut und Misere der Nach­kriegszeit angesiedelt ist, mit Figuren aus van der Elskens real erlebter Zeit Anfang der 1950er-Jahre in Paris. Die Protagonisten, intellektuelle Bohémiens, scheren sich einen Deut darum, was die anderen denken. Sie schlafen von vier Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags, hängen dazwischen rauchend, trinkend, tanzend in den Cafés herum, überspielen ein nach dem Krieg verunsichertes, unstetes, nervöses Leben. Das Antibürgerliche, Amoralische ist ihr Fluchtort, das Haltlose ihr einziger Halt. 

Auch in Bagara (1958), Sweet Life (1966) und anderen Projekten blitzt Theatralisches auf. Ed van der Elsken tritt jeweils so direkt auf die Menschen zu, dass sie auf­schrec­ken, dass sie manchmal exaltiert reagieren. Seine Bilder erzählen vom Augenblick der Begegnung, von der Spannung zwischen Fotografen und Sujet. Durch seine Präsenz, sein Involviert-, Direkt- und Extravertiertsein kappt er die autokratische Position des Fotografen. Er stellt sich mitten auf die Strasse und fotografiert, wie der Verkehr, wie die Menschen, wie das Leben auf ihn reagiert. Aus einem Subjekt-Objekt- wird ein Subjekt-Objekt-Subjekt-Verhältnis, ein interagierendes, dialogisches Verhältnis, ausgelöst durch den Fotografen als Mit-Akteur. 

William Klein veröffentlichte im gleichen Jahr sein berühmtes Life is Good & Good for You in New York: Trance Witness Revels, kurz „New York-Buch“ genannt. Ein rohes, körniges, angriffiges Buch, das er innerhalb von sechs Monaten, gleichsam mit 26 Jahren als Expat in seiner Heimatstadt schoss. Sehr direkt, den normalen Gang der Menschen störend und aufschreckend, mit kohlig-schwarzem Tiefdruck, dynamischem Layout, das die Geschwindigkeit des New Yorker Lebens aufnimmt. So direkt das Buch erscheint, es berührt dennoch die Abgründe von New York nicht, wird nicht gewalttätig: „There is hardly anything like the real-life murder-and-mayhem of the journalist in Klein (only toy guns and charades of violence)“, bemerkte Max Kozloff und zitierte dann William Klein mit: „This city of headlines and gossip and sensation … needed a kick in the balls.“9 Das dynamische, fast anarchisch-modische Aufreissen des alltäglichen Lebens in William Kleins Fotografie beeinflusste eine halbe Generation später die japanische Fotografie.

 

Daido Moriyama, der Jäger und Gejagte, der aus dem Dunklen auf und wieder darin abtaucht, mit seinen Bildern, die zugleich hochemotionell und doch kühl, aktionistisch, anarchistisch und doch alltäglich sind, bezeichnete Japan als „grotesque, scandalous and utterly accidental world of humanity“.10 Sein Hass auf die japanische Situation nach dem Zweiten Weltkrieg war tief und liess ihn, in Verschmelzung von Weg und Werk, ein expressives, dynamisches, ruheloses, auch abgründiges, erotisch und theatral aufge­ladenes Werk und Leben leben. 

Shomei Tomatsu, sein fotografischer Vater und Mentor, schilderte seine eigene persönliche Vaterlandserfahrung so: „Ich glaube, dass die Amerikanisierung von den amerikanischen Militärbasen ausging. Es ist, als sei Amerika nach und nach durch die Maschen der Stacheldrähte, der die Stützpunkte umgibt, gesickert, und als habe es von dort aus nach kurzer Zeit ganz Japan durchdrungen. 1945 füllten sich die vernichtend geschlagenen japanischen Städte mit alliierten Soldaten und Offizieren. Sie verteilten Schokolade und Kaugummi an durch den Krieg halb verhungerte Gesichter. Das war Amerika. Sei es, wie es ist, so bin ich Amerika zum ersten Mal begegnet. Seit damals konnte ich mich nicht von der Vorstellung der ‚Besetzung‘ lösen. Ich kann meine Augen nicht von Amerika abwenden, dem Land, das mich völlig in der Gewalt hat, dem Land, das ich nie gesehen habe, aber mit dem ich auf schicksalhafte Weise zusammentraf, dem fremden Land, das in der konkreten Form einer Armee erschien, der ‚Besetzung‘ durch die amerikanische Armee.“11

