Mai 2009

Walker Evans - Presserede
[Fotomuseum Winterthur]

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Meine Damen und Herren

Ich begrüsse Sie herzlich zur Medienvorbesichtigung der Ausstellung Walker Evans. Ich begrüsse besonders herzlich Carlos Colonet und Jeff Rosenheim, die zusammen die Ausstellung für die Mapfre Foundation in Madrid eingerichtet hat. Ich bedanke mich herzlichst bei der Mapfre Foundation und ihrem für die gute Zusammenarbeit, bei Swiss Re, Hunziker Betatech und der Jubiläumsstiftung der Schweizer Mobiliar für die Unterstützung der Ausstellung und beim Museumsteam für die umsichtige und effiziente Vorbereitungs- und Einrichtungs­arbeit.

Walker Evans ist 1903 in St. Louis in Missouri geboren worden. Er stammte aus einer begüterten Midwest-Familie. Sein Vater war Chef einer Werbeagentur. Einen grossen Teil seiner Kindheit verbrachte er in einem reichen Vorort von Chicago, doch nach der Scheidung seiner Eltern zog er mit seiner Mutter nach New York. Er wollte Literatur studieren und schrieb sich am Williams College ein, wo er zwei Semester lang fieberhaft Bücher las. Diese intensive Beschäftigung mit englischer Literatur erweckte in ihm den Wunsch, Schrift­steller zu werden. Er brach sein Studium ab, und beschloss 1926, nach Paris zu reisen. Wie viele andere Amerikaner konnte auch Evans seine künstlerischen Ambitionen nicht mit der materialistischen Welt der USA während der Zwischenkriegszeit vereinbaren. Weit weg von den Vereinigten Staaten, war es Evans Ehrgeiz, als Franzose durchzugehen. Um nicht als Amerikaner erkannt zu werden, sprach er Französisch, beschäftigte sich intensiv mit Baudelaire und verzichtete auf alles, was irgendwie amerikanisch aussah. Nach seiner Rückkehr aus Frankreich, wo er erfolglos versucht hatte, seine Begeisterung für Flaubert und Baudelaire in eine literarische Karriere einfliessen zu lassen, widmete er sich fortan ausschliesslich der Fotog­rafie und dem Sammeln von Postkarten und von „Vernaculars“, von alltäglichen Gegen­ständen und Zeichen der amerikanischen Gesellschaft. Er starb 1975. Ich betone die Geburts- und Todesjahre, weil der Schweizer Gotthard Schuh nur sechs Jahre früher geboren und sechs Jahre früher gestorben war. Die beiden sind also Parallelfiguren, Zeitgenossen, was vielleicht nicht ganz uninteressant ist.

Wir freuen uns sehr, Walker Evans zum allerersten Mal in der Schweiz präsentieren zu können. Nach Ausstellungen mit August Sander, Charles Sheeler, Albert Renger-Patzsch, Karl Blossfeldt und einigen anderen mehr, nach der Ausstellung mit Eugène Atget im letzten Jahr nun Walker Evans vorstellen zu können, ist ein besonderes Ereignis. Damit ist auch das zentrale Triumvirat von Aget, Sander und Evans – den drei vermutlich einflussreichsten, folgenreichsten Fotografen im dokumentarischen Bereich - nun voll.

