2008  /  Walter Pfeiffer: In Love with Beauty (Scalo)

Von Schönheit und Heiterkeit

English Version: On Beauty and Exhilaration →
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Das Schöne gibt es. Wir alle erinnern uns daran, eine Landschaft, einen Menschen, eine Vase, einen Augenblick als besonders schön wahrgenommen zu haben. Aber wir wissen auch: Der Erste verliert sich mit Entzücken in der Weite und Stille der frühmorgendlichen Landschaft. Der Zweite friert gleichenorts an den Füßen und jammert, will nur schleunigst zurück zu feuchtwarmem Bauernbrot, frischer Butter und heißem Kaffee. Der Dritte wiederum hält ungefragt einen Vortrag über Bodenerosion und Luftverschmutzung und vergällt uns mit seinem Hinweis auf die Oberflächlichkeit unserer Betrachtung die visuelle Labung. Das Schöne existiert, das wissen wir. Dafür brauchen wir nicht erst die Erkenntnis der Wissenschaft, dass Natur Schönheit auch als reinen Selbstzweck hervorbringt. Aber wir tun uns schwer damit. Und nicht erst heute.

Die Philosophen helfen sich mit dem Trick aus der Patsche, zwischen dem, was gefällt, und dem, was vergnügt, zu unterscheiden. Sie ziehen also eine Grenze zwischen der niederen, unmittelbaren Befriedigung der Sinne und dem aufgeschobenen, sublimierten Vergnügen hochästhetischer Betrachtung. Das Erste ist pure Sinnlichkeit und wenig wert, das Zweite lässt sich gut mit dem Geist verbinden. Aus schönem Schein wird so schnell schönes und richtiges Sein. Diese Abwertung des Schönen, des schönen Scheinens gab es aber nicht seit jeher. In früheren Zeiten des Abendlandes wurde das Schöne geehrt. Das Wahre, das Gute und das Schöne waren eine untrennbare Einheit, vollendet letztlich nur im Göttlichen, aber als Teilhaber an der göttlichen Natur war es den Menschen gegeben, nach diesem Prinzip ihre Welt zu gestalten. Thomas von Aquin wusste es genau: „Zur Schönheit sind drei Dinge erforderlich. Erstens die Unversehrtheit oder Vollendung: die Dinge nämlich, die verstümmelt sind, sind schon deshalb hässlich. Ferner das gebührende Maßverhältnis oder die Übereinstimmung (der Teile). Und schließlich die Klarheit: deshalb werden Dinge, die eine strahlende Farbe haben, schön genannt.“ Mit der Aufklärung, mit dem Versuch, ein erstes, ursprünglich Wahres zu finden, begann der Niedergang des Schönen. Descartes trennte die humanistischen Fächer von der Philosophie, löste damit die Trias Wahres, Gutes und Schönes auf. Fortan hatte die Suche nach der Wahrheit absoluten Vorrang. Wahrheit und Vernunft wurden monogam und paarten sich alleine. Der schöne Schein wurde dem wahren Sein geopfert und die Kunst, von gesellschaftlichen Aufgaben entbunden, zum erbaulichen, schönen Ausgleich des Lebens abgewertet. Hegel erstickte schließlich die Kunst in einer grandiosen Ehrerweisung: „Das Reich der schönen Künste ist das Reich des absoluten Geistes.“ Damit entzog er ihr die ureigene Kraft der sinnlichen Ausstrahlung, denn sie hatte dazu zu dienen, die „Wildheit der Begierde zu mildern“. Und er versetzte ihre Hochleistungen in die Antike: Heute jedoch, im 19. Jahrhundert, wo der Geist zu sich selbst (zur Vernunft) komme, werde die Welt begrifflich erklärt und nicht mehr über die Kunst erfahren.

Die Kunst ist nicht ausgestorben, wie Hegel voraussagte, aber sie wollte fortan nicht mehr nur „schön scheinen“, sondern wahr sein, echt, real. Kunst wird im Folgenden konkret, das heißt, sie verweigert dem malerischen Zeichen auf der Leinwand jeden Bezug nach außen. Die Zeichen dürfen nicht mehr eine Landschaft vortäuschen, sondern nur sich selbst sein. Wirklich und wahr ist nur, was sich auf dem Malgrund ereignet, echt sind selbstreferenzielle Farbflächen auf Leinwand. Wenn Max Bill formulierte: „Sie (die konkrete Kunst) soll der Ausdruck des menschlichen Geistes sein, für den menschlichen Geist bestimmt, und sie sei von jener Schärfe und Eindeutigkeit, von jener Vollkommenheit, wie dies von Werken des menschlichen Geistes erwartet werden kann.“ – dann hören wir im Nachhall die scharfe Stimme Hegels, der die Kunst an den Weltgeist, an die Vernunft binden wollte. Schönheit hat ausgedient, wird ephemer; Schönheit darf nur sein, wenn sie eine Funktion hat, wenn sie nützlich ist. Oder sie existiert nicht.