Shomei Tomatsu teilt mit Moriyama das höchst ambivalente, von Faszination ebenso wie von Ablehnung geprägte Verhältnis zu den USA, sein Werk ist jedoch noch im tiefsten Masse vom Interesse, von der intensiven Suche nach einem Vaterland, von der Frage also geprägt, was Japan nach Hiroshima und Nagasaki sei – oder sein könne. Sein Werk, entstanden nach den wohl grössten Erschütterungen, die Japan je erlebt hat – wir vergessen neben Hiroshima und Nagasaki oft, dass 66 Städte in Japan nahezu dem Erdboden gleich gemacht, Tokio von einem gigantischen Feuerwall fast vernichtet worden ist –, ist nicht von dieser grossen Heimatlosigkeit wie bei Moriyama gezeichnet, sondern es suchte in der vorhandenen Realität, in den Häuten, die Japan überziehen – Gesichter, Asphalt, Stränge, nackte Haut, Architektur –, unablässig nach dem Jetzt und Hier, Warum und Wohin. 

Tomatsu ist der gewaltige Fotograf der japanischen Nachkriegsgesellschaft. Zwei Bilder sind signifikant, ja symbolisch für die Nachkriegssituation, für den Übergang zum modernen Japan, seine Farbfotografie von der Weltausstellung, Japan World Exposition, Osaka, 1970, einerseits, dieser direkt an der Scheibe und damit in unserem Gesichtsfeld zerplatzende rote Farbfleck, und andererseits das weit ruhigere, kontem­plative Schwarz-Weiss-Bild einer Wolke über dem Meer: Untitled (Hateruma Island, Okinawa), 1971. In beiden Bildern löst sich die Kreisfläche, das Symbol der japanischen Flagge, auf, explosiv im Bild der Weltausstellung, fein, leise und melancholisch, mit rutschendem Horizont aus der Sicht seiner Rückzugsinsel Okinawa. 

Bei Daido Moriyama haben wir es mit einem ruhelosen, unsteten Geist zu tun. Viele seiner Bilder haben etwas Gehetztes an sich, sei es hinsichtlich des Motivs – ein Mäd­chen, das wegrennt, ein japanischer Junge, der einem westlichen Mädchen nachjagt – oder sei es durch die Art der Fotografie. Die Bilder sind oft schief aufgenommen, verzogen, verschwommen, manchmal entstanden sie aus dem fahrenden Auto. Eine Art düsterer Dynamik durchzieht die Bildwelt. 

Sandra Phillips eröffnete und schloss ihren Essay über Moriyama symbolisch mit dem Bild des streunenden Hundes, des Stray Dog.12 Eine fast hypnotische Fotografie: Ein Hund – auf der Strasse fotografiert, gezeichnet von der Rauheit im urbanen Raum, mit schwerem, verfilztem, abgeschabtem Fell – beobachtet den Fotografen, lauernd, misstrauisch, unklar ist, ob er angreift oder wegtrottet. Der Blick scheint eingefroren. Wir stehen vor dem Bild eines wilden, etwas verlorenen Aussenseiters, vor einem körnigen, düsteren Schnappschuss, der von zwei Wesen erzählt, die sich für Sekunden im gegenseitigen Bann befanden. Daido Moriyama hat sich mit diesem Bild, mit den Eigenschaften dieses streunenden Hundes in gewisser Weise identifiziert: „Ich gehe ohne Absicht, ohne Plan in die Stadt, schlendere die Strasse hinunter“, sagte er, „zieht es mich nach rechts, dann gehe ich nach rechts um die Ecke. Ich bin wirklich wie ein Hund. Ich entscheide mich nach dem Geruch der Dinge, wohin ich gehe, und wenn ich müde bin, mache ich einen Halt.“13

