2007

Was ist Qualität in der Fotografie?

1. Was verstehen Sie ganz allgemein unter Qualität in der Kunst?

Gleich zu Beginn eines Interviews die Frage nach Leben und Tod? Qualität wird genährt durch Präsenz, Inhaltlichkeit, Stimmigkeit, Komplexität eines Werkes, und einiges mehr. Es existieren werkimmanente Kriterien für Qualität. Wichtig ist aber auch die Situierung eines Werkes im Kontext, in der Gesellschaft, in der Zeit. Auch darin liegt «Qualität». Qualität findet sich also nicht nur im Werk selbst, sondern auch zwischen den Werken, zwischen dem Werk und der Welt, zwischen dem Künstler und seiner Haltung und dem gestalteten Werk und der Welt. Ein Werk muss zum Beispiel ein bestimmtes Mass an Aktualität enthalten, damit die Betrachter die Qualität eines Werkes in einer bestimmten Zeit auch erkennen können. Und gleichzeitig hoffen wir, dass es nebst den offen daliegenden auch verborgene Qualitäten aufweist, die es die Zeit überdauern lassen. 


2. Was verstehen Sie unter einer «Fotografie»?

Eine Fotografie ist das Resultat eines optischen und chemischen Prozesses, realisiert mit einem Lichtaufzeichnungsapparat und mit chemischen Entwicklungsprozessen, die es zusammen erlauben, die perspektivische Wahrnehmung der Welt, wie sie seit der Renaissance konstruiert wird, zu fixieren. Optik und Chemie gehen hier Hand in Hand, um ein Wahrnehmungsmittel mit großer Wirkung zu erzeugen. Nach dieser einfachen Beschreibung wird es komplexer, je nachdem, ob wir in wahrnehmungstheoretischer, in semiotischer, in weltanschaulicher oder medientheoretischer Hinsicht das Phänomen «Fotografie» beschreiben wollen. Jedenfalls kann es ebenso als ein banaler Alltagsgegenstand, als ein gesellschaftlich-kulturelles Phänomen wie auch als Kunstgegenstand im engeren Sinne betrachtet und verstanden werden. Und je nach Gebrauch der Fotografie, je nach Kontext verändern sich auch die Kriterien ihrer Wahrnehmung und Wertschätzung, mithin ihrer Qualität.


3. Gibt es allgemeingültige Qualitätsmerkmale in der Fotografie?

«Allgemeingültig» kann wohl immer nur bedeuten, zu einer bestimmten Zeit intersubjektiv, das heißt von mehreren Subjekten, von einer Gruppe, von vielen als gültig und wichtig erachtete Kriterien. Diese Relativität der Qualität gilt für alle Kunst. In der Fotografie gesellt sich eben erschwerend dazu, dass Fotografie für die unterschiedlichsten Zwecke eingesetzt wird. Die Gruppe der gewerblichen Fotografen wird sich mit fotokünstlerischen Äußerungen besonders schwer tun, wenn die von ihnen erlernten, geschätzten und verwendeten Kriterien der richtigen Grauwertverteilung, der korrekten Farbwiedergabe gemäß der Kodak- oder Fuji-Farbskala, der Schärfe des fotografischen Korns nicht erfüllt sind. Für einen Künstler hingegen kann es gerade entscheidend sein, all diese Vorstellungen über Bord zu werfen. Ein Beispiel aus der Fotogeschichte mag diese Problematik noch etwas verdeutlichen: Die Piktorialisten, Vertreter einer vorherrschenden Stilrichtung um 1900, wehrten sich gegen den Vorwurf an die Fotografie, sie sei eine mechanistische Darstellung, indem sie mit allen möglichen Mitteln ein sanftes, atmosphärisches Bild erzeugten. Fotografien, mit Gummi und Bromöl auf weiches, offenes Aquarellpapier gedruckt, verwandelten jedes scharfe Negativ in ein malerisches, romantisches oder impressionistisches Bild – bläulich, bräunlich oder olivgrün eingefärbt. Die Moderne der Fotografie jedoch begann sich seit den zwanziger Jahren auf ihre eigenen Mittel zu besinnen. Die Fotografie wurde selbstbewusster, entwickelte ein eigenes forschendes Sehen der Welt, ein direktes, schnörkelloses Erkunden der sichtbaren Wirklichkeit aus verschiedenen Perspektiven, ohne in den Fundus der Malereigeschichte zu greifen. Fotografie wurde «straight», scharf und klar, mit der Verpflichtung, immer das volle Negativ, also alles Gesehene, zu belichten. Hier haben sich Gestaltungs- und damit auch Qualitätskriterien sehr deutlich innerhalb von 10 bis 20 Jahren ins Gegenteil verkehrt. 


