1996

Welt-Szenarien

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Hannes Rickli schloss einen Vortrag mit dem Verweis auf den amerikanischen Astronomen Robert Kirshner: "Im 16. Jahrhundert musste der Mensch akzeptieren, dass die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt ist. Am Anfang unseres Jahrhunderts wurde offensichtlich, dass das Sonnensystem nicht im Zentrum der Galaxis - der Milchstrasse - liegt, Ende der zwanziger Jahre wurde dann klar, dass auch die Milchstrasse keinenfalls im Zentrum des Universums liegt, sondern lediglich eine ganz gewöhnliche Galaxie unter Abermillionen anderer darstellt. Jetzt muss der Mensch zur Einsicht gelangen, dass sogar die Materieform, aus welcher er und seine Umwelt bestehen, mengenmässig nur einen unbedeutenden Anteil an der gesamten Materie im Universum stellt." Kirshner habe die Erkenntnis dieser Randstellung mit dem "Prinzip der grösstmöglichen Demütigung" umschrieben.[1]

Vielleicht ist mit der Nennung einer Empfindung ein tieferer Sinn der Rickli-Arbeiten benannt. Kennzeichnet die rational wirkenden, weil Geräte- und Maschinen-bestückten Rickli-Arbeiten schliesslich ein schmerzlich-melancholischer Zug? Auf die Textstelle bin ich eher zufällig gestossen. Kurz bevor ich mit Schreiben beginnen wollte, las ich noch den Vortrag. Und am Ende stand dann dies. Gross zu entziffern gab es nichts, alles stand da, in der Sprache einer normalen Verständlichkeit gefasst. Dieses Zufallen - eine Vorstufe des "Heureka!" bei jedem Experiment - will ich ernstnehmen. Es soll unterschwelliges Leitmotiv sein, beim Gang durch die Arbeiten von Hannes Rickli.

Im Zentrum steht hier die Arbeit "Spurenkugel". Es ist naheliegend, dass man an Kopernikus erinnert wird, an seine Schrift, die 1543 erschienen ist und das christliche Weltbild zutiefst erschüttert hat. Darin lieferte Kopernikus den Beweis, dass die Erde nicht Zentrum des Weltalls ist, sondern "dass sie ein kleiner Wandelstern ist, der nach geometrisch-physikalischen Gesetzen durch eine leeres Weltall zieht."[2] Der Schock für die Menschen, quasi vom Thron verstossen zu sein, war gross, nachhaltig, und erneuerte sich bei jeder weiteren "kosmologischen Dezentrierung der Erde"[3]. Peter Sloterdijk weist in seinem Buch "Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung" jedoch daraufhin, dass die Pointe der kopernikanischen Wende nicht eigentlich auf dem physikalisch-kosmologischen Gebiete liege, als vielmehr in einem epistemologischen Nachgeschmack: "Durch den kopernikanischen Schock wird uns demonstriert, dass wir die Welt nicht sehen, wie sie ist, sondern, dass wir ihre 'Wirklichkeit' gegen den Eindruck der Sinne denkend vorstellen müssen, um zu 'begreifen', was mit ihr der Fall ist."[4]