Die Identifikation zeigt sich auch in den Titel dreier späterer Bücher: Dog’s Memory (1984), Dog’s Time (1995) und Dog’s Memory – The Last Chapter (1998). Mit dieser Haltung schuf Moriyama ein Werk, das in Ansätzen mit seinem grossen Vorbild William Klein, vor allem mit dem rauen Erstlingsbuch über New York, dann in Teilen mit Andy Warhol und Weegee verglichen werden kann, das aber sehr eigen- und einzigartig dasteht in der Fotogeschichte – ein expressives, aktionistisches Bündel in düsterem Schwarz-Weiss. Seine Unruhe mag persönliche Ursachen haben, doch sie liegt auch in der Zeit begründet, die vor Spannungen fast explodierte. Die gesellschaftlich brisante, revoltierende, kontradiktorische Atmosphäre brachte im Tanz, im Theater, im Film, in der Kunst und in der Fotografie Japans die vielleicht herausragendsten Werke des 20. Jahrhunderts hervor, sie führte zu grossartigen kreativen Schüben, aber auch zu schlimmen Abstürzen danach. Auch Moriyama war davor nicht gefeit. Er publizierte seine wohl wichtigsten vier Bücher – Japan, ein Fototheater; A Hunter; Farewell Photo­graphy (Bye, bye, Photography, dear) und The Tales of Tono – innerhalb von acht Jahren, von 1968 bis 1976, verlegte dazwischen noch kleine Privatdrucke, nahm Teil am kurzen, aber wichtigen, zentralen Foto-Text-Projekt Provoke, zusammen mit seinem intellektuellen, marxistischen Freund Takuma Nakahira und anderen Fotografen – dann folgte der Absturz in eine längere Krise. 

In A Hunter (1972) zeigt Moriyama die Welt nicht mehr narrativ, wie noch seine Vorgänger, sondern voll inhaltlicher Brüche, fast dekonstruktiv, nicht nur durch die gewählten Motive, sondern ebenso stark durch die Art des Fotografierens, durch das Flüchtige, Verschwommene, Unscharfe, Körnige, Dunkle. Zusammen ergibt sich, wie Sandra Phillips und Alexandra Munroe herausarbeiten14, ein fragmentarisiertes, expres­sives, dynamisches, ruheloses, auch okkult-düsteres, erotisch und theatral aufgela­denes Werk. 

Nobuyoshi Araki xeroxte zu dieser Zeit und veröffentlichte seine ersten 25 Hefte in limitierter Auflage. Das kontinuierliche Fotografieren Yoko Aokis, die er 1971 heiratete, die Hochzeit, die Flitterwochen, deren fotografische Dokumentation als Sentimental Journey in die Fotogeschichte einging, sind sein erstes grosses Werk, ein sehr intimes, aber auch feinfühliges, persönliches Porträt seiner Frau. 

Diane Arbus – und damit kehren wir auf dem Weg der Subjektivierung der dokumenta­rischen Fotografie in die 1960er-Jahre der USA zurück – hat immer auch mit ihren aussergewöhnlichen Prints überzeugt. Das Schwarz in ihren Fotografien ist manchmal unheimlich tief. So satt und tiefschwarz, als seien einzelne Stellen mit Tusche nachgezogen oder mit Pech übertüncht worden. Als sei es von einer anderen, einer saugenden dunklen Schattenwelt. Der Augenkontakt mit den porträtierten Menschen ist eindringlich, manchmal so irritierend nah und direkt, als schauten wir durch ihre Pupillen ins schattige Innere und wieder zurück, in uns selbst hinein. Wir vergessen leichter als sonst, dass wir „lediglich“ vor (quadratischen) Fotografien stehen. Die Kombination dieser Eigenschaften beeindruckte in den sechziger Jahren die Leser von Esquire ebenso wie die Besucher des MoMA in New York (1967), ja es schockierte sie zuweilen. Die grosse, berührende Nähe, einerseits von Wärme und Respekt, bisweilen aber auch einem Schuss Zynismus durchdrungen, zieht noch heute in Sekunden­schnelle in ihren Bann. 

