Dezember 2012  /  Du 832

Wenn sieben in die gleiche Richtung schauen, dann muss was los sein

<p>Die ersten Fotos der &laquo;Brangelina&raquo;-Zwillinge Vivienne Marcheline (l.) und Knox L&eacute;on nach der Geburt waren ihrem K&auml;ufer 14 Millionen Dollar wert, genau 9,7 Millionen Dollar mehr als dem K&auml;ufer des Bildes Rhein II von Andreas Gursky, das zurzeit das teuerste Foto auf dem Kunstmarkt ist.</p>

Die ersten Fotos der «Brangelina»-Zwillinge Vivienne Marcheline (l.) und Knox Léon nach der Geburt waren ihrem Käufer 14 Millionen Dollar wert, genau 9,7 Millionen Dollar mehr als dem Käufer des Bildes Rhein II von Andreas Gursky, das zurzeit das teuerste Foto auf dem Kunstmarkt ist.

Mitte der 1980er-Jahre galt Moonrise, Hernandez von 1941 als teuerste Fotografie der Welt. Damals unglaubliche, in der Presse diskutierte 50'000 Dollar soll das Bild von Ansel Adams erzielt haben. In der Zwischenzeit sind die Preise stetig gestiegen. Wechselnd von historischen zu zeitgenössischen, zurück zu Die grosse Welle von Gustave Le Gray im 19. Jahrhundert, dann wieder in die Gegenwart, schaukelten sich die Höchstpreise kontinuierlich hoch. Zuerst angefeuert vom grossen Boom der Fotografie, der sich über zwanzig Jahre von 1985 bis 2005 hinzog und der die Rezeption und den Wert von Fotografie vollständig veränderte, später auch unabhängig davon. Jedes Jahr wird an einer Auktion ein neuer Rekord gemeldet. Zurzeit hält das Werk Rhein II von Andreas Gursky die Höchstmarke. 4,3 Millionen Dollar war es einem Bieter wert. Ein zweiter, vielleicht ein dritter Sammler haben ihn lange hochgetrieben und schliesslich aufgegeben. So läuft das Geschäft an den Auktionen. Die Zeit der Schnäppchen ist vorbei. Die Herbstauktionen sind (beim Schreiben dieser Kolumne) noch nicht vorbei, vielleicht wird auch dieses Jahr der Rekord gebrochen. 

Dennoch: Die Preise sind in der Fotografie weit weniger horrend gestiegen als in der «allgemeinen» Kunst. Seit eine Auflagenskulptur, der Schreitende Mann von Alberto Giacometti, von der es weltweit sechs Stück geben soll, beim Hammerschlag über 104 Millionen Dollar einbrachte, bestätigt sich, dass nicht nur das Wesen des Originals, das einzigartige einmalige Gemälde, die herausragende Skulptur über die Fotografie gestellt wird, sondern dass weiterhin das hehre heilige Kunstverständnis etwas indigniert auf die mechanisch-chemisch-elektronischen Bilderzeugnisse blickt. Und das, obwohl sich das Verständnis von Fotografie seit den 1960er-Jahren grundsätzlich geändert hat. Von der blossen berichtenden Reproduktion der Welt hat sie sich zum Kunsterzeugnis gemausert, das gesammelt, gehandelt, geschätzt wird, für das Sammler sich verschulden, für das an den Universitäten der Welt Lehrstühle eingerichtet und Wissenschaft betrieben wird. Kenner treffen sich an Ausstellungen, an Messen und an Auktionen und diskutieren den ästhetischen Wert einer Fotografie, ihren Innovationsgehalt, ihren technischen Zustand, die Haltung des Fotografen, seinen situativen Zugriff auf die Wirklichkeit und seinen Beitrag zum gestaltenden Verstehen der Welt. Dafür wird ein bestimmter Preis gezahlt. 

Bisher jedenfalls waren dies die Kriterien, die massgeblich den Preis mitbestimmten. Diesen Herbst nun sass ich entspannt in einem Hotel im Tessin und las die aktuelle und einige ältere Ausgaben der Zeit. Nichts deutete auf Aufregung, auf Überraschung hin, die Sonne wärmte feinherbstlich das Gesicht, im Restaurant hatten wir vorbestellt, alles nahm seinen angenehmen Verlauf, bis ich die Kolumne «Über Babyfotos» von Anna Kemper im Magazin der Zeit las. Da stand in einer Art Regieanweisung, wie sich Reiche und Berühmte bei der Geburt der ersten Kinder verhalten sollen. Ein Sieben-Punkte-Programm führt unbekümmert zur Feststellung, dass für die ersten Fotos der Zwillinge von Angelina Jolie und Brad Pitt über 14 Millionen bezahlt worden seien. Auch die ersten Fotos der Zwillinge von Jennifer Lopez und Marc Anthony erzielten über 6 Millionen Dollar, die Summe für die von Annie Leibovitz fotografierte Suri Cruise in Vanity Fair ist unbekannt, aber rekordverdächtig. Simple Babyfotos, vermutlich gekonnt arrangiert – Mutter, Vater, beide über die Neuankömmlinge gebeugt, weich und freundlich ausgeleuchtet –, haben also weit mehr Geld eingebracht als das bisher weltweit teuerste Foto aus der Kunstbranche. Es ist anzunehmen, dass auch die Babys von Brangelina schön aussehen, bei diesen Eltern – dennoch: Es handelt sich um Babyfotos, Familienfotos, die gegen Gustave Le Gray, Carleton Watkins, Paul Strand, Walker Evans, Ansel Adams und Andreas Gursky, Thomas Struth, Thomas Ruff oder allenfalls den unerhörten Foto-Fund antreten, der die Erschiessung von Erzherzog Franz Ferdinand und den Beginn des Ersten Weltkriegs dokumentiert. Und sie scheinen spielend zu siegen. Das teuerste Bild der Welt – und sein Veröffentlichungsrecht – ist ein Familienfoto. Ich weiss, das lehrt uns nichts Neues, Marktorientierung hat sich schon lange vor Produktorientierung gestellt. Derjenige, der verbreitet, verdient weit mehr als jeder Hersteller. Wer richtig «brandet», wer die Kanäle perfekt bespielt, braucht sich um die Qualität des Produktes nicht allzu stark zu kümmern. So wie Roberto Benigni im neuen Film von Woody Allen, To Rome with Love, medial zur Berühmtheit auf Zeit wird, nur weil er Boxershorts trägt und sich nass rasiert, nur weil er ist, wie er ist, banal und normal. 4,3 Millionen für das Werk bei Gursky oder 14 Millionen für das Recht der Veröffentlichung bei Brangelina, beide Beträge scheinen bezugslos. Der Befund schmerzt gleichwohl. Die Facebookisierung der Welt meint auch: Egal was, Hauptsache, es schauen Millionen zu. Experten werden dabei zu Tanzbären. Karl Valentin schrieb einst: Wenn sieben in die gleiche Richtung schauen, dann muss was los sein. Ahnte er damals schon, wie sehr sich das Schau-Spiel ändern wird? Voten Sie jetzt!