1997  /  Winterthur, Göttingen

Weltenblicke
Reportagefotografie und ihre Medien

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Die ersten Live-Übertragungen vom Vietnamkrieg haben es angekündigt, das Live-Dabei-Sein in den Tagen der rumänischen Revolution und der Ausschluss der Reportagefotografie vom Golfkrieg haben es bestätigt: Die Fotografie musste ihren Informationsauftrag an das Fernsehen abgeben. Bei grossen und kleinen Ereignissen ist das Fernsehen immer schneller. Es kündigt noch am Vorabend an, was für die Zeitungen des nächsten Tages und die Zeitschriften der nächsten Woche von Bedeutung zu sein hat. Damit scheint das Ende der grossen Zeit der Reportagefotografie gekommen zu sein, es scheint, als gelte es Abschied zu nehmen von den Capas, Cartier-Bressons, Bischofs, McCullins. Auch das Aufrüsten der Zeitschriften mit schockierenden Bildern in den siebziger Jahren, als Gegenmittel zum Vorsprung des Fernsehens und zur Verführungskraft der Werbung, hat nicht lange genützt.

Und doch: Wir alle dokumentieren weiterhin mit Lust und Freude unser eigenes und fremdes Leben, in den Ferien, beim Jubiläum, bei der Hochzeit, im Alltag; wir kaufen Woche für Woche irgendeine illustrierte Zeitschrift und lassen uns von den Bildern durch den Alltag begleiten. In den neunziger Jahren wird ein grosses Bedürfnis sichtbar, das "Reale", "Wirkliche" zu reportieren und zu dokumentieren. Entgegen dem Verschwinden der Reportagefotografie aus ihrem traditionellen Feld hält das wiedergegebene "Wirkliche" als Partikel, als Daseins-Versicherung, als Wegmarke in der Unsicherheit Einzug in verschiedene Lebensbereiche. War es früher die Reliquie, der körperliche Überrest, so ist es heute das fotografische Dokument, das die Funktion einer "reliquiae", eines "Zurückgelassenen" wahrnimmt, eines Überrests der im Fluge vergehenden, sich verändernden Wirklichkeit.

"Ist der Fotojournalismus tot?" Diese Frage stellt die Zeitschrift "American Photo" in der September/Oktober-Ausgabe des vergangenen Jahres und widmet sich damit einem Problem, das seit mehr als einem Jahrzehnt Anlass heftiger Kontroversen ist. Die Statements von über 40 bekannten Fotografen, Bildredaktoren und Agenturen zusammengenommen sprechen von der Krise der Reportagefotografie als einem Verlust an Platz in den Zeitschriften (zumindest für seriöse Reportagefotografie), als einem Verlieren gegen die Zeit, weil das Fernsehen schneller informieren kann, als einem Verlust an Autorschaft, weil viele Zeitschriften und die neuen Medien immer weniger die vertiefende Sicht eines Autors wollen; und sie sprechen von einem Strukturwandel, der die Reportagefotografie zwingt, neue Medien und neue Geldgeber zu finden.

 

Ist der Fotojournalismus also wirklich tot? Nein, nicht allgemein, aber es beginnen sich, wie in der Musik, U- und E-Reportagen zu trennen. U-Reportagen, sogenannte Eventfotografie, Featurefotografie, Illustrationsfotografie, funktionieren im bestehenden Rahmen weiter und sind im Vergleich zum Aufwand gut bezahlt. Sie können im strengen Sinne aber nicht als Journalismus bezeichnet werden, sind eher der Kategorie attraktiver fotografischer Seitendekoration zuzuordnen. E-Reportagen, sorgfältig recherchierte, zeitlich aufwendig produzierte Bilderserien, müssen neue Wege gehen. Für sie müssen sowohl neue Finanzierungsmodelle als auch neue Formen der Veröffentlichung gefunden werden. Die Zeitschriften können oder wollen ihren Aufwand kaum mehr angemessen honorieren und können oder wollen diesen Reportagen nicht den dafür notwendigen Platz einräumen. Diese Reportagen müssen deshalb ausweichen, sich verlagern und ihre Rahmenbedingungen neu und selbst schaffen. Die Reportagefotografie hat also nur in ihrer alten Form und teilweise in den hergebrachten Medien ausgedient. Ist sie radikal subjektiv, radikal objektiv, radikal herausfordernd oder kontemplativ, und findet sie dafür die passende Form im geeigneten Medium, dann sind ihr Gegenwart und Zukunft sicher. Statt wie früher Information gehören heute Auseinandersetzung und Diskursivität zu ihren Aufgaben - und da spielt auch die Geschwindigkeit keine grosse Rolle mehr.

 Die Ausstellung und das begleitende Buch wollen sich ausführlich dem Status und den Aufgaben der Reportagefotografie in einer Zeit totaler Mediatisierung und laufender Kontroversen darüber annehmen, und zwar anhand von spannenden und intensiven Arbeiten von Schweizer Fotografen und Fotografinnen. Inhaltlich finden Sie im ersten Raum und bei der Tonbildschau von Manuel Bauer den "Blick nach draussen" in die Fremde; im zweiten grossen Raum finden Sie den "Blick nach drinnen", in Problematiken in der Schweiz; im vierten Raum führen die Reisereportagen von Beat Presser und Minkoff/Olesen "au bout du monde", ans Ende der Welt, nach Madagaskar und nach Patagonien; in der Galerie treffen sich das eilige Pressebild von Thomas Burla und vom Reuters Picture Service mit den langsamen Vorgehensweisen der Documenta Natura und der Documentation photographique de la Ville de Genève. Medial gesehen finden Sie an den Wänden Reportagen, die einst für Zeitschriften und Bücher konzipiert waren, und nun eine der weissen Museumswand entsprechende neue Form gefunden haben; und in den Vitrinen finden Sie die gedruckten, publizierten, also die mediatisierten Fotografien ausgestellt. Die Reportage in der Zeitung, der Zeitschrift, dem Buch, dem Archiv, der elektronischen Bilderbank - und im Museum: Die Reportagefotografie und ihre Medien.