Diane Arbus hat innerhalb von dreizehn Jahren eine Gegenwelt zu ihrer Herkunft als Tochter aus gutem, formellem Haus und zu ihrer Arbeit für die Modefotografie geschaf­fen. Sie hat Zirkusleute fotografiert, Zwerge, Liliputaner, Nudisten, Transvestiten, Prosti­tuierte, Menschen, die ihre Behinderung zum Erwerb vorzeigen, daneben auch Kinder reicher Leute, Zwillinge, Drillinge, Familien mit auffallender Erscheinung. Sie fotogra­fierte leichte oder stärkere Abweichungen von dem, was man ohne nähere Erklärung als „normal“, als bürgerlich bezeichnet. Sie belichtete anderes Sein, anderes Verhalten, Randfiguren. Vom Zentrum der Gesellschaft aus näherte sie sich den darin eingelas­senen Rändern, ja es drängte sie zunehmend, sich den fremden Welten und Figuren auszusetzen. Sie verlässt ihre Welt und begibt sich auf die intensive Suche nach Direktheit, Einfachheit, Körperlichkeit. Sie entfernt sich von den Formalitäten des Elternhauses, von den Distanziertheiten, vom dezenten Schweigen und sehnt sich nach Nähe, Echtheit, nach dem Greifbaren, Wahren. Diese Reise ins Authentische – dorthin, wo sie das Leben und sich selbst wirklich spürt – nahm zunehmend körperliche, eroti­sche, sexuelle Züge an. Mit einer verführerischen Mischung aus Scheu und Direktheit, aus Zurückhaltung und Offenheit, aus Schönheit und Intelligenz schien sie sich, süchtig fast, in viele Begegnungen, viel Fremdes hineinfallen zu lassen, es auszuleben wie ei­nen performativen Akt. Das Bild wird zum Beleg eines persönliche Aktes, es legt Zeug­nis ab von magnetischer Anziehung oder Abstossung zwischen Subjekt und Objekt.

Über Boston und Provincetown kamen Nan Goldin und einige ihrer Freunde 1978 nach New York. „Off off“, weit entfernt vom Kunstmarkt, lebte sie in den Bars, Klubs und Performance-Räumen der Lower East Side und des East Village. Hier begann sie ihr erstes grosses Projekt der Ballade der sexuellen Abhängigkeit. Im Gegensatz zu Diane Arbus lebte sie von Anfang an das Leben, das sie wollte. Sie fotografierte ihre Freunde, ihre Liebhaber, sich selbst, ihre „Familie“, direkt, aus nächster Nähe und intim – und führte ihnen die Bilder gleich selbst wieder in Diashows vor. Sexualität, Beziehungen, Macht, Identität und eine Mischung aus Härte und Romantik bestimmen dieses Werk. Nan Goldins visuelles Tagebuch ist nicht immer optimistisch: „Was wir emotional spüren und wonach wir uns sexuell sehnen, kann sehr widersprüchlich sein. Sex wird zum Mikrokosmos der Beziehung, zum Schlachtfeld, zum Exorzismus. Oft befürchte ich, dass Männer und Frauen einander unwiderruflich fremd sind. Diese Spannung scheint ein universales Problem zu sein: das Ringen zwischen Autonomie und Abhängigkeit.“15 

Dieses Fotografieren der Freunde, des eigenen Lebens, dieses Sich-Spiegeln an den Freunden, das Spiegeln der Freunde an den Fotos, das Spiegeln des Lebens an einer sich entwickelnden Bild- und Musikperformance wurde beispielhaft für ein rock- und punkartiges Fotografieren, für distanzloses, jedoch nicht schonungsloses Dabei- und Drinnensein. Der Begriff der teilnehmenden Fotografie wird oft mit Nan Goldin in Verbindung gebracht. Ihre Ballade der sexuellen Abhängigkeit (1986 publiziert) darf als Startschuss für das Dokumentieren der eigenen Welt, das Fotografieren aus der Innenperspektive gelten. Es wird nicht mehr ein Anderes, Exotisches fotografiert, das anschliessend nach „Hause“ getragen und dem Heimpublikum vorgeführt wird, vielmehr wird das eigene Leben zur Fotografie, verschwimmen Ich und Du, Subjekt und Objekt, Leben und Fotografie. Voyeurismus und Exhibitionismus wechseln dabei den Rang.

Christer Strömholm ebnete das Terrain für Anders Petersen. Der in seinen Bildern elegante, weiche, liebende, doch manchmal auch dunkle skandinavische Surrealist, der mit den sorgfältigen, delikaten, dennoch intensiven Bildern, besonders den transsexuel­len Ladies von der Place Blanche (Les Amies de la Place Blanche, in den sechziger Jahren fotografiert und 1983 publiziert), den Blick der Fotoszene nach Norden gelenkt hat und mit jedem seiner Bilder seine subtile Vorstellung vorträgt, was die sichtbare Welt uns verdeckt und verraten kann, dieser Christer Strömholm lehrte Anders Petersen nicht nur das Fotografieren, sondern auch ein Stück weit die Vorstellung des Lebens. 