Erstaunlich ist, dass Walker Evans in der Schweiz bisher nie gezeigt worden ist. Er ist ja nicht nur in der Geschichte der Fotografie, sondern auch der zeitgenössischen Kunst einer der einflussreichsten Fotografen über­haupt. Und wir glauben ihn zu kennen, obwohl wir vermutlich eher selten Originale gesehen haben. Als Evans starb, war er nicht nur der Fotograf mit den meisten Ausstellungen im Museum of Modern Art, New York (insgesamt waren es vier, 1933, 1938, 1962 und 1971), sondern auch der erste Fotograf mit einer Einzelausstellung in diesem wichtigsten aller amerikanischen Kunstmuseen. Ich argumentiere mit den beiden Hauptautoren im Buch (Jordan Baer und Chema Gonzalez), wenn ich sage: Und dennoch, er war ein unbequemer Zeitgenosse. Einerseits lehnte er die direkte Anekdote und jegliche Sentimentalität ab, die in den 1930er Jahren die Dokumentar­fotografie beherrschten, wie z.B. das Werk der Life-Fotografin Margaret Bourke-White und die Arbeiten Dorothea Langes, die zusammen mit Evans und anderen Fotografen von der Regierung beauftragt worden waren, die Auswirkungen der Grossen Depression auf die ländlichen Gebiete zu dokumentieren. Andererseits veranlasste ihn sein Streit mit Alfred Stieglitz praktisch seit Beginn seiner Karriere, Piktorialismus, Symbolismus und auch Stieglitzsche Kunstfotografie als seine ästhetischen Gegenmodelle zu definieren, gegen die er antrat. Ganz zu schweigen von der beissenden Kritik, mit der er den dokumentarischen Universalismus der Nachkriegsfotografie bedach­te, wie er sich in Edward Steichens Ausstellung The Family of Man (1955) manifestierte.

Wie also konnte ein solcher „Aussenseiter“ so berühmt werden? Evans grosses Verdienst war es, dass er unermüdlich die Grenzen und Möglichkeiten des Mediums auslotete und die Fotografie nicht als rein dokumentarisches oder literarisches, sondern als poetisches Dokument begriff. Wir sprechen deshalb bei ihm auch nicht von einem reinem Dokumentarismus, sondern von einem „documentary style“, seinem sehr eigenen poetischen Dokumentarstil. Evans verkörpert zwar den kühlen, distanzierten Fotografen, der scheinbar kaum Gefühle für seine Sujets entwickelt, gleichzeitig zeigt er aber mit grosser Genauigkeit eine im Untergang begriffene Welt – die des länd­lichen Amerikas, dessen Landschaft, materielle Überbleibsel und Lebensart er studierte und gestaltete. Seine Konzeption von der Fotografie als einem Dokument, in dem sich die Wirklichkeit, ihre Zeichen fast selbsttätig zeigen, hat die moderne Kunstwelt auf sein Werk aufmerksam gemacht. Er gilt als Wegweiser der unmittelbaren urbanen Fotografie der 1950er Jahre und Vater der Generation von Robert Frank, Lee Friedlander, Garry Winogrand und Diane Arbus. Und in den sechziger und siebziger Jahren entwickelten Pop-artige, minimalistische und kon­zeptuelle Künstler ihre Kritik der Moderne. Sie wandten sich, auf der Suche nach Realitätsnähe, nach dokumentierten Ereignissen der unpersönlichen und faktischen Fotografie zu, die das Bild von historischen Einflüssen und Bezügen und damit von seiner Einbindung in die Theorie malerischer Genres (Porträt, Geschichte, Landschaft und Stillleben) befreien konnte. Nebst vielen anderen seien Robert Rauschenberg und Bernd und Hilla Becher hier erwähnt.

 

Seine Kenntnis vom Werk Eugène Atgets gewann Walker Evans erstaunlicherweise nicht während seines Aufenthalts in Paris, sondern er hat sie Berenice Abbot zu verdanken. Er lernte Atgets Werk um 1929 kennen, also zwei Jahre nach dessen Tod, als die amerikanische Fotografin und Assistentin von Man Ray Berenice Abbot alle, d.h. Tausende von Negativen und Abzügen aufkaufte, die Atget in seinem Studio aufbewahrt hatte. In der Absicht, sie in Buchform zu publizieren und auszustellen, brachte sie die Arbeiten in die USA, und schenkte Evans 1929 vier Kopien. „Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich ihn entdeckte, aber dann war ich wie elektrisiert, ja richtiggehend alar­miert“, sagte Evans. Es war Atget, der Evans den kulturellen Wert des beiläufigen Details beibrachte. Gott in kleinen Details, d.h. in der Wahr­neh­mung von geheimen Winkeln, von Gegenständen und Innenräumen als den Artefakten einer bestimmten Zeit. Nach der Entdeckung von Atgets Fotografierprinzip distanzierte sich Evans vom Piktorialismus, von der Sentimentalität der Strassenfotografie. Auch von den Formexperimenten des Neuen Sehens, den steilen Auf- und Untersichten. Er begann aus aufrechter Position, aus der Normalsicht heraus die Welt, ihre Typen, ihre Zeichen, ihre Strukturen genau zu betrachten. Alltägliches, Objekte, Menschen, Strassenzüge, die dadurch, dass sie in einem Rahmen, in einem Bild existierten, als das Vermächtnis einer spezifischen Kultur und Gesellschaft betrachtet werden konnten.

