2002  /  Zeitgenössiche Fotografie aus der Schweiz, NBK, Wasmuth, 2002

Wir, und die Welt, die uns umgibt
Zur Fotografie in der Schweizer Kunst

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Zwei Schienenstränge, die parallel liefen und sich nur an wenigen Stellen kreuzten, prägten die künstlerische Produktion mit Fotografie in den achtziger Jahren: Da gab es einerseits die Fotografen, die entlastet, ja befreit waren von ihrer ursprünglichen Pflicht zur visuellen Berichterstattung, Nacherzählung, Aufzeichnung der Ereignisse und die nun neu künstlerische Formen der Fotografie erprobten. Diese Fotografie von Fotografen zeichnete sich durch ein hohes fotografisches, fotokünstlerisches Gestaltungsbewusstsein aus, liess aber oft eine klare Situierung in der Zeichen- und Rezeptionswelt der damaligen Zeit, also ein Kontextbewusstsein vermissen. Da gab es andererseits die Künstler und Künstlerinnen, die sich zunehmend der Fotografie als Medium bedienten. Anfänglich vom Charakter der siebziger Jahre geprägt, war für sie die Fotografie ein visuelles Forschungsinstrument und ein Lieferant von Zeugnis- und Realitätspartikeln. Sie setzten die Fotografie ein, ohne sie als Bild, als Artefakt wertzuschätzen. Im Lauf der achtziger Jahre änderte sich das stark. Die Fotografie und ihre Rahmung wurden zunehmend “orchestriert” – Lumpen wurden gegen Strassen- und dann gegen Abendkleider ausgetauscht –, sie wandelte sich in ein üppiges und edel gerahmtes Bild mit ikonischen Qualitäten. In vielen Fällen jedoch ging die Frische, die der fotografische Blick ermöglicht, in der Selbstbezüglichkeit und Ikonisierung des Bildes verloren. Ende der achtziger Jahre war also den FotografInnen zu wünschen, dass sie sich das Regel-, das Kontextbewusstsein der Künstler stärker zum Vorbild nehmen würden, weil die herkömmliche Vorstellung von Fotografie als zeugnishafte “Finestra aperta” zur Wirklichkeit an Griffigkeit stark verloren hatte. Den KünstlerInnen, die sich der Fotografie bedienten, war hingegen zu wünschen, dass sie sich bei aller Reflexivität und konzeptueller Strukturierung auch am neugierigen, erkundenden Blick guter FotografInnen orientierten, weil sich die Bildwelt weiterhin hauptsächlich dadurch erneuern kann.

Diese Situation sah im schweizerischen und internationalen Zusammenhang ähnlich aus, wobei sich das fotografische Verständnis je nach Land und Fototradition, je nachdem, wie stark und wie lange historische Positionen als dogmatische Lehrmeinungen akzeptiert waren, zeitlich verschoben entwickelt hat. Als 1990 im Museum für Gestaltung in Zürich die Ausstellung Wichtige Bilder – Fotografie in der Schweiz stattfand – die erste Zusammenstellung von schweizerischer Fotografie seit 1981 –, rief sie, zur Überraschung der Kuratoren (Martin Heller, Urs Stahel), heftige Reaktionen hervor. Das Zusammenführen von spannenden, überzeugenden Positionen und Werkgruppen aus beiden “Lagern”, jenem der Fotografen und jenem der Künstler, war offenbar noch keine Selbstverständlichkeit, wurde von vielen gar als Affront empfunden. Von Seiten des klassischen Fotoverständnisses her wurde die Fotografie der Künstler und Künstlerinnen angeprangert: Hoffentlich gehen Peter Fischli und David Weiss mit diesen banalen Touristenfotos nicht in die Geschichte ein, lautete eine von vielen Reaktionen. Von Künstlerseite her wurde bemängelt: Wieso werden hier unsere Positionen mit dokumentarischen Fotografien vermischt und dadurch verwässert? Das sind nur zwei aus einem Reigen von aufgebrachten, kritischen Bemerkungen, die auf die Ausstellung einhagelten. Beide Seiten dieser Kritik demonstrierten vor allem eines: wie weit entfernt voneinander damals die verschiedenen Erwartungen an Fotografie und das Verständnis von ihr in der Schweiz noch waren und wie heilig und kritiklos die eigene Position jeweils vorgetragen wurde.

Die neunziger Jahre haben diese Festungen wohl endgültig pulverisiert. Seit Robert Rauschenberg Ende der fünfziger Jahre erstmals fotografierte Realzeichen in seine Gemälde einbezog, zeigt sich die Kunst zunehmend fotografischer, fotorealer: unter anderem durch die Aufgabe von Utopien zugunsten des Festhaltens und Kommentierens der Welt und ihrer Verhältnisse; durch die Auflösung der Totalisierung als Gestaltungsziel zugunsten des fotografischen Erkundens der Welt als Zeichenwelt, des Spiels mit dem Fragment, der fotografischen Erforschung und Aneignung der Wahrnehmung in Raum und Zeit sowie der Dekontextualisierung von vorgefundenen Bildern in der Medienwelt. In den neunziger Jahren scheint diese Entwicklung ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Fotografie wurde in diesem letzten Jahrzehnt derart expansiv eingesetzt, als habe man das Medium eben erst erfunden: Es war der letzte Schrei. Seither verschwimmen die Grenzen, die Stränge lösen sich auf. Das Interesse an jeglicher Form von Fotografie, sei sie analog reproduzierend, also dokumentarisch, oder digital produzierend, szenisch inszenierend oder diskursiv mediatisierend, überstrahlt einstige Standesgrenzen fast ganz. Der boomende Markt, der Altmeister an die Oberfläche, Fotografen an die documenta, den Dokumentarismus plötzlich an vorderste Front schwemmt, stützt das Interesse kommerziell.