Wir treten ins Café Lehmitz ein, eine Kneipe in Hamburg. Dahin verschlägt es Anders Petersen Ende der 1960er-Jahre. Zwei, drei Jahre lang verkehrte der junge schwedische Fotograf in dieser Bierhalle, in der alle Förmlichkeiten und Floskeln, alle Wattierungen abgelegt und Leben auf Zahnfleisch gelebt wird – direkt, unverblümt, voller Galgenhumor und Verzweiflung, doch bisweilen auch ausgelassen tanzend. Ein rauer Ort, der dennoch wie ein Zuhause, wie ein Hort, wie ein „last resort“ funktioniert, der gegen die Abgründe draussen abschottet und die Abgründe drinnen, und im eigenen Innern, zum Teil wenigstens ertragen lässt. Café Lehmitz (1978) ist ein mit Verzögerung publiziertes, berühmtes, direktes, gleichzeitig schonungsloses und liebevolles Buch geworden, über das Leben draussen, ausserhalb des Bürgertums, in den windigen, ungeschützten Zonen der Gesellschaft, in denen lediglich zählt, wer man, am Ende des Tages, „wirklich“ ist. Das Buch ist, wie eine Dekade davor Liebe in Saint-Germain des Prés von Ed van der Elsken, ein provokantes, lebendiges, persönliches Dokument und ein greller Startschuss für ein intensives Fotografen-Leben. 

Anders Petersens Werk hat sich später immer weiter zu einer Form von Tagebuch verdichtet, von visuellen Begegnungen, allmählich macht dabei das Dokumentarische dem Performativen Platz. Sein Blick spitzt sich zu, reisst den Schein auf, steht Aug in Aug mit jedem scharfen Hund. Petersen wird zunehmend „hypnotisch intim“, hypnotisch präsent, steht hautnah bei oder vor Bekannten, bei oder vor seinen Freunden, seiner Freundin, er weckt sie, fordert und fixiert sie, er nimmt teil und ist da – und durchdringt das gut Gemeinte, das Wohlverhalten, ja das Zivilisatorische, zeigt fast animalisch die Kräfte, die in uns schlummern: Aggressivität, Sexualität, aber auch Sehnsucht und Wärme. Ein Fotograf nimmt hier sein Hingehen, Eingehen, Gemeinsam-Gehen, sein Leben mit den anderen auf – in einer Fotografie voll leidenschaftlichem Humanismus, voller Intimität, direkt, ehrlich, im Schönen wie im Grauen, im Feinen wie im Heftigen. Ein Leben und eine Fotografie, die das Vulkanische und das wirklich Zärtliche in uns sucht, die voller Sehnsucht auf den anderen Menschen zutritt. Das Werk von Anders Petersen ist schliesslich ebenso Selbstporträt wie Dokumentation, ebenso Eigenes wie Fremdes. 

 

Der Weg in die 1970er-Jahre ist gekennzeichnet von einer zunehmenden, kontinuier­lichen Subjektivierung der dokumentarischen Fotografie. Schrittweise verschieben sich die Parameter, das objektive Vorzeigen der Welt wandelt sich in ein subjektives Wahrnehmen, die fotografische Wahrheit verschiebt sich zur Wahrhaftigkeit, die Objektwahrheit zur Subjekt-Wahrhaftigkeit, zur Authentizität des Fotografen. Das visuelle Erkunden, Wissen und Darstellen der Welt wandelt sich zum Zwiegespräch, zur Medien- oder Selbstreflexion. Die Vorstellung einer Welt an sich dreht sich um die eigene Achse und wird eine Welt für uns, von uns zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einem bestimmten Erkenntnisinteresse, einer eigenen oder beauftragten Absicht wahrgenommen. Der Fotograf rückt gleichsam sichtbar ins Bild. Er kommt aus der Deckung hervor, entblösst sich, steigt vom Feldherrenhügel runter ins Feld, tritt ein, nimmt teil, wird Teil des Bildes. 

Diesen Weg gehen auch viele reportierende Fotografen, wenn auch meist nicht so markant wie in den bisher angeführten Beispielen. Von Bruce Davidson (Brooklyn Gang, 1959) über W. Eugene Smith (Minamata, 1971-73), Josef Koudelka (Gypsies, 1975), David Goldblatt (Some Afrikaners Photographed, 1975) bis zu Gilles Peress (Telex Iran, 1979/80 fotografiert, 1984 publiziert) Ende der siebziger Jahre wird hingegen spürbar, wie sich die Front zwischen der Welt vor und hinter der Linse auflöst, wie der Raum durchlässiger, wie er ein Kontinuum wird, in dem sich Menschen tummeln, Dinge sich ereignen – und ein Augenschlag davon schlägt sich nieder auf dem Film. Das Einzelbild wird im Zuge dieser Haltungsänderung oft abgelöst von einer Reihe Bilder, einer Serie oder Sequenz, einer Wolke, in der sich Themen komplexer wiedergeben lassen. Entitäten verschwinden, Prozesse werden sichtbar. 