Entsprechend kühl waren deshalb lange die Materialien der Kunst im 20. Jahrhundert, kühl war das analysierende Denken. Dunkel, ja düster, gaben sich die Farben, wenn überhaupt noch gemalt  wurde. Und die Betrachter und Betrachterinnen standen vor konzeptuellen Werken und kommentierten: interessant, stark, genau, erkenntnisreich. Oder sie standen vor subjektiven, mythologischen Werken und hauchten: eindrücklich, echt, potent. Die Eigenschaft, Wesenheit „schön“ wurde lange Zeit gemieden. Das Schöne, gemindert im Stellenwert, verschob sich in die Werbung, Mode und Gestaltung und feiert da seither superästhetische kommerzielle Höhenflüge.

Ohne großes Getöse, ohne das Raunen von Aura und Erhabenheit, das in den 1980er Jahren den Begriff des Schönen und Gewaltigen wieder möglich machte, legt Walter Pfeiffer seit Anfang der 1970er Jahre ein Werk vor, das sich scheinbar mit großer Unbekümmertheit dem Schönen und Heiteren widmet. Ein Werk, das nicht zu hadern, sich nicht zu grämen scheint, das mit Eleganz allen Abgründen ausweicht und mit Stil die Zeit überdauert. Das ist schon spürbar in der Serie „Carlo Joh.“, die Walter Pfeiffer in der berühmten Ausstellung „Transformer – Aspekte der Travestie“ 1974 im Kunstmuseum Luzern zeigte. Das Modell Carlo versucht, im Spannungsfeld von maskulin und feminin verschiedene Seinsweisen zu erproben und für die Fotografie darzustellen. Die Serie von kleinformatigen Schwarz-Weiß-Bildern auf dünnem, fragilem Dokumentenpapier kreiert eine eigene Ästhetik, eine besondere, fast transparente, divenhafte Schönheit. Der Travestiecharakter der Arbeit und das Spiel mit dem Schönen verschmelzen miteinander zu einer zartschillernden Serie von Identität in den 1970er Jahren. Es ist die Zeit der Fotoperformance, des Übergangs der reinen Dokumentation von Happenings und Performances in „Vorstellungen“, die alleine für die Kamera realisiert werden. Wie in Urs Lüthis Selbstinszenierungen so zeigt sich Carlos nur dem Fotografen – und durch die Fotografie auch uns. Doch die Bilder behalten ihren Erzählcharakter, wirken wie Ausschnitte aus einem nicht sichtbaren Film, aus einer verborgenen Erzählung. Es ist auch die Zeit des Pop. Entlassen aus der Totalität, dem Ganzen, aus der entrückten Objektivität wird zaghaft das Persönliche, Individuelle, Intime, und besonders das Ambivalente erprobt. „Carlo Joh.“ und mit ihm der Autor Walter Pfeiffer erkunden, im geistigen und körperlichen Sinn, das Sowohl-als-auch. Das Ambivalente, Gespaltene wird neues, noch fragiles Lebensprinzip.