Drei Beispiele dazu:

 

Anfang der dreissiger Jahre widmet er sich dem Baustil der südlichen USA:  Photographs of 19th Century Houses (Fotografien von Häusern aus dem 19. Jahrhundert) hiess den auch seine erste Ausstellung im Museum of Modern Art. Diese oft grossformatigen, frontal aufgenommen, schlichten Bilder von Hausfassaden prägen die Wahrnehmung seines Werkes vielleicht am allerstärksten. Dabei übersehen wir leicht, dass sich Evans von Projekt zu Projekt auch medial weiter entwickelt hat.

In der aufsehenerregenden Reportagearbeit von Mai 1933 für The Crime of Cuba von Carleton Beals, beschäftigte er sich mit dem Strassenleben in Havanna vom Standpunkt des Passanten aus. Während dieser Reise, die nur drei Wochen dauerte, be­schreibt Evans die comédie humaine Havannas mit Präzision. Hier, in einer durch politische Unterdrückung zerstörten Gesellschaft, fing Evans die ersten Bilder von Armut und Verzweiflung ein, die für seine spätere Arbeit im Süden der reinigten Staaten charak­teristisch werden sollten.

Die zweite Hälfte von 1935 entpuppte sich als eine entscheidende Phase, in der Evans mehrere Bilder machte, die zu den spektakulärsten und nachhaltigsten Werken in der Geschichte der Fotografie zählen. Der New Deal war ein System von neuen Regierungspro­grammen und -agenturen, die nach dem Zusammenbruch von 1929 und der nachfolgenden Depression zur Stabilisierung der nationalen Wirtschaft beitragen sollten. Die Regierung des New Deal wollte die Armut auf dem Land in Bildern festhalten und sich dafür verbürgen, die dort herrschende Not zu lindern. Walker Evans wurde für eine Studie über eine ländliche Kooperative in West Virginia eingeladen, die die Regierung aufge­baut hatte, um die massive Arbeitslosigkeit im einheimischen Industriesektor zu lindern. Auf diese Bilder war Roy Stryker aufmerk­sam geworden. Stryker war der Leiter der Informationsabteilung der Resettlement Admi­nistration, der späteren Farm Security Administration (FSA), einer Agentur, die die Not der Landarbeiter dokumentieren und lindern sollte. Evans befürchtete anfangs, die Regierung würde ihm ihre propagandistischen Ziele aufzwingen. Um dem vorzubeugen, wollte er das Copyright auf die für das Unternehmen produzierten Bilder bei sich behalten, allerdings ohne Erfolg. In einer Notiz betont er, dass er „auf keinen Fall regierungsfreundliche Fotos oder fotografische Einsätze für die Reg. oder irgendjemanden in der Reg. machen würde, egal wie einflussreich – das ist reine Dokumentation, keine Propaganda ... KEINE POLITIK jedweder Art.“ Doch er nahm den Auftrag wie rund 20 andere Fotografen, darunter Ben Shan, Dorothea Lange und Marion Post Welcott, auch aus finanziellen Gründen an.