 

Die 1970er-Jahre sind in vielerlei Hinsicht ein aufregendes Jahrzehnt für die Fotografie, zugleich aber auch gekennzeichnet durch Verunsicherung, Angriffe von aussen und ein behutsames Vortasten. Die Fotografie stand erstmals kräftig unter Druck. Nach aussen war sie dabei, ihre Vorreiterrolle im Berichten über die Welt an das Live-Fernsehen zu verlieren. Nach innen stand sie zunehmend im Schatten der ersten grossen Welle farbiger Werbefotografie. Auch die Kunst begann, sich ihrer zu bemächtigen – ohne dabei weiterhin Vorstellungen der „Fine Arts of Photography“, also der bildimmanenten grossen Kunst des fotografischen Gestaltens zu huldigen, sondern oft mit einem rohen, gestaltungslosen Zugriff unter Verwendung von Found footage. Auch den Wandel des Begriffs der „fotografischen Wahrheit“ nahmen nicht alle als Chance war. 

Vielleicht ist diese Verunsicherung der Hauptgrund für drei physische Merkmale, die die reportierende, dokumentierende Fotografie in diesem Jahrzehnt oft ausgezeichnet: der schwarze Negativrand, der weitwinklige Blick und die Grobkörnigkeit. Der schwarze Rand drehte sich wie Vanillestangen um das sozialdokumentarische Bild, sich manchmal verdickend, manchmal verjüngend. Die Ecken waren meist weich und abge­rundet. Wer protzte, vergrösserte zudem den Perforationsrand für den Filmtransport mit und bettete das Bild in ein dunkles, schwarzes Rechteck. Innerhalb des Gevierts breitete sich ein Teppich von hellgrauen, grauen und schwarzen Punkten aus. Der Tri-X-Film von Kodak mit seinen lichtempfindlichen 400 ASA wurde beim Entwickeln weiter auf 800 oder 1600 ASA hochgepusht, um auch bei schlechten Bedingungen mit dem vorhandenen Licht und ohne Blitz fotografieren zu können – mit dem Resultat, dass sich über schöne Gesichter, wunderbare Landschaften, monochrome Architekturflächen unterschiedslos ein Raster von feineren und gröberen Filmkörnern spannte, das alles Abgebildete wie ein Netz einzuhüllen schien. Der Blick schliesslich musste in der repor­tierenden Fotografie der siebziger Jahre weitwinklig sein, mit sich verjüngenden Kör­pern und Gesichtern, fliehenden Linien und Horizonten, die sich zunehmend zur Seite neigten. Ein seltsamer Blick, der Nähe suggerierte und Weite brachte, der das Iko­nische mit dem Komplexen verbinden wollte.

Diese drei Gestaltungsmittel waren allgemein verbreitet, der Rand jedoch, der jedes schwarz-weisse Foto in eine Art „tödlich“ ernsten Tatbestands zu verwandeln schien, eine Zeit lang praktisch universell. Im Licht der Verunsicherung in der fotografischen Praxis erscheinen diese Merkmale als Teil einer starken Reaktion, einer bildnerischen Gegenstrategie. Die Fotografie hatte möglichst authentisch und real zu wirken. Nah, direkt, schnörkellos und ohne eine die ursprüngliche Absicht verzerrende Nachbear­beitung in der Dunkelkammer: Dies wurde zum Credo einer Art bildnerischer Gegenre­formation. Realität und Authentizität wurden durch das Sichtbarmachen des Mediums, durch das „Aufreissen“ des Bildes, der Brillanz suggeriert, die Abstrahierung durch das Schwarz-Weiss der Fotografie hingegen vorläufig noch kommentarlos zur Kenntnis genommen. Sie galt im Dokumentarischen weiterhin als Richtschnur, als Mass aller Dinge, als Haltungsadelung sogar. Die Erinnerung an die Verwerfungen über den Ein­zug der Farbe ins Museum, aufgebracht durch die Ausstellung der Fotografien William Egglestons 1976 im New Yorker Museum of Modern Art, klingt hier nach. 

