2023  /  MAST Foundation Grant of Photography in Industry and Work, 2022

Wandel der Arbeit (MAST Grant)

1/5

Maria Mavropoulos

Lebohang Kganye

Hicham Gardaf

Salvatore Vitale

Farah Al-Qasimi 

„Die Arbeitswelt befindet sich in rasantem Wandel“[1], das steht – auf den Wirtschaftsseiten – in jedem zweiten Zeitungsartikel geschrieben. Die Digitalisierung, die ausgedehnte Automatisierung, aber auch die veränderten Erwartungshaltungen der ArbeitnehmerInnen und die neuartigen Arbeitskonzepte stechen das Arbeitsfeld gerade wieder um, einmal, zweimal, mehrmals. Online-Ratgeber im Personalbereich wissen gleich immer, wie man diese gewaltige Transformation für sich, zu seinem eigenen Vorteil nutzen kann. „Arbeit 4.0“ heisst die neue Situation im deutschen Sprachbereich und meist in der EU, „New Work“ ist hingegen der gebräuchliche Begriff in anderen Teilen der Welt. 

Die fünf Finalisten des MAST Photo Grant 2023 – Farah Al-Qasimi, Hicham Gardaf, Lebohang Kganye, Maria Mavropoulou, Salvatore Vitale – beschäftigen sich alle so auffallend stark mit dem Wandel von Arbeit, dass es sich lohnt, dazu ein wenig auszuholen.

Den ersten Schritt zur neuen Arbeitswelt ermöglichte die Nutzung der Dampf- und Wasserkraft, um Maschinen zur Produktion und Schiffe zum Transport anzukurbeln. Erstmals konnten damit Waren maschinell in grossen Stückzahlen hergestellt werden. Rückblickend könnte man diesen ersten Schritt der industriellen Revolution Mitte des 18. Jahrhunderts „Arbeit 1.0“ nennen. Der zweite Schritt, also „Arbeit 2.0“, folgte rund ein Jahrhundert später dank der Elektrifizierung. Sie ermöglichte als wesentliche Eigenschaft erstmals die räumliche Trennung zwischen dem Energieverbraucher, beispielsweise einem elektrischen Antrieb oder einer Beleuchtung, und dem Kraftwerk, in dem verschiedene primäre Energiequellen – Wasser, Kohle, Öl - in Strom umgewandelt werden. Im industriellen Bereich ermöglichte sie zudem die Ablösung von räumlich beschränkten und mechanisch aufwändigen Energieverteilungssystemen wie der Transmissionswelle. Das erlaubte eine immer feinere, kleinere Aufteilung der Arbeitsschritte. Eindrückliches Sinnbild dafür waren und sind die ersten Fliessbandproduktionen in den Ford-Werken.

In den 1970er Jahren setzte „Arbeit 3.0“ ein, die dritte markante Welle der industriellen, technologischen Revolution. Von da an beschleunigte sich die Automation, schrittweise wurde sie durch Computer, später auch durch Industrieroboter unterstützt. Und heute nun startet eben „Arbeit 4.0“ durch, die mit der vierten Revolution zusammentrifft, die der italienische Philosoph Luciano Floridi als das Eindringen und Dominieren von Information- und Kommunikationstechnologien beschreibt: „The information society is better seen as a neo-manufacturing society in which raw materials and energy have been superseded by data and information, the new digital gold and the real source of added value.“[2]

Diese rund 250 Jahren bezeichnen wir üblicherweise als industrielle Revolution,  vor allem dann, wenn wir vornehmlich an die technisch-technologische Entwicklung denken, oder als Industriekapitalismus, wenn wir den mit der industriellen Revolution einhergehenden wirtschaftlichen Wandel in den Fokus stellen oder als Moderne, wenn wir an die Gesamtheit an sozialen und kulturellen Änderungen, die damit verbunden sind, denken. 

Es ist nicht so, dass vor diesen 250 Jahre die Zeit still gestanden ist, so gab es in Europa seit dem Hochmittelalter und in Arabien oder China noch früher einen florierenden Kaufmannskapitalismus. „Die europäische Staatenbildung wäre ohne den Kapitalismus der Medici, Fugger oder Barings nicht möglich gewesen.“[3] Es gab auch schon den grausamen Plantagenkapitalismus, der im Zuge der Kolonialisierung der Welt im 16. Jahrhundert etabliert worden war. Oder den Agrarkapitalismus, der zur „Zusammenfassung grösser Ländereien in den Händen adliger und bürgerlicher Eigentürmer geführt hatte. Während die Gutsherren Ostmittel- und Osteuropas ihre Getreide auf internationalen Märkten nach kapitalistischen Grundsätzen verkauften, aber ihre Arbeitskräfte noch als Leibeigene, in Knechtschaft oder als Gesinde ausnutzten.“[4]