Die 1980er Jahre zeigen einen ganz anderen Körper, ein anderes, gestärktes Selbstbewusstsein. Der schwule Körper wird nicht mehr verschämt und zart vorgestellt. Teils Testosteron- und Anabolika-gestärkt stellen sich wohlgeformte, trainierte und hochgestylte Körper mit starkem schwulem Selbstverständnis vor die Kamera Pfeiffers. Das Erzählerische schwindet zugunsten einer ikonischen Präsenz. Diese Fotografien werden zum Sinnbild eines außergewöhnlichen Jahrzehnts: des vielleicht hedonistischsten Jahrzehnts des christlichen Abendlandes. Einerseits entlassen aus Zucht und Ordnung, aus religiösen und gesellschaftlichen Werten, ist es das Jahrzehnt, das sich, scheinbar selbst gegen die Geschichte gefeit, den neuen großen, eben errungenen Freiheiten hingibt. Der Freiheit des Individuums, des Körpers, des Genusses, der Sexualität. Totale Hingabe, totales Ausleben, totales carpe diem, gefördert durch die Erfordernisse der neuen Werbung, des neuen Marketings, die den Körper als Werbeträger entdeckt haben. Andererseits ist es (zu Beginn) die Zeit vor Aids, die Zeit des großen Glücks beherrschbarer Sexualität: beherrschbarer Geschlechtskrankheiten, kontrollierbarer Fruchtbarkeit, „behandelbarer“ Schwangerschaft. Walter Pfeiffers Bildwelt der 1980er Jahre verkörpert diese Freiheit, diese Lust, dieses Glück. Als sei er süchtig, sucht er in einem fort das reine, lustvolle, schöne Gesicht, das nicht mehr Kind und noch nicht erwachsen ist, er sucht das reine Glück, die reine Schönheit, noch frei von Spuren eines gelebten Lebens, frei von Drama und Geschichte. So werden seine Fotografien von Individuen zum Spiegelbild eines Jahrzehnts, das während kurzer Zeit unter dem Zeichen größter Versprechungen von Glück, Lust, Schönheit und von der Freistellung von Realität der Lust frönte.

Das Jahrzehnt endet, nach vielen Vorboten, definitiv mit der „Rückkehr“, dem erneuten Einbruch der Realität. Der HIV-Virus entwickelt sich zur Aids-Seuche. Der Krieg im europäischen Bosnien bringt die harten Fakten menschlichen Zusammenlebens schmerzlich ins Bewusstsein zurück. Parallel dazu verstummt der Sänger von Schönheit und Heiterkeit. Walter Pfeiffer beginnt erst Anfang des neuen Jahrtausends, mit und nach Erscheinen seines Buches „Welcome Aboard“, wieder regelmäßig zu fotografieren. Diesmal mit Bildern, die die Schönheit in fast skulpturaler, griechischer Reinheit und Ruhe vorführen, oder das Leben als farbenfrohes Patchwork, als animiertes Stillleben präsentieren, oder mit Bildern, die mit einem neuen heiteren, kuriosen Witz – einer Verdoppelung, einer Verschiebung, einer Camouflage – die Realität der Dinge und der Gewissheiten auf den Kopf stellen. Seine Aufmerksamkeit gilt weiterhin dem jugendlichen Gesicht, der makellosen männlichen (oder neu auch weiblichen) Figur, der vollkommenen Schönheit, dem glänzenden, kratzerfreien Lack der Adoleszenz. Doch seine Haltung ist entspannter geworden, sein Standpunkt weniger sexualisiert. Die Jugend ist ewig, der Blick darauf hingegen wird reifer, älter, gefasster, gelassener, selbst wenn das Wohlgefallen ungebrochen anhält.

In „Menschliches, Allzumenschliches“ schreibt Nietzsche: „Der große Stil entsteht, wenn das Schöne den Sieg über das Ungeheure davonträgt.“ Diese Zeile liest sich fast so, als sei sie für Walter Pfeiffer geschrieben worden. Walter Pfeiffers Werk verkörpert zwar nicht die Ambition, das sogenannt „ganz Große“ zu avisieren, aber es beharrt auf der Schönheit, und zwar der reinen, nicht der konvulsivischen, der unverbrauchten, nicht der verlebten Schönheit. Wie ein Cellophanhersteller produziert Walter Pfeiffer heiteren, schönen, geistreichen Schein, der sich mit Zärtlichkeit über die Abgründe legt. Ein Bild gewordenes ewiges Lächeln, das  die eigenen und die Schmerzen der Welt mildert und verdeckt. Das Schöne, Heitere, Ornamentale als Entspannung angesichts der Wirrnisse, der Schwere, der Abgründe der Welt. Walter Pfeiffers Fotografie bedient sich im besten Sinne des Prinzips des Clowns, der hart daran arbeitet, zu erfreuen, das Heitere, Schöne zu betonen, einen Glanz ins Leben zu zaubern – und dahinter verbirgt sich leise und still die Melancholie des Vergehens.

 

Verwendete Literatur:

Friedrich Nietzsche: „Menschliches, Allzumenschliches“, in: Werke in drei Bänden, Bd. 1, herausgegeben von Karl Schlechta, Frankfurt/Main 1969.

Willy Rotzler: Konstruktive Konzepte. Eine Geschichte der konstruktiven Kunst vom Kubismus bis heute, 3. überarb. Aufl., Zürich 1995.

Beat Wyss: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik, München 1985.

Thomas von Aquin, Summa Theologiae I, q. 39, art. 8