September 2012  /  Du 829

Von Liebe, Sehnsucht und dem Gelächter der Verzweiflung

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<p>Aus <em>City Diary</em> von Anders Petersen, soeben bei Steidl/Gun erschienen.</p>

Aus City Diary von Anders Petersen, soeben bei Steidl/Gun erschienen.

Wir treten ins Café Lehmitz ein, eine Kneipe in Hamburg. Dahin verschlägt es Anders Petersen Ende der sechziger Jahre. Zwei, drei Jahre lang verkehrt der junge schwedische Fotograf, der das Fotografieren, aber auch das Menschsein bei Christer Strömholm gelernt hat, in dieser Bierhalle, in der alle Förmlichkeiten und Floskeln, alle Wattierungen abgelegt und Leben auf Zahnfleisch gelebt wird – direkt, unverblümt, voller Galgenhumor und Verzweiflung, aber bisweilen auch ausgelassen tanzend. Ein rauer Ort, der dennoch wie ein Zuhause, wie ein Hort, wie ein last resort funktioniert, der gegen die Abgrün­de draussen abschottet und die Abgründe drinnen, und im eigenen Innern, zum Teil wenig­stens ertragen lässt. Aus Café Lehmitz wurde ein inzwischen berühmtes, direktes, gleichzeitig schonungsloses und liebevolles Buch über das Leben draussen, ausserhalb des Bürgertums, in den windigen, ungeschützten Zonen der Gesellschaft, in denen lediglich zählt, wer man, am Ende des Tages, wirklich ist. Das Buch ist, wie eine Dekade davor Liebe in Saint Germain des Prés von Ed van der Elsken, ein provokatives und lebendiges Dokument, und ein heftiger, greller Startschuss für ein intensives Fotografen-Leben. 

Anders Petersen liess diesem Projekt weitere folgen, eines über das Altern, in dem die Beschwerlichkeiten und die wenigen Augenblicke der Rührung, der Zärtlichkeit sich kaum die Waage halten, eines über das Gefangensein, ein genaues Beobachten der Menschen hinter Gittern, dem Leben unter Zwang, der Atmosphäre, die sich hinter den Mauern einstellt, und schliesslich ein Buch über die Menschen in psychiatrischen Kliniken. Dieses Pro­jekt hat Anders Petersen zweieinhalb Jahre lang beschäftigt, und es gelang ihm erst, als er anfing, tageweise, drei, fünf, sieben Tage lang, in der Psychiatrie zu leben und zu schlafen, und sich vor allem nachts in den Gängen zu bewegen. Während die beiden Bücher über das Altern und das Gefangensein mit einem dokumentarischen, reportierenden Ansatz operieren – Petersen führt vor, was mit diesem Ansatz zu leisten ist, wenn man sich die Zeit nimmt und eintaucht, wenn die Tiefe mit der Länge der Beschäftigung sich koppelt –, überraschen die Bilder in der Psychiatrie scheinbar mit einer Wende ins Theatralische. Das lange Zusammensein mit einzelnen Patienten, das Beo­bachten, sich Annähern, bis der Fotograf Teil der inneren Welten wird, führt zu Szenen, in denen das Abgründige, das Verletzte, das Verlorene des Daseins, in denen Depressionen, aber auch übersteigerte Höhenflüge, Traum­wel­ten in eindringlichen, dunklen, fast inszeniert wirkenden Bildern zu sehen sind. Doch das Theatralische ist Täuschung. Die Bilder wirken zwar so, obwohl sie ebenfalls aus direkter, sehr naher Beobachtung entstanden sind.

Die Stehbierhalle in Hamburg, das Altern, das Gefangensein in sich und in der Gesell­schaft machten es von Anfang an deutlich: Anders Petersen sucht die Ränder des Lebens, dort, wo die Ausgestossenen ihre Heimat finden, wo das Leben beschwerlich ist, wo es sich hart, aber auch direkt und maskenlos zeigt, dort, wo die Grenzgänger leben. Er zeigt uns kaum ein Bild aus der Mitte der Gesellschaft, der sogenannten Normalität des Bürgertums, aus der ausbalancierten, abgesicherten Schonzone, stattdessen Bilder von Rissen, von Zwängen, von Sehnsüchten, vom Gelächter der Verzweiflung – und von der tiefen, Bejahung des einzigen Lebens, das wir haben. Andersherum: In seinen Fotografien verwandelt sich Licht in Schatten, Oberfläche in Tiefe, Normales in ‚Unmorales‘.

In den vergangenen Jahren verdichtet sich Anders Petersens Werk zu einer Form von Tagebuch, von visuellen Begegnungen, allmählich macht dabei das Dokumentarische dem Performativen Platz. Sein Blick spitzt sich zu, reisst den Schein auf, steht Aug in Aug mit jedem scharfen Hund. Petersen wird «hypnotisch intim», hypnotisch präsent, steht haut­nah bei oder vor Bekannten, bei oder vor seinen Freunden, seiner Freundin, er weckt sie, fordert und fixiert sie, er nimmt teil und ist da – und durch­­­­­dringt das Gutgemeinte, das Wohlverhalten, ja das Zivilisatorische, zeigt fast animalisch die Kräfte, die in uns schlummern: Aggressivität, Sexualität, aber auch Sehnsucht und Wärme. Ein Fotograf nimmt hier sein Hingehen, Eingehen,  Gemein­sam-Gehen, sein Leben mit den anderen auf – in einer Fotografie voller leidenschaftlichem Humanismus, voller Intimität, direkt, ehrlich, im Schönen wie im Grauen, im Feinen wie im Heftigen. Ein Leben und eine Fotografie, die das Vulkanische und das wirklich Zärtliche in uns sucht, die voller Sehnsucht auf den an­de­ren Menschen zutritt. Fast zu nahe, doch erst dann riechen wir, dann bricht die Schale, erst dann sehen wir das kleine Glühen in der Asche. 

Von diesen Bildern an ist sein Werk ebenso Selbstporträt wie Dokumentation, ebenso Eigenes wie Fremdes. Es wird zur Kernschmelze von Innen- und Aussenwelt, von Menschen, die süchtig nach dem Leben sind. Zurzeit besonders eindrücklich zu sehen in den kürzlich erschienen drei Heften City Diary #1, #2 und #3.