Aber die Dynamik, die Geschwindigkeit, die Radikalität, mit der sich in den 250 Jahren die Technologie, die Wissenschaft und die Wirtschaft entwickelten, war nahezu ungeheuerlich. Wir sprechen deshalb oft von dieser Zeit als einer permanenten Revolution, einer rasend schnellen Entwicklung, die das Leben jedes einzelnen Menschen zumindest einmal pro Leben in seinen Grundfesten erschüttert. Karl Marx formulierte es so: „Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung der gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeois-Epoche vor allen anderen aus.“[5] Fortwährende, ständige schnelle Innovation wurde zum zentralen Motor in der Gesellschaft, die in der Folge mehrfach umgewälzt wurde. Lohnarbeit wurde zum Massenphänomen, und damit änderte sich die Lebensweise durch die Arbeitsorte, die Arbeitsschichten, die Arbeitshierarchien ständig. Kein Stein blieb auf dem anderen, wenn man von heute aus zurückschaut. Vom Arbeitskampf des 19. Jahrhunderts, den Hungerlöhnen, den Gewerkschaften zur Aufwertung der Arbeit während der Hochblüte der sozialen Marktwirtschaft in den 1960er und 1970er Jahren,  hin zum Wissensarbeiter und zu einer Situation, die Thomas Friedmann, Autor zur Globalisierung und zum Strukturwandel im Informationszeitalter, in einem Gespräch so formuliert hat: „Because if work is being extracted from jobs, and if jobs and work are being extracted from companies—and because, (…) we’re now in a world of flows—then learning has to become lifelong. We have to provide both the learning tools and the learning resources for lifelong learning when your job becomes work and your company becomes a platform.”[6] Er stellt damit den erneut grundsätzlichen Wandel der Realität von Arbeit heute heraus. Den steigenden Einfluss der künstlichen Intelligenz lassen wir noch beiseite.

Damit kommen wir nun zu den Arbeiten der Finalisten und Finalistinnen:

Farah Al-Qasimi beschäftigt sich mit der grossen arabischen Community in Dearborn, im Staate Michigan. Wikipedia beschreibt die Stadt so: „Die Stadt ist die Heimatstadt von Henry Ford und Sitz des Welthauptquartiers der Ford Motor Company. Die Entwicklung und Prägung der Stadt ist weitgehend auf Ford zurückzuführen. (…) Dearborn hat mit über 29.000 arabischstämmigen AmerikanerInnen (laut dem Zensus von 2010 entspricht dies 41,7 % der Gesamtbevölkerung der Stadt) die zweitgrösste arabische Gemeinde innerhalb der Vereinigten Staaten. Araber siedelten sich zuerst hier an, um in der Automobilindustrie zu arbeiten. (…) Dearborn ist Sitz des Ford-Rouge-Werkes. (…). Zu Spitzenzeiten beschäftigte es 100.000 Mitarbeiter und produzierte komplette Fahrzeuge.“[7] Farah Al-Qasimi bewegte sich bei Tag und bei Nacht durch die Stadt und beobachtete sie als Verkehrs- und als Kultursystem. Sie versucht gar nicht erst, in die Ford-Fabriken reinzukommen, da man in der Regel nicht frei fotografieren darf, sondern beobachtet die Menschen konkret, ihr Tun, ihr Warten, ihr Fahren zur Arbeit und den Niederschlag der Tätigkeiten und Reaktionen auf den Wänden der Stadt. Sie erstellt eine Art von Amalgaman von Blicken auf die reale und auf die fotografierte, plakatierte Stadt, von privaten und öffentlichen Zeichen also, in einer Stadt, die selbst ein Mix aus arabischen und US-amerikanischen Manifestationen darstellt. Schliesslich re-inszeniert Farah Al-Qasimi die fotografierten Welten wie ein Stück Stadtmauer im Ausstellungsraum, mit all ihren Überlagerungen, mit all ihren persönlichen und kulturellen Codierungen.