Doch Wege und Haltungen drifteten auseinander. Nicht alles entwickelte sich in die gleiche Richtung, nicht jede dokumentarische Fotografie wählte mit dem Ende des angestammten (inhaltlichen, formalen, gesellschaftlich-moralischen) Kanons den Weg in die Subjektivierung. Anhand der amerikanischen Landschaftsfotografie lässt sich die Gegenbewegung dazu am besten darstellen. Ende der 1960er-Jahre setzte in den USA quasi eine Bildrevolution ein. Die Vorstellung der amerikanischen Landschaft als einer unberührten, heiligen, gross geschriebenen Natur, tradiert von Carleton Watkins bis Anselm Adams, wurde plötzlich mit der einer sich verändernden Umgebung konfrontiert, der Besetzung und Bearbeitung des Landes, der Verwandlung der Natur in ein Territorium, das in Besitz genommen, genutzt und verkauft wird. Robert Adams, Lewis Baltz, Joe Deal, Dan Graham, Ed Ruscha und andere junge Künstler stellten der pan­theistisch-entrückten damit eine zeitgenössische realistische Sicht der konkreten, alltäglichen, banalen Umgebung gegenüber. 

Eine neue Generation von Fotografen skandalisierte mit der Ausstellung New Topo­graphics (Rochester 1975) unter Beteiligung von Robert Adams, Lewis Baltz, Bernd und Hilla Becher, Joe Deal, Frank Gohlke, Stephen Shore und Henry Wessel die Vorstellung des schönen, romantischen, existenziellen Landschaftsbildes: Aus der „göttlichen“, heiligen Landschaft wurde die Landschaft als reales Faktum. Diese Fotografen hatten das grosse Ideal Amerikas, das bisweilen als karg, leer, immer jedoch in sich ruhend, schön und erfüllt dargestellt worden war, ganz einfach bevölkert. Aus dem heroischen, poetischen „Ich und die Natur“ wurde zuerst ein „Wir und der Park“ und schliesslich gar ein banales „Sie und der Garten“. 

Die Landschaft war real und nun auch im fotografischen Bild zum Territorium geworden, begrenzend, ausgrenzend, besetzt. Und das Gebaute – zum Beispiel die Tract Houses (1971) eines Lewis Baltz in ihrer gleichgültigen Banalität, seine New Industrial Parks (1974) in minimalistischer Eleganz als stumme, gesichtslose Architektur, Robert Adams’ The New West (1974) als Zeugnis der Zersiedelung einst grandioser Land­schaften: Diese Werkgruppen zeigen Retortenstädte und -häuser, wie sie die abend­ländische Idealstadt mit Zentrum und sinnhafter, hierarchisch angeordneter Struktur pragmatisch-wirtschaftlich unterlaufen. Alles wird hier zur „Real-Estate“-Landschaft, Stadt und Land werden unter monetären Gesichtspunkten eins. Heinz Liesbrock stellt dazu trocken fest: „Adams’ Thema ist die Verwandlung des alten Westens in das zeitge­nössische, eindimensionale Amerika, die Pervertierung einer Landschaft, die einst für die Idee einer ganzen Nation stand, in den Hintergrund für eine gezähmte und korrum­pierte Gesellschaft, die blind ist gegenüber den durch sie angerichteten Verwüs­tungen.“16

Der Blick ist nicht mehr von einer Utopie getragen, vielmehr wird nüchtern erforscht, was mit der Landschaft, der Stadt und der Vorstadt geschieht. Fotografen und Künstler nutzen Bildpurismus und Form-Inhalt-Deckung als kritisches Instrument, ersetzen die Illusion fotokünstlerischer Fertigkeit durch die Eindringlichkeit fast mechanistischer Beschreibung und zwingen derart dem Betrachter ihrer Fotografien, also uns, dem Subjekt der Betrachtung, eine grundsätzlich neue Rolle auf: ohne Wahl und unsenti­mental den Blick auf die aktuelle, gegenwärtige Welt vor sich zu richten. Ihre semi­konzeptualisierte dokumentarische Fotografie will nüchtern, sachlich zeigen, was da draussen vor sich geht, will ungeschminkt, neutral, fast wissenschaftlich genau hin­schauen. Ihre Bilder sind gewollt kühl gehalten, weil sie sich vom Humanpathos der 1950er-Jahre, von jeglicher Gefühlhaftigkeit absetzen wollen. Sie fotografieren im Zeichen des Konzeptualismus und des Strukturalismus, versuchen also den Strukturen, den Morphologien auf die Spur zu kommen, der wuchernden Urbanität Typologisches, Systematisches abzugewinnen. Das Subjekt erfährt beim Betrachten keine Erfüllung, keine Erhöhung mehr, vielmehr empfindet es sich selbst als Teil eines Systems. 