4. Welches sind für Sie spezifische Qualitätsmerkmale der Fotografie, die für andere Medien so nicht gelten? 

Ein klassisches Qualitätsmerkmal der Fotografie ist die Printqualität. Der Begriff «Fine Art of Photography» unterstreicht den Kult des guten Abzuges, der fein verteilten, reichen Grauabstufungen, der tiefen Schwärzen, der perfekt gesetzten Spitzlichter. An Auktionen manifestiert sich diese Fetischisierung sehr deutlich. Vor lauter Konzentration auf diese Qualitäten wird leicht der Inhalt, der Gehalt des Bildes übersehen. Diese Ausrichtung auf die Fotografie als Artefakt funktioniert aber nur bei alten Silbergelatine-Abzügen. Farbabzüge auf Plastikpapier und zeitgenössische Digitalprints erlauben diesen Fetischismus nicht mehr in gleicher Weise. Dennoch: In der (klassischen) Fotografie hat sich ein Rest herkömmlicher Qualitätsvorstellungen erhalten, die in der zeitgenössischen Kunst so nicht mehr vorhanden sind, weil heute Eingriffe ins Leben im Vordergrund stehen, Situierungen, Kommentierungen, Stellungnahmen usw. und dadurch der Aspekt der qualitätsvollen Gestaltung sein Qualitätsprimat eingebüsst hat. Eine weitere Besonderheit der Fotografie liegt im Zusammenspiel von vorhandener Realität und dem Gestalten von fotografischer Realität. Dieser Wesenszug des Mediums begründet auch ein zentrales Qualitätsmerkmal: wie gelingt es, die vorgefundene Realität in eine gestaltete Bildrealität umzusetzen.


5. Welches Kriterium ist für Sie persönlich für die Qualität einer Fotografie am Wichtigsten? 

Ich brauche oft den Begriff «Präsenz», spreche von vorhandener oder von mangelnder Präsenz einer Fotografie. Der Begriff lässt sich auf Bilder allgemein, ja selbst auf die Kraft eines Auftritts in der Öffentlichkeit anwenden. Er hat aber einen besonderen Stellenwert im Erfahren von Fotografie. Fotografie ist immer und ausschließlich flach, außergewöhnlich flach sogar. Sie hat keine greifbare, sondern eine abweisende, oft glänzende, spiegelnde Oberfläche. Das hat zur Folge, dass jede Fotografie, will sie wahrgenommen, erfahren werden, mit großer bildnerischer Präsenz dieses Abweisende überschreiten und hinter sich lassen muss. Erst mit dieser Präsenz im Raum, erst mit diesem visuellen Impact kann sich das Bild die Aufmerksamkeit seiner Betrachter sichern. Erst durch sie wird eine Wechselwirkung vom Bild zum Betrachter und zurück, wird eine inhaltliche Auseinandersetzung möglich. Entsprechend zentral ist dieses Merkmal, vor allem bei Bildern, die ausgestellt, die in einem Raum gehängt sind. Doch wir sollten immer gewahr sein, dass für jedes Kriterium auch immer sein Gegenteil zutreffen kann. In diesem Falle wäre das ein sehr stilles Bild, das kaum auf sich aufmerksam macht, das erst, wenn ich es in den Händen halte, wenn ich mich lange damit beschäftige, sein Geheimnis vorträgt, entwickelt und teilweise lüftet.


6. Welchen Stellenwert messen Sie Ihrem persönlichen Geschmack bei der Beurteilung von Qualität zu?

Der persönliche Geschmack spielt immer mit. Doch als Kurator und Autor, der tagein und tagaus mit Fotografie beschäftigt ist, sollte es mir möglich sein, den persönlichen Geschmack zumindest soweit zu läutern, dass ich eher von meinem Erkenntnisinteresse als nur vom bloßen Geschmack reden kann. Ich sollte meine Vorlieben kennen und auch kritisch hinterfragen können, damit sie mir beim Betrachten und Beurteilen von Werken nicht im Wege stehen, damit ich fähig bin, sehr unterschiedliche Art von Fotografie zu beurteilen, ihre Qualität zu erkennen. Selbst wenn es sich um Fotografie handelt, die mich persönlich nicht so stark interessiert. Deutlicher noch: Ich sollte fähig sein zu sagen: das ist ein sehr gutes Werk, doch es operiert in einem Feld, das mich nicht sehr interessiert. Und gleichzeitig ist mir bewusst, dass das nie vollständig gelingen kann.