Die Erinnerung an Kopernikus erfolgt zuerst rein assoziativ. Wir sehen eine Kugel, die beleuchtet wird. Wir stehen hinter der Lichtquelle, folgen ihrem Strahl, erblicken hinter der Kugel an der Wand eine Aura, ein Bild, das jenem einer Mondfinsternis gleicht. Auf der gegenüberliegenden Seite eine Videoprojektion; wie man später bemerkt, eine Projektion einer Ausschnittsvergrösserung der Kugel. Bewege ich mich, durchschreite ich eine Schranke; dann beginnt sich alles zu bewegen: die Kugel, zuerst langsam, dann ruckartig, turbulent, schliesslich immer schneller; eine ähnliche Beschleunigung geschieht im übermittelten Bild, nur wird sie anders, viel heftiger, körperlicher wahrgenommen. Einzig die Aura an der Wand scheint davon fast unberührt. Die Reduktion auf ein Lichtschattenspiel schluckt fast alle Bewegungen. In Realzeit und durch eine Kopfdrehung verbunden sehe ich das Objekt und seine Projektion ersten Grades (an die Wand), die "Projektion" zweiten Grades (über Video an die Wand) und seine Abstraktion (die Aufzeichnung der Bewegungen auf dem Bildschirm des generierenden und überwachenden Computers). Ich erlebe einen Prozess, den ich selbst ausgelöst habe, und verfolge seine Aufzeichnung. Die Kugel ist mit Graphit bedeckt, so dass jeder Lauf Spuren hinterlässt. Das Laufen wird, nach dem Auslösen, durch einen Zufallsgenerator gesteuert. Und draussen, ausserhalb der begehbaren der Installation, hängen an den Wänden zweierlei Auswertungen dieser Prozesse: auf der einen Seite Abwicklungen der Kugel, Vermessungen ihrer Rotation, Winkelanalysen, verschiedene Zustandsbilder - eine Art von wissenschaftlicher Auswertung der Prozesse, Spurensicherungen - und auf der anderen Seite farbige Planetenbilder - bildnerisch-ästhetische "Auswertungen" der Kugel, "Auswertungen", die zu Fiktionen, zu Bildern führen, welche Vorstellungen von der Erde und von fremden Planeten wachrufen.

Die Assoziation "Kopernikus" festigt sich. Hannes Rickli arbeitet sichtlich mit dem Thema des Erkennens, Wahrnehmens, Erfahrens, Entzifferns, Auswertens, der Spurensicherung und ihrer Darstellung. Mit ein wenig Risiko kann man behaupten, dass sich in der Arbeit Darstellungen von der platonischen Deduktion - eine Lichtquelle strahlt auf die Kugel und diese wirft ihren Schatten auf den Wand - bis zur heutigen Vorstellung der Verschmelzung von Aufzeichnung und Kreation von Welt, Erkenntnis und Erzeugen von Wahrheit, Entziffern, Überprüfen und gleichzeitiges Formatieren der Realität, Forschung und Generator von Welt finden.[5] Es handelt sich um eine simulierte Experimentsituation, welche die Besucher durch das Betreten auslösen. Sie sind Beteiligte an der Ursache und Beobachter der Wirkung zugleich. Das Experiment scheitert mit Absicht - und mit augenzwinkernder Ironie - in seiner Wissenschaftlichkeit, weil der Zufallsgenerator die Wiederholbarkeit und Quantifizierbarkeit verhindert. Es verlagert sich zum Kunst-Experiment, zum Bild- und Aufzeichnungsspiel (in sprachlicher Anlehnung an Wittgensteins "Sprachspiel"). Ein Experiment mit offenem Ausgang für die Besucher - so wie wirkliche, das heisst wirklich notwendige Experimente "nach oben offen" sind. Ein Experiment, bei dem einem schwindlig werden kann: beim Anstarren der rasenden Kugelübertragung als auch beim Durchdenken aller Implikationen.

Schwingt darin der Schmerz einer Demütigung mit? Oder das Begreifen danach, die Demut? Die Melancholie des Aushaltens von Verlust vielleicht? Die Betrachter erfahren sich als teilnehmende Beobachter und beobachtende Teilnehmer. Sie lösen blind fast in der Dunkelheit Prozesse aus und Starren gebannt auf die Resultate. Die Wirklichkeit sich denkend vorstellen: Was Sloterdijk bei Kopernikus als Quantensprung in der Erkenntnistheorie festmacht, hat sich mit Albert Einstein weiter überschlagen: Raum und Zeit existieren nicht objektiv, sondern lediglich in Beziehung zum Betrachter, und Einsteins Postulat einer Krümmung des Raumes löst sich von jeder Erfahrung: "Das Universum als Erfindung, als höchste Fiktion".[6] Verlust bei gleichzeitigem Gewinn - auch eine untrennbare Verbindung. Und das diesen Prozess begleitende Gefühl? Verlorenheit? Weil das Ich übermässig gestärkt, heisst auch, alleine gelassen wird? Paradoxe Verschränkung des Menschseins: Je stärker das Ich sein muss, desto einsamer wird Es.