Lebohang Kganye ist zu gleichen Teilen eine verführerische und eine vertiefende visuelle Erzählerin. Wie im chinesischen Schattentheater inszeniert sie mit fotografischen Pappfiguren und theatralischem Licht Szenen aus dem Leben Südafrikas und stellt sie im Ausstellungsraum zu kleineren und grösseren Inszenierungen zusammen. She re-inacts, re-imagines, re-installs and re-mixes reale Situationen, reale Ereignissen mit ihren literarischen Spiegelungen und Überhöhungen zu einem eindrücklich fantastisch-realen Bildtheater. „In the work Keep the Light Faithfully (2022) Lebohang Kganye re-imagines western literature of the rarely known and gendered narratives of hundreds of women light keepers from the nineteenth and twentieth century. Including Lenore Skomal’s The Lighthouse Keeper’s Daughter (2010) - a tale of Ida Lewis, who tended the light at Lime Rock Lighthouse. As history would have it, Lewis became known for her many rescues of men in the Atlantic Ocean near Rhode Island, from as early as 1858.”[8]  Von ihrer Recherchereise kam Lebohang Kganye jedoch mit leeren Händen zurück, praktisch alle Leuchttürme sind automatisiert, die Lichtwächterinnen sind verschwunden. Aber sie inszeniert und erfindet hier, eingebunden in Oral histories, neue Erzählungen, und lässt damit die lightkeepers wiederauferstehen. Sie ist seit ein paar Jahren ständig auf der Suche nach kollektiven Erinnerungen, hier nach, wie sie selbst schreibt, “Tales marked by long periods of isolation, of their rescues, of voyages disrupted by storm tossed seas and gale-force winds, stories of the monotonous tasks that frame the life of a lightkeeper - as well as the impact of rapid technological developments and advancements on an already relatively invisible form of labour and public service.”[9]

Salvatore Vitalis Beitrag „Death through GPS“ ist radikal in mehrerer Hinsicht, Seine Präsentation wirkt wie ein Labor, ein TV-Studio und ein Agitationsschauplatz zugleich. Er mischt Dokumentarfotografien mit inszenierten Sabotagevideos, mit einem gesampelten und hart geschnittenen Video. Alles vor einer ultramarinblauen Wand, einem Lager- und Präsentationsgestell. Sein Thema ist cutting edge, es formuliert die Frage nach dem Menschen in der gegenwärtigen technologischen Revolution, in der jedes Handeln, jedes Sein von der Technologie, von der Automatisierung der Arbeitsprozesse und vom Markt her bestimmt wird. Er selbst schreibt: „Der erste Teil dieses Langzeitprojekts konzentriert sich auf das Gebiet von Gauteng, Südafrika und stellt insbesondere eine Verbindung zwischen der Gig Economy, dem Bergbau und dem Bergbautätigkeit und dem Begriff der technologischen Sabotage. Im Spätkapitalismus und als Folge der Auslagerung von Arbeit wurden die Menschen zu ‚Software-Erweiterungen‘. Diese Position eröffnet ein Paradoxon, in dem Arbeiter neue Strategien zur Sabotage, zum Kampf und zum Streik gegen die Software entwickeln.“[10] Er verlässt dabei die Position des Dokumentierenden mehrfach, stellt Arbeiter zu vernünftigen Löhnen an, lässt digitale Tools, Laptops etwa, explodieren, bewegt sich, in der Nähe von Johannisburg, im Graubereich zwischen Gig Economy und Goldgräberstimmung, zwischen Data und Materie, und filmt oft Menschen, junge Menschen, die in mehrfacher Hinsicht prekär leben.

Hicham Gardafs Arbeit wirkt auf Anhieb wie das genaue Gegenteil von Salvatore Vitales Werk. Statt „Death through GPS“ heisst es bei ihm „In Praise of Slowness“, die Kehrseite der Medaille. Das Video von Salvatore Vitale beginnt mit einem extrem hektischen, hoch angespannten jungen Autofahrer, der im  Verkehrstau beinahe seinen ersten Herzanfall zu kriegen scheint, in den Fotografien und im Film von Hicham Gardaf hingegen erleben wir Ruhe, normalen Herzschlag, ja einen gelassenen Lebensrhythmus, mit gleichwohl anstrengendem Arbeitspensum. Hichams Projekt findet in Tanger statt. Thema ist der Gegensatz zwischen dem prosperierenden, wachsenden, wuchernden Teil der Stadt auf der einen Seite und der Altstadt mit ihrem althergebrachten Klang, den kühlenden Mauern, dem bedächtigen Schritt auf der anderen. Hicham Gardaf führt uns das in seinen Fotografien und in seinem Film vor, und zwar anhand von Männern, von Strassenverkäufern, die mit immer gleichem Ruf Bleichmittel ankündigen, die sie zu den Bewohnern bringen und anschliessend die gebrauchten leeren Plastikflaschen gleich wieder einsammeln. Ein immer wieder kehrendes Ritual, mit der Ruhe und der Stärke einer Handlung, die im sozialen und kulturellen Feld eingebettet ist. Dominik Czechowski schreibt dazu in seinem eindrücklichen Text: „Unter dem Einfluss der fortgeschrittenen Technologie auf das Alltagsleben und der Kräfte der kapitalistischen Deterritorialisierung (Deleuze und Guattari) mit ihrer Politik der Destabilisierung und Erosion durchläuft Tanger, eine hybride Stadt mit ihren sich ständig ausdehnenden Industriegebieten, einen beispiellosen sozialen Wandel und eine beschleunigte Urbanisierung.“ Hicham Gardaf verfolgt diesen Fortschritt zweifelsohne mit Skepsis, weil wir darin unser Zentrum, unsere innere Orientierung verlieren und mit der Zeit rastlos Getriebene werden, bestimmt durch die Regeln der Technologie und des boomenden Marktes. In diesem Sinn sind Salvatore und Hicham wiederum Brüder im Geiste.