7. Woran erkennen Sie ein herausragendes Werk?

Ich möchte auf zwei sehr verschiedene Weisen antworten:

Zum einen: Zuallererst geht es wohl nicht um ein Erkennen, vielmehr um ein Spüren, ein Ahnen. Ich stehe vor einem Werk und will nicht mehr weiter gehen. Es steht in einer Reihe mit anderen Werken, und doch lässt genau dieses Werk mich nicht mehr los. Ich kehre immer wieder zurück, beginne es zu erforschen. Dieser ersten großen Anziehungskraft folgend beginnt das genaue Betrachten und Erforschen des Bildes. Schritt um Schritt, Bedeutungsschicht um Bedeutungsschicht. Mit der Zeit erkenne ich den Aufbau des Werkes, begreife ich seine Vielschichtigkeit. Mit der Zeit meine ich, das Bild zu kennen. Wenn es dabei bleibt, dann ist es wohl ein gutes, vielleicht aber kein herausragendes Werk. Ein herausragendes Werk zieht mich immer wieder von neuem an, stellt immer wieder seine Fragen ein wenig anderes, lässt mich nicht in Ruhe. 

Zum anderen: Mit dieser Art der Beschreibung von Qualität zielen wir an einer wesentlichen Entwicklung der Gegenwartskunst vorbei. Diese Beschreibung konzentriert sich auf das einzelne Werk, sucht die Qualität nur innerhalb des vor uns liegenden, vor uns hängenden Werkes. Sie spricht unausgesprochen vom «Meisterwerk» und verkennt, dass sich seit den sechziger Jahren die Qualität einer künstlerischen Intervention sehr stark vom Einzelwerk entfernt hat und sich anders manifestiert: in einer Reihe, einer Serie von Werken, in einer Haltung, einer inhaltlichen Auseinandersetzung, in einem Statement, Kommentar, einer visuellen Stellungnahme. Dabei misst sich Qualität nicht mehr am «Werk» im herkömmlichen Sinne, nicht mehr nur an der Hardware, sondern auch an der Software, an der Intervention, die der Künstler, der Fotograf in unserem Denken, im Netzwerk der Kommunikation vornimmt. Was ich in den Händen halte, ist dann oft nur der kleine Teil einer komplexen Handlung, die vollzogen worden ist, und die als Gesamtes zu beurteilen ist. Was ich damit auch sagen will: unser Standpunkt ist in Bewegung geraten, oft findet sich die Qualität gar nicht mehr da, wo wir sie vermuten. Und wir erkennen sie nur, wenn wir uns selbst bewegen, wenn wir nicht mit der Sicherheit des Kenners, ruhig und sakrosankt, vor Bildern stehen und Urteile abgeben.


8. Können Sie mir anhand eines Beispiels von besonders hoher Qualität und anhand eines Werkes von geringer Qualität ihre Kriterien und ihren Ansatz erläutern?

Ungern. Genauso ungern, wie ich mich öffentlich über die Eigenschaften dieses oder jenes Menschen äußern möchte, außer es ist von gesellschaftspolitischer Relevanz/Brisanz. Ein weiterer Grund, auf diese Frage nicht direkt einzugehen, ist folgender: Für jedes Kriterium von Qualität, das wir aufzählen können, finden wir immer auch sein Gegenteil. Ich habe das weiter oben schon erwähnt, deshalb hier konkreter zwei Beispiele dazu:

1. Als klassisches Kriterium für eine gute Schwarzweißfotografie gilt die Ausgewogenheit der Hell-Dunkel-Werte. Überall sollten wir noch Zeichnung im Bild sehen, sowohl in den hellen als auch in den dunklen Stellen. Weder die hellen noch die dunklen Stellen überwiegen stark. Es ist aber leicht, hervorragende Fotografien zu finden, die genau das Gegenteil verkörpern, die flächendeckend entweder sehr dunkel, ja düster oder aber ganz hell, fast weiß sind. 

2. In Ergänzung dazu gelten auch die Schärfentiefe, das feine Korn, die Farbechtheit dem Liebhaber klassischer Fotografie als wichtige Kriterien. Viele spannende, wichtige, gute Fotografien spielen aber mit dem Gegenteil, sind unscharf, unangenehm verblitzt, rotzig und unsauber vergrößert – und erhalten gerade dadurch ihre einzigartige Qualität. Über einhundert Jahre lang hat sich das fotografische Bild entwickelt, ist immer delikater geworden, perfekter in den Abstufungen – und dann beginnen die Künstler in den 1960er und 1970er Jahren Fotografie in ihrer rohen, direkten Form einzusetzen, ohne Rücksicht auf Fine-Art-Gestaltungsprinzipien und revolutionieren damit die Diskussion über und den Umgang mit Fotografie. Die «Foto-Fotografie» musste mühsam erlernen, dass die gestalterischen Mittel und ihr Einsatz von inhaltlichen Zielsetzungen abhängen und nicht einen Selbstwert darstellen. Die Qualität der Fotografie als Fotografie und die Qualität der Fotografie als Kunst passen nicht immer in das gleiche Paar Schuhe, weil die Ansprüche, die Kriterien zu verschieden sind. 