Diese Form der dokumentierenden Fotografie reagiert weniger auf den Autoritätsverlust der gesellschaftlichen Werte und Institutionen, vielmehr auf das Vordringen des Corporate-Kapitalismus, der Kommerzialisierung der Natur, des Lebens, der Seele Amerikas. Hier wird realisiert, was Roland Barthes in seiner Kritik an The Family of Man gefordert hat: Ein fortschrittlicher Humanismus müsse den „alten Betrug“ umkehren, das heisst, die Natur und ihre Gesetzmässigkeiten „unaufhörlich aufreissen“, um endlich die Natur selbst als historisch zu setzen. Die Fotografie begegnet hier der Ökonomisierung der Natur, der Lebenswelt mit systematisch angelegten Bestandsaufnahmen.

 

Zwei Wege – ein subjektiver und ein systemischer –, die sehr unterschiedlich und zeitlich gestaffelt auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten nach dem Zweiten Weltkrieg und auf den Aufzug der radikalen Kommerzialisierung des Lebens reagierten. Beide sind in ihrer Verdichtung, ihrer Bündelung letztlich Abstraktionen, die viele spannende und erfolgreiche Positionen zwangsläufig ausschliessen. Im Zwischenfeld mäanderten unter anderem der gelassen-gleichgültige Blick von William Eggleston, Lee Friedlan­ders komplexe, reflektierende Sicht auf den Alltag, Stephen Shores ethnographischer Nahblick in American Surfaces und Uncommon Places, Garry Winogrands obsessiver Alltagsblick, Larry Clarks voyeuristisch-intimer Zugriff auf Sex und Drogen, Luigi Ghir­ris delikate Sprache des Normalen, seine Suche nach dem Wesen des Sehens, oder die tagebuchartige, poetisch-subjektive Reisefotografie von Bernard Plossu.

 

 

1  Roland Barthes, Mythen des Alltags [1957], Frankfurt a. M. 1964, S. 17.

2  Ebd., S. 17.

3  Ebd., S. 18.

4  Theodor W. Adorno, „Kulturkritik und Gesellschaft“ [1949; Erstveröffentlichung 1951], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild, Frankfurt a. M. 1977, S. 30.

5  Theodor W. Adorno, „Engagement“ [1962], zit. nach: Petra Kiedaisch (Hrsg.), Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter, Stuttgart, 1995, S. 53.

6  Georg Schmidt, in: Photo 49, Sondernummer der Zeitschrift Publicité et Arts Graphiques, Lausanne, 1949, S. XVIII.

7  Vgl. dazu Urs Stahel, „In einer sinnlosen Welt. Die Polaroids von Robert Frank“, in: Urs Stahel, Martin Gasser, Thomas Seelig und Peter Pfrunder (Hrsg.), Essays über Robert Frank, Göttingen 2005, S.166–174.

8  Sarah Grenough und Philip Brookman, Robert Frank. Moving Out, Zürich 1994, S. 142.

9  Max Kozloff, „William Klein and the Radioactive Fifties“, in: Books on Books #5. William Klein: Life is Good & Good for You in New York [1956], New York 2010, o. S.

10  Daido Moriyama, Stray Dogs, San Francisco 1999, S. 15. 

11  Shomei Tomatsu, Skin of the Nation, New Haven und London 2004, S. 16. Übers. des Autors.

12  Daido Moriyama, Stray Dogs, München 2000, S. 8-30.

13  Ebd., S. 18. 

14  Ebd., S. 9 ff., S. 31ff.

15  Nan Goldin, in: Nan Goldin: Die Ballade der sexuellen Abhängigkeit, Frankfurt a. Main 1987, S. 7

16  Heinz Liesbrock, „Vision und Revision des amerikanischen Westens“, in: The New West. Landschaften der Colorado Front Range [1974], Neuaufl. Köln 2000, S. xxiii.


Published in Photography Vol. 3: From the Press to the Museum 1941-1980.
Text by Urs Stahel, Francesco Zanot and Camile van Winkel, Edited by Walter Guadagnini.
Skira, Milano 2013