Das der "Spurenkugel" folgende Projekt, "Echo Biel / Bienne Echo", Anfang 1996 in der zweisprachigen Stadt Biel / Bienne realisiert, beschreibt Hannes Rickli wie folgt: "Ein mit einem Yacht-Radar ausgerüstetes Taxi tastet während seinen Dienstfahrten die räumliche Textur von Stadt und Region Biel ab. Im Dauerbetrieb sendet die um sich selbst rotierende Antenne auf dem Fahrzeugdach ihre immer gleiche Frage in Form von Mikrowellen rundum aus und empfängt Antworten von stehenden und bewegten Objekten als reflektierte Signale. Im Koordinatensystem des Radars sehen wir den Raum aus der Vogelperspektive. In der Bildmitte befindet sich der Sender/Empfänger, dessen Signalstrahl für jeden geographischen Punkt ein eigenes Echobild kreisförmig aufbaut. Die Radartechnologie verwandelt Orte und Räume in Leuchtspuren, die sich langsam oder explosionsartig im Rhythmus der Bewegungen der Bildquelle ausdehnen und zusammenziehen. Im Kunsthaus Biel werden Radarbilder als Aufzeichnung aus der vorangegangenen Nacht um zwölf Stunden verschoben projiziert; im Taxi kann die Transformation der Umgebung am Bordmonitor in Realzeit beobachtet werden."[7]

"Stimmen aus dem All". Die Abtast- und Übermittlungsmaschinerie wird zum (scheinbar atmenden, lebendigen) Bildgenerator. Spurensuchen und Bildergenerieren werden eins. Eine "Maschinenwirklichkeit" entsteht. Und der Autor im klassischen Sinne zieht sich zurück. Er hat die Anordnung organisiert und überlässt sie ihrem Lauf: "Unter den neuen technischen Bedingungen verschwindet der Autor, oder besser: der Handwerker, dessen Werk kraft seiner Handschrift autorisiert ist. Bilder werden generiert von Apparaten und ihrer Software. Die Autorschaft zieht sich auf eine Operationsbasis zurück jenseits des Bildes (...)."[8] Echo Biel: Die Stadt wird abgehorcht, wie wir den Raum über Gebieten, wie wir das All abhorchen. Das Radar-Echo wird im Kunstraum kreisförmig, einem modernen Mandela gleich, auf den Boden projiziert. Wo abgehorcht wird, ist Zufall, generiert durch die jeweiligen Taxifahrten. Hören wir etwas von "draussen" oder vernehmen wir nur das Echo des eigenen Rauschens? Das sogenannte "Meeres"-Rauschen beim Horchen in eine Muschel? Ergötzen am eigenen Ohrensausen? Die Spur - im Rahmen der Kunst die ästhetische Spur - ist nicht das Resultat eines Geschehens draussen, sondern einer Beschäftigung mit dem Draussen, sie ist Spur des Sehens und des Gesehenen zugleich.

Im Herbst 1996 realisiert Hannes Rickli das Projekt "Reflex-Beam", eine TV/Videoinstallation, im Museum für Gestaltung Zürich. Vor der Realisation beschreibt er es folgendermassen: "An der Spitze eines freistehenden, 12 Meter hohen konischen Stahlmastes montiert, empfängt eine Satellitenanlage 20 globale TV-Kanäle, die ausschliesslich Nachrichten und Wirtschaftsinformationen senden. Die Anlage besteht aus zwei nebeneinander angebrachten Offsetspiegeln, dunkelblau mattlackiert. Auf Augenhöhe werden die Bilder auf einen kleinen Bildschirm übertragen, der von zwei Parabolantennen seitlich flankiert ist. Die dunkelblau mattlackierten Parabolantennen haben einen Durchmesser von 120 cm und bilden einen Winkel von 78 Grad. In ihrem Zentrum registrieren Sensoren die Anwesenheit von Personen  in der Nähe des Mastes und setzten diese folgendermassen um: bewegt sich die Person, erfolgt ein Kanalwechsel im Rhythmus der Bewegungen, so dass die Bilder nur kurz aufflackern. Befindet sich die Person im Einflussbereich eines anderen Sensors, wird sie von einer beim LCD-Bildschirm angebrachten Videokamera gefilmt und auf den Bildschirm übertragen. Die Sensorbereiche gehen fliessend ineinander über und sorgen dafür, dass nur, wer sich 'totstellt' (wie der Hase vor der Giftschlange), die Bilder eines einzelnen Senders während der entsprechenden Zeit aufnehmen kann."[9]