9. Worauf sollte ein Betrachter oder Sammler bei der Beurteilung einer Fotografie besonders achten?

Zuallererst sollten Betrachter und Sammler darauf achten, dass sie sich auf Dinge konzentrieren, die ihnen wirklich gefallen, die sie anziehen, gefangen nehmen, über die sie vor und nach einem Kauf lange nachdenken. Und zwar unabhängig davon, was gerade angesagt ist, was man kennen und kaufen soll. Es sind oft diejenigen Sammlungen bedeutend und auch finanziell kostbar geworden, bei denen sich ein Sammler getraut hat: getraut, das zu kaufen, was ihn persönlich nicht loslässt. Dann sollte ein Sammler ein Stück Geduld mitbringen. Weil Kennerschaft sich erst mit der Zeit entwickeln kann und weil sich Werke oft erst mit der Zeit erschließen. Gerade komplexe Werke verlangen Zeit, verlangen, dass wir uns lange und intensiv mit ihnen auseinandersetzen. Qualität ist ein möglicher Schnittpunkt zwischen Künstler und Betrachter, Werk und Käufer. Beim Handschlag sind sich zwei Personen einig, dass es «um Qualität» geht. Andere Schnittpunkte sind etwa Freundschaft oder Status. Wir müssen uns bewusst sein, dass sich «Qualität» hochschaukeln lässt und sich plötzlich als gesellschaftlicher Begriff entpuppt. Die nächste Generation schüttelt dann möglicherweise den Kopf darüber oder vergisst diese Werke und Künstler, ohne ihnen eine Träne nachzuweinen. Bei der Fotografie muss ein Sammler immer besonders darauf achten, in welchem Zustand sich die Fotografie befindet. Fotografie ist ein technisch hergestelltes, aber leider sehr heikles Erzeugnis, das leicht knickt, aussilbert, vergilbt, ausbleicht, die Farben verändert, wenn es unsachgemäss behandelt worden ist. 


10. In welchem Verhältnis stehen Preis und Qualität von Fotografien?

Fotografie hat sich in den vergangenen zwanzig, dreißig Jahren als mögliches Medium im  Kontext Kunst etabliert, ja einen Boom erlebt. Entsprechend haben sich die Preise entwickelt. Wurden um 1980 für Fotografien noch bescheidene Preise bezahlt – eines der damals teuersten Bilder, «Moonrise over Hernandez» von Anselm Adams, erreichte knapp 50'000 Dollar, die meisten Fotografien wurden jedoch für 500 bis 5000$ verkauft –, so werden heute deutlich höhere Preise verlangt und gezahlt. Die teuersten Fotografien sind nun weit über 2 Millionen Dollar wert. Die Preise entwickeln sich aber auch hier nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage: Es reichen zwei Personen, die das eine gleiche Foto bei einer Auktion unbedingt haben wollen, und der Preis steigt ins Unermessliche – manchmal ist das für Ausstehende nicht nachvollziehbar. Es belegt auch, dass «Qualität» nicht ein faktischer, objektiver, sondern ein kommunikativer Wert ist. In der Regel aber entwickelt sich der Preis entsprechend der Übereinkunft, wie hoch die Qualität eines Werkes einzuschätzen ist. Es sind ja oft Kenner – Privatsammler, Museumsleute –, die kaufen, Menschen also, die das Werk des Fotografen, der Fotografin kennen und es auch im internationalen Vergleich zu beurteilen vermögen. 

 
11. Spielt auch das Sujet eine Rolle, also das «Was», oder geht es in der Fotografie eher um das «Wie»?

Fotografie im Kontext Kunst würde sich wehren, attestierte man ihr, es gehe um das Sujet. Auch das Sujet spiele, selbst bei der Wertsteigerung, eine Rolle. Sie würde das zu Recht tun, denn es geht doch stärker um das «Wie» als um das «Was», auch wenn es, vor allem bei der Fotografie, letztlich immer ein Wechselspiel ist. In der Fotografie ganz allgemein hingegen geht es oft nur um das Sujet. Ein fiktives Beispiel dazu: Wenn es nur ein Foto von Napoleon dem Dritten gäbe, dann spielt bei der Wertschätzung dieser Fotografie das Sujet, die Einzigartigkeit eine weit wichtigere Rolle als die gestalterische Kraft. Fotografie handelt immer mit «Realien», mit real Vorhandenem oder vor die Kamera Hingestelltem. Entsprechend spielt dieses «Das da» immer eine gewisse Rolle. Diese Eigenschaft erlaubt es Fotografien auch, «gut zu altern», das heißt durch die Zeit eine Wertsteigerung zu erfahren, die nicht nur auf ihrer Werkgestaltung beruht.

Erschienen in

Hrsg. Wolfram Völcker

Was ist gute Kunst?

Hatje Cantz Verlag, 2007

www.hatjecantz.de/…