1936 spitzte sich seine Arbeit zu. Er nahm zusammen mit dem Schriftsteller James Agee ein neues Projekt in Angriff: eine Dokumentation über das Elend der Südstaaten-Farmer. James Agee arbeitete damals für das Fortune-Magazin. Die ziemlich konservativen Redakteure schreckten schliesslich vor dem fertigen Produkt zurück, weshalb es erst 1941 als epochales Buch unter dem Titel Let Us Now Praise Famous Men (1941) erschienen ist. Agee und Evans machten Bekanntschaft mit einem Baumwollfarm-Pächter namens Frank Tingle und witterten die Gelegenheit, die Armut auf dem Land hautnah zu erfahren. Sie schafften es im Lauf ihrer Gespräche, das Vertrauen des Farmers zu gewinnen, und ihn dazu zu bewegen, die beiden Abenteurer aus der Stadt als zahlende Gäste in ihrer winzigen Familienhütte aufzunehmen. In den folgenden Wochen entstanden dann die Fotografien, die Evans’ Ruf als einer der herausragenden Künstler des zwanzig­sten Jahrhunderts begründeten. Diese auf einer diskreten Distanz gründenden, dennoch direkten, einfachen Porträts von Haus und Familie. - Es muss ein seltsames Paar gewesen sein, der engagierte Politaktivist James Agee und der distanzierte Walker Evans.

Vorhin habe ich erwähnt, dass sich Evans auch immer medientechnisch, fotografiemethodisch weiter entwickelt hat:

So traf Walker Evans, als ihm das Museum of Modern Art den Auftrag gab, vierhundert Exponate afrikanischer Kunst abzulichten, eine Reihe scheinbar simpler kompositorischer Entscheidungen, die enorme Auswirkungen auf die spätere Deutung dieser Gegenstände und ihrer Beziehung zur modernen Kunst haben sollten. Die afrikanischen Gegenstände wurden nicht in ihren ethnographischen oder rituellen Zusammenhang gestellt, wie das den Gepflogenheiten eines ethnologischen Museums entsprochen hätte, sondern vielmehr bewusst aus diesem Kontext herausgenommen, um ihre formalen und ästhetischen Dimensionen zu enthüllen.

Gegen Ende des Jahres 1938 und immer wieder während der folgenden drei Jahre liess sich Evans auf ein völlig neues Experiment in der Porträtfotografie ein. Er stieg in die New Yorker Metro hinunter, um mit einer unter seinem dicken Wintermantel versteckten 35mm-Contax-Kamera, deren Objektiv diskret zwischen zwei Knöpfen hervorlugte, Fahr­gäste zu fotografieren. Er arbeitete mit einem Fernauslöser, dessen Schnur er umklammert hielt. Die Tiefen der Untergrundbahn bezeichnete Evans als „Traumlocation für jeden Porträt­foto­grafen, der das Studio und die Gräuel der Eitelkeiten satt hatte … Die Wach­samkeit ist reduziert, und die Maske wird abgelegt … die Gesichter der Leute da unten in der Subway sind nackt und entspannt.“

Und schliesslich konvertierte er trotz seines Misstrauens gegenüber der bildgestalterischen Wirksamkeit von Farbe in der letzten Phase seines Schaffens überraschenderweise und nutzte sie als neue Sichtweise. Die 1974 neu auf dem Markt eingeführte Polaroid SX-70 ersparte ihm die harte Arbeit in der Dunkelkammer und bot so dem Künstler die Chance, trotz angegriffener Gesundheit schöpferisch tätig zu bleiben. In diesen Bildern kehrt seine Vorliebe für Sprache nochmals in aller Deutlichkeit zurück. Sie tritt gar in den Vordergrund, während sie in seinen früheren Fotografien sichtbarer, aber auch  beiläufiger Teil gewesen war.

Quintessenz dieses reichen Künstlerlebens: Die konzeptuellen, methodologischen Entscheidungen in seiner Fotografie, die Präzision seines Sehens, der Wunsch, die Welt zu sammeln und das riesige Feld, das er mit seiner Fotografie eröffnete und das von unzähligen Fotografen danach beschritten worden ist, machen Walker Evans zu einem der allerwichtigsten Fotografen der Fotogeschichte. Ich hoffe, Sie finden Gefallen daran.

Vielen Dank.