Unfreiwilliges Zappen. Die kleinste Bewegung verändert den Einflussbereich, die Information. Die Betrachter bringen sich selbst Spiel: ihre eigenen Bewegungen machen sie zu News. Die Menge an Information ist horrend, aber sie wird zerhackt, zusammenhanglos erfahren. Paradoxerweise stellt sich das fehlende Kontinuum erst dann ein, wenn man "sich totstellt". Das Projekt scheint sagen zu wollen: Nur wer sich antizyklisch verhält, hat noch eine Chance auf Durchsicht, Einsicht, auf Verstehen, sonst wird einem schwindlig. Wer sich im Tempo der Zeit (der heutigen Maschinenzeit) bewegt, sieht den letzten Hauch einer (grossen) Erzählung sich auflösen. Die grossen Offsetspiegel wirken dabei wie ein verlängerndes Instrument der Ohren und Scheuklappen zugleich.

Hannes Rickli beschäftigt sich seit seiner ersten grossen Arbeit "Honigland" (1989) - modellhaft simulierten Katastrophensituationen als moderne Landschaftsbilder - mit zeitgenössischen Szenarien, mit der "modellierten Welt" von heute; eine Welt, die mittels Simulationen, Modellen den Raum erkennen und erobern und die Zukunft vorwegnehmen und beherrschen will - und dabei Rückkoppelungen in Kauf nimmt, die unkontrollierbare Turbulenzen (Katastrophen) hervorrufen können. Er macht in seinen teils begehbaren Arbeiten das epistemologische Durcheinander, das Zirkuläre von Erkenntnis und Beeinflussung (eine Schlange beisst sich in den Schwanz) erfahrbar und lässt uns spüren, wie unsere Welt (unser Weltbild) von einer "Wissenschaftswirklichkeit"[10] und Maschinenwirklichkeit überformt und bestimmt wird. Dabei immer nach den Gefühlen, die diese Prozesse auslösen, zu fragen, entspringt dieser anfänglichen Laune, einen Text wie ein Experiment zu beginnen, mit einem Rahmen und einer zugefallenen Vermutung. Wie ich hoffe, ganz im Sinne des Künstlers. Letztlich scheint durch alle diese mit höchst rationalen und höchst technologischen Phänomenen operierenden Arbeiten hindurch der Verlust von Eigentlichkeit auf - und der Einsatz von Ironie, als notwendiger Kraft in einer Welt voller "Demütigungen".

 

Urs Stahel



[1] Hannes Rickli: Modellspur -  Spurenmodell, Vortragsmanuskript, Vortrag gehalten an der Hochschule der Künste Berlin, 26.10.95 
[2] Peter Sloterdijk: Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung, Frankfurt am Main, 1987. S.56 
[3] Sloterdijk, S.56 
[4] Sloterdijk, S.57 
[5] Siehe dazu: Hans-Jörg Rheinberger: Experiment, Differenz, Schrift. Marburg an der Lahn, 1992 
[6] John Brockman: Die Geburt der Zukunft. Bern, Münnchen, Wien, 1987, S. 10 
[7] Hannes Rickli: aus dem Projektpapier "Echo Biel /Bienne Echo", Radararbeit, 1996 
[8] Beat Wyss: Der Weg zur Welt im Kopf. Eine Kunstgeschichte der Medien - fast-forward, in: RAM, Realität, Anspruch, Medium, Katalog der gleichnamigen Wanderausstellung, 1995 
[9] Hannes Rickli, aus dem Projektbeschrieb "Reflex-Beam" für die Schweizerische Plastikausstellung 1997 in Biel 
[10] Rheinberger, w.o., S.9. Rheinberger übersetzt den Begriff von Gaston Bachelard "le réel scientifique"