 

Maria Mavropoulou steht mit Absicht am Schluss dieser Einleitung. In ihrer Arbeit geht sie einen deutlichen Schritt weiter, als wir es bisher konnten, wussten oder gewohnt waren. Maria Mavropoulous „In their own image, in the image of God they created them“ nutzt die aktuellste, öffentlich zugängliche KI-Technologie. Nikolas Ventourakis beschreibt ihre Vorgehensweise so: „Mavropoulou fügt eine Reihe von Textaufforderungen in einen Text-zu-Bild-Algorithmus ein: ‚Eine komplexe und ausgeklügelte Struktur von Rohren, Ventilen, Manometern, die in Ölraffinerien verwendet werden‘. Die KI, die zu diesem Zeitpunkt über einen unfassbar großen Datenbestand verfügt, braucht keine Muse, um sich inspirieren zu lassen. Milliarden von Fotos dienen als Referenzpunkte und leiten die Maschine zu ihrem Ziel, die Anfrage in einer visuellen Ausgabe zu interpretieren, die die scheinbare Essenz dieser Parameter erfüllt, aber auch abstrakt darauf anspielt. Die Künstlerin wählt dann aus den algorithmisch zusammengestellten Bildern ein Bild aus, das ihr ästhetisch zusagt, und bittet das Programm im nächsten Schritt, weitere Variationen davon zu erstellen. Die einzelnen Bilder würden dann als Kachelelemente in ihren Kompositionen verwendet.“[11] Maria Mavropoulou bearbeitet dann das Resultat weiter, multipliziert die Kacheln, verbindet sie, wählt aus, und mit einer scharfsinnige Spiegelung, Verdoppelung lässt sie uns das Bild, die entstandene Bildwelt vertraut erscheinen. Es entstehen dabei so eindringliche, fast wildfeurige Bilder, dass wir uns eher der Frage zuwenden, ob KI einst Kunstwerke mit grosser Bedeutung herstellen könnten, als dass wir uns fragen, ob damit für immer die Referenz einer Fotografie auf die Wirklichkeit in Frage gestellt ist. Denn entscheidend ist hier der Schritt von der Sprache zum Bild, dass die KI den eingegebenen Satz mit Hilfe eines gigantischen Trainingarchivs in Bilder verwandelt, deren Ursprung wir nie mehr ganz eruieren können.

Ja, die Arbeit, die Arbeitswelt und die Bilder der Arbeit sind tatsächlich in einem schnell drehenden Karussel gefangen.


 
[1] https://www.personio.de/hr-lexikon/arbeit-4-0
[2] Luciano Floridi: The Fourth Revolution: How the Infosphere is Reshaping Human Reality". Oxford: Oxford University Press, 2014, p. 218 
[3] Jürgen Kochta: Arbeit im Kapitalismus. Lange Linien der historischen Entwicklung bis heute, aus Politik und Zeitgeschichte, ISSN 2194-3621, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, Vol. 65, Iss. 35/37, pp. 10-17, 2015
[4] Jürgen Focke: Arbeit im Kapitalismus. Lange Linien der historischen Entwicklung bis heute, aus Politik und Zeitgeschichte, ISSN 2194-3621, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, Vol. 65, Iss. 35/37, pp. 10-17, 2015
[5] Karl Marx, zit. Ebenda, 2015
[6] Deloitte interviews Thomas Friedman: The Future of Work - Consultant's Mind (consultantsmind.com)
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Dearborn (Stand 6.12.2022)
[8] Lebohang Kganye, unpublished notes, 2022.
[9] Lebohang Kganye, unpublished notes, 2022
[10] Salvatore Vitale: Death through GPS, unpublished notes, 2022
[11] Nikolas Ventourakis: Nach ihrem eigenen Bild, nach dem Bild Gottes haben sie sie geschaffen, 2022. Hier im Buch auf Seite XX.