April 2019  /  republik.ch

Von Fakten und Fiktionen - Coalmine, Winterthur

<p>Kyra Tabea Balderer</p>

Kyra Tabea Balderer

<p>Nicolas Polli</p>

Nicolas Polli

Sie interessieren sich für Fotografie? Daran bietet die Schweiz überdurchschnittlich viel – an Ausstellungen, Festivals, Sammlungen, Archiven oder Büchern. Über 180 Adressen gibt es, an denen Fotografie in unterschiedlichster Weise verhandelt wird, am besten zu finden über die Webseite photography-in-switzerland.ch,  die vom Verein Spectrum – Photography in Switzerland betrieben wird. Dass ich da als Präsident amtiere, will ich gerne offenlegen, auch wenn hier kaum die Möglichkeit für unlautere Vorteilsnahme besteht. Alles an und in dem Verein ist freiwillig. Die Webseite selbst ist primär ein GPS, eine digitale Suchmaschine der Foto-Orte in der Schweiz.

Spricht man von diesen Orten, fallen als erstes die Namen Foto­museum Winterthur, Fotostiftung Schweiz, auch in Winterthur, und Musée de l’Elysée in Lausanne. Es sind die drei Kathedralen der Fotografie in der Schweiz, die das Ausstellungsprogramm und den Aufmerksamkeitscontest dominieren. Übersehen wird hingegen leicht, dass sich dahinter ein gut wachsendes Wäldchen an Institutionen verbirgt. Zum Beispiel das Centre de la photographie in Genf, das Photoforum Pasquart in Biel, die Photobastei in Zürich und BelleVue in Basel. Hinzukommen mehrere Fotofestivals wie aktuell gerade die Bieler Fototage in Biel (bis 2. Juni), die Biennale dell‘imagine in Chiasso, das Festival Images in Vevey , die Photo 19, die jährliche Foto-Shopping-Mall im Zürcher Maag-Areal – und natürlich ein paar Galerien, Verleger, Kunsträume (wie der Kunstraum Kreuzlingen) und Off-Spaces. Einige der grossen Kunstmuseen zeigen zudem regelmässig Fotografie, zum Beispiel das Bündner Kunstmuseum in Chur, das Aargauer Kunsthaus in Aarau oder neuer auch das MBAL in Le Locle.

Ein kleiner Ort, den man gerne übersieht, obwohl er sich direkt beim Hauptbahnhof in Winterthur befindet, ist die Coalmine. Der Kulturbetrieb der Volkart Stiftung umfasst ein Café, eine Bibliothek, ein Dok-Film-Programm, Lesungen, Diskussionen und zwei Ausstellungsbereichen: das Forum für Dokumentarfotografie und den Raum für zeitgenössische Fotografie. Die zwei Begriffe stehen für unterschiedliche Aufgaben- und Deutungsbereiche in der Fotografie. Auf der einen Seite, gut verständlich, geht es um das Dokumentieren der unterschiedlichen Realitäten auf unserem Globus, auf der anderen Seite, erahnbar, um eine zeitgenössische Diskussion des Mediums Fotografie, ihrer Regeln, ihres Gebrauchs, ihrer Rolle in der Gesellschaft. Diese Aufgabenfelder und die implizit an sie geknüpften Haltungen stehen sich oft wie zwei aufgeregte Gockel gegenüber, angezogen und abgestossen voneinander, sehr ähnlich und doch fremd. Der Dokumentarfotografie wirft man bisweilen vor, sie vereinfache die Welt, sie operiere mit einem Medium- und Weltverständnis des letzten Jahrhunderts. Der zeitgenössischen Medienfotografie wiederum geht der Ruf voraus, oft trocken und kopfig, jedoch wenig sinnlich, berührend und lebensnah zu sein.

Nicht so die beiden Ausstellungen, die gegenwärtig zu sehen sind. Sascha Renner kuratierte für das Forum für Dokumentarfotografie die Ausstellung «Ferox, The Forgotten Archives» von Nicolas Polli, Alexandra Blättler wiederum richtete im Raum für zeitgenössische Fotografie die Ausstellung «Akteure und Artefakte» von Kyra Tabea Balderer ein. Die beiden Ausstellungen verschränken sich in spannender Weise miteinander.