Auch die Schweizer Szene erlebt seit den neunziger Jahren einen Boom im Bereich Fotografie. Mit Leichtigkeit lassen sich hundert Künstler und Künstlerinnen aufzählen, die regelmässig oder ausschliesslich mit dem Medium Fotografie arbeiten und sich damit regional, national und international Beachtung verschafft haben. Nicht zu reden von den Hunderten, denen das noch nicht gelungen ist. Der Einsatz von Fotografie ist quantitativ so markant gestiegen, wie er sich qualitativ aufgesplittert hat: Ein reiches und äusserst heterogenes Feld von Fotografien, von Gebrauchsweisen ebenso wie von Themen, liegt vor. Eine Menge und Vielfalt, die sich nur mit Mühe streng ordnen und strukturieren lässt, zumal einige Künstler in ihrem Werk selbst von einem Stein zum anderen, von Thema zu Thema, Methode zu Methode, Strategie zu Strategie hüpfen. Die folgende Darstellung hofft über dominante Themen wie die Identitätsbefragung, das Interesse für Bild- und Medienfragen, den Umgang mit der Natur, aber auch über Vorgehensweisen – der Hang zum Szenischen, zur Inszenierung – und über Bildeigenschaften – skulpturale, malerische, filmische etc. – einen Abriss der Fotografie in der aktuellen Schweizer Kunst geben zu können.

 

 

Identitätssplitter

 

Das Gesellschaftliche, Zivilisatorische und Wirtschaftliche hat sich in den vergangenen dreissig Jahren in einer Weise verändert, dass wir Individuen wie Kaulquappen nach Luft schnappen, um gleich wieder in den Strudel einzutauchen. Das Leben hat sich rasant beschleunigt, der Rhythmus intensiviert, die Spannung, der innere Tonus, erhöht, Hektik macht sich in und um uns herum breit. Gleichzeitig rutschen uns alle Werte weg. Was immer wir in die Hände nehmen, verflüssigt sich, worauf wir uns stützen, gibt nach. Was heute klar und fest erscheint, wird morgen nicht mehr sein. Wir entfernen uns von unserer primären sinnlichen Erfahrung, transformieren uns in Wesen, die über künstliche und mediatisierte Informationskanäle infundiert werden, wir delegieren unseren Instinkt an das Wissen, unser Wissen an die Wissenschaft, die Wissenschaft an die Wirtschaft. Und zuhause, im schönen Privaten, da gehen Mann und Frau fremd, verlieren ihren Job, und die coolen Kinder flippen aus. Schauen wir das Leben von uns Individuen im Zeitraffer, bei Licht und intakter Sehschärfe an, dann leben wir wohl im schrillsten, wildesten, schockierendsten Film, den es je gab: La réalité surpasse la fiction. Labil, fragil, prekär, abgründig ist unser Leben geworden, wir bewegen uns alle auf einem kritischen Grat und wissen nicht genau, ob und wann wir abstürzen werden.

Diese Explosionen in der westlichen Welt hatten zur Folge, dass sich die Fotografie der neunziger Jahre ausführlichst mit Identitätsfragen auseinandergesetzt hat. Nicht mehr begeistert vom Neuen Sehen und der Welt der Dinge wie die zwanziger Jahre, von der Natur, den Bergen, Pflanzen, Tieren, den Menschen wie in den vaterländischen späten dreissiger Jahren, von der Rhythmik der Metropolen und der Subjektivität des (existenzialistischen) Flaneurs der fünfziger Jahre, vom Einbruch der Werbung in die Pop-Kunst der sechziger Jahre, von der Wahrnehmungs- und Erfahrungskunst, der Spurensuche der sechziger und siebziger Jahre und auch nicht von der Renaissance des Bildkultes in den achtziger Jahren, beschäftigt sich die Fotografie nun mit dem Karussell, in dem sich das Individuum dreht: der Verlust an Geschlossenheit und Absicherung, die Rollenwechsel, der freie Fall, die Aufsplitterung des Ichs.

Der Körper rückt dabei ins Blickfeld, Rollen werden ausprobiert, das Ich an Medienbildern gespiegelt, Sehnsuchtspotentiale ausgemessen oder die Familie als Hort hinterfragt.

Pate und Patin für die Arbeiten von Teresa Chen, Marianne Müller, Ugo Rondinone, Pipilotti Rist, Eliane Rutishauser, Franziska Wüsten, Chantal Michel, aber auch von Daniele Buetti sind die Selbstinszenierungen von Urs Lüthi und die Körperfotografie der früh verstorbenen Hannah Villiger. Die Werke von Urs Lüthi umkreisen den