April 2019  /  Sohei Nishino: Water Line. A Story of the Po River (Damiani)

Wasser und Luft
Sohei Nishinos poetische Untersuchung des Po

English Version: Water and Air →
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Die MAST-Stiftung ist seit ihrer Eröffnung vor fünf Jahren zu einer Institution geworden, die sich im Bereich der Fotografie auf vielfältige Weise mit den Themen Industrie, Technologie, Arbeit und Gesellschaft auseinandersetzt. Die MAST Fotogalerie zum Beispiel zeigt jährlich drei umfangreiche Ausstellungen; die Sammlung des MAST wird schrittweise zu einer umfassenden visuellen Soziologie aufgebaut, die die Welt der Arbeit und Industrie von 1860 bis heute mit Fotografien von Fotografen und Künstlern wiedergibt und diskutiert; die Biennale FotoIndustria verknüpft das Thema mit der Stadt Bologna und öffnet mit den Ausstellungen von Industriefotografie im Zentrum der Stadt auch den Blick auf die Architektur der mittelalterlichen Palazzi; die Gespräche und Vorträge im Auditorium des MAST setzen sich mit den technologischen Entwicklungen, ihren gesellschaftlichen Auswirkungen und der fotografischen Kommunikation darüber auseinander. Schliesslich findet alle zwei Jahre der MAST Foundation for Photography Grant on Industry and Work statt.

2018 wurde der Grant zum fünften Mal durchgeführt. Die ersten vier Male als GD4PhotoArt Award und nun, seit der Gründung der MAST Foundation, unter dem neuen Namen MAST Foundation for Photography Grant. Mit diesem Wettbewerb unterstützt die MAST Foundation die Auseinandersetzung von jungen Fotografen und Künstlern mit den Themenfeldern von Industrie, Technologie, Territory und Arbeit. Wir stellen immer wieder fest, wie wenig wir über Erfindung, Entwicklung, Produktion, Marketing, Verkauf von Maschinen, von Produkten wissen, wie wenig sich die Bilder aus diesen Bereichen verbreiten. Forschung, Technologie und die Geldwirtschaft haben unsere Welt in grossen Schritten abstrakt werden lassen. Umso wichtiger wird die Visua­lisierung dieser Wirklichkeiten. Nur mittels bildhafter Vergegenwärtigung sind wir in der Lage, das neue, gegenwärtige und zukünftige  Forschen, Untersuchen, Entwickeln und Produzieren nachvollziehen zu können. Und das Verstehen der Welt steht am Anfang und am Ende eines jeden mündigen Bürgers in einer freien demokratischen Welt.

Finalisten waren 2018 Mari Bastashevski, Sara Cwynar, Sohei Nishino und Cristóbal Olivares. Die Gewinner waren ex-aequo Sara Cwynar und Sohei Nishino. Die Jury war von allen Beiträgen begeistert, aber am stärksten hat sie das Video von Sara Cwynar und der gesamte Raum von Sohei Nishino überzeugt, der Raum mit der 8-teiligen Po-Arbeit und der vielteiligen Wandinstallation.

Sohei Nishino hat über die vergangenen zehn Jahre eine Reihe von „Dioramamaps“ hergestellt, reichen, komplexen Bildkompositionen von Städten, von Amsterdam, San Francisco, Tokyo, Johannisburg, Jerusalem, New Delhi usw. Die Arbeiten sind vielteilig, dicht und höchst kontrovers aufgebaut. Auf der einen Seite haben wir das Gefühl, von oben herab auf Stadtkarten zu blicken, auf der anderen Seite füllt Nishino die Karten mit seinen sehr persönlichen Fotografien auf, die er auf seinen Wanderungen durch die Städte anfertigt. Hunderte, ja Tausende von Fotografien, mit denen er seine Städte konstruiert, und in diesem Fall mehr als 20‘000 Fotografien, die er in sorgfältigem Erkunden über drei Monate lang vom Einzugsgebiet des Po, von seiner Quelle bis ins Delta hin schiesst, anschliessend selbst entwickelt, analog printet und zu einem grossen Panorama schichtet. Eine Landkarte suggeriert eine senkrechte Aufsicht, grosse Präzision und messbare Objektivität, das Diorama wiederum, im 19. Jahrhundert ein Ort der Unterhaltung und Erziehung, versucht Szenen zu verlebendigen, ihnen Leben einzuhauchen, Situationen dreidimensional darzustellen. Sohei Nishino mischt hier diese beiden Formen, kombiniert Makro- und Mikroperspektive, Aufsicht und Ansicht, Übersicht und Detail zu einer ungewöhnlich reichen, lebendigen und irritierend-starken multiperspektivischen Darstellung.

Entstanden ist eine fast 8 Meter lange, höchst lebendige, poetische Untersuchung und Darstellung des Flusses als Grundlage zum Siedeln, als Basis jeder Form von menschlichem Leben. Ein Porträt von Wasser, ein Porträt von Existenz, von althergebrachter und nun an neuem Sein gespiegelter Existenz. Die Tausenden von Einzelbildern verdichten, verkeilen sich darin zu einem derart komplexen Gewebe, dass man sich an der Schnittstelle von analog und digital zu befinden scheint. Sohei Nishino nimmt die visuellen Daten des Po auf, aber noch gänzlich mit analogen Mitteln.

Auf den anderen Wänden der Ausstellung kehrte Sohei Nishino das Prinzip um: Statt der Verdichtung eine Aufsplitterung, statt der Konzentration eine Verteilung der Bilder, vom Fussboden bis zum Abschluss der Wände, in Diptychen, Triptychen, Blöcken und Reihen. Er verwandelte dadurch den gesamten Ausstellungsraum in das Einzugsgebiet des Pos. Die Verdichtung des achtteiligen Panoramas öffnet sich hier zu einem grossen Atmen: Wasser und Luft. Ein Raum, den wir auch hier in diesem Buch spüren.

Schaut man sich die Form und das Wesen der Insellandschaft von Japan und die Halbinsel von Italien an, dann wird ein Stück weit erahnbar, wieso der Japaner Sohei Nishino in Norditalien ein derart eindrückliches Werk entwickeln konnte.