Der Tessiner Polli inszeniert in der Coalmine ein berauschendes wissenschaftliches Theater. Der Plot geht folgendermassen: Ausgehend von der IEMS – der Raumfahrtagentur International Exploration for the Mars Surroundings – und ihrem grossen Archiv, verfolgt Polli die Arbeit von europäischen Wissenschaftlern, die von 1976 bis 2010 der Spur eines merkwürdigen Meteoriten nachgingen, der in den Schweizer Alpen gefunden wurde. Aufgabe der Raumfahrtagentur war es, den Ursprungsort dieses Meteoriten, den bisher unbekannten Himmelskörper Ferox zu finden und wissenschaftlich zu erforschen. Das Endziel, die Landung auf Ferox scheiterte aber, weshalb die Raumagentur schliesslich aufgelöst wurde. Polli hat dazu umfangreiches Material zusammengetragen, gesichtet und 2018 im Verlag Skinnerbox/Ciao Press in Form eines Buches veröffentlicht. Gleichzeitig hat er eine Open Source Webseite eröffnet, in dem er viel Bildmaterial zur Verfügung stellt. Schliesslich hat er nun eine komplexe, an Daten, Unterlagen, Bildern reiche Ausstellung realisiert.

Die Dokumentation dieses letztlich gescheiterten wissenschaftlichen Projekts überzeugt sowohl mit ihrer Datenfülle wie auch durch ihre starke visuelle Realisierung. Doch: Alles ist Theater, ist Spiel, Fake, eine beabsichtigte Fälschung. Es gibt weder diesen seltsamen Meteoriten, noch die Raumfahrtagentur noch das Archiv. Polli hat alles minutiös erfunden und als Fiktion ausgearbeitet, um damit über das Thema der Fake News zu reflektieren und unsere Vorstellung von Fakten und Tatsachen in der Wissenschaft mit der Möglichkeit der Fälschung zu konfrontieren. Teile seines bildnerischen Dokumentationsmaterials stellt er online zur Verfügung (iems-ferox.com) und verfolgt dabei mit Argusaugen, wie und in welchen Kontexten seine Bilder im Netz wieder auftauchen, wie und für welche Behauptungen sie eingesetzt werden.

Die in Berlin lebende Luzernerin Kyra Tabea Balderer inszeniert ihre Ausstellung ebenfalls theatralisch. Die beiden Räume sind knallgelb gestrichen, an den Wänden hängen, locker verteilt, gerahmte Fotografien von Dingen, selbst hergestellten Objekten, die an Werkzeuge, Schwerter, Messer, sanitäre Installationen, Verbindungsstücke, aber auch an Stanzformen erinnern. Es handelt sich um Farbfotografien von erkennbar konstruierten, bemalten oder gespritzten Objekten aus einer Pappmaché-Welt, von Dingmodellen, die mit heiterem Augenblinzeln auf die Realität von wirklichen Gegenständen verweisen.

Den gelben Wänden entlang schleichen sich in Gruppen Schaumstoffreste, verstecken sich in den Ecken, hangeln sich die Wände hoch, posieren ein-, zweimal keck vor einem Bild. Hellgelber, rosa- oder pinkfarbener Schaumstoff schmiegt sich, beinahe wie ein Wesen, in die Ausstellung, unklar bleibt, ob das Geschäumte Abfall, Restprodukt oder Werkzeug ist, ob die Gegenstände als Objekte oder als Akteure verstanden werden müssen. Objekt- und Bildwelt verbinden sich in der Rauminstallation von Balderer zu einem heiteren Spiel zwischen real und fiktiv, banal und theatral. Sie stellt Dinge und Bilder in einen quirligen Zusammenhang, der uns über Dingbilder und Bilddinge, über das Werden und Vergehen, das Machen und Sein von Dingen sinnieren lässt.

Balderer zitiert im Beiblatt den französischen Phänomenologen Merleau-Ponty mit seinen Gedanken zum Sichtbaren und Unsichtbaren: «Es gilt zu verstehen, dass die Dinge uns haben und nicht wir die Dinge haben. Dass das vergangene Sein niemals aufhört, gewesen zu sein. … Dass die Sprache uns hat und nicht wir die Sprache haben. Dass das Sein in uns spricht und nicht wir vom Sein sprechen.» Sie thematisiert in ihrer Ausstellung auf sehr eigene Art diesen Zwischen- und Umraum von Wissen und Nichtwissen, von anwesend und abwesend, verbunden mit der Frage nach dem «Gedächtnis der Welt». Damit schliesst sich der Kreis zur Ausstellung von Nicolas Polli, der ebenfalls in diesem erweiterten Feld operiert.

Selbst absichtslos, gutmütig, korrekt handelnd verschwimmt die Grenze zwischen wahr und falsch, wissen und nicht wissen, Fakt und Fiktion öfter als nicht. Bei mutwilliger Missachtung der Grenzen, bei Missbrauch der damit verbundenen Erwartungshaltungen, steht jedoch das vernünftige Zusammenleben der Menschen längerfristig auf dem Spiel. Die beiden Ausstellungen sind spannende, komplexe Kleinstücke zum Nachdenken über Fakten und Fiktionen in der Welt.

Coalmine, Turnerstrasse 1, Winterthur, bis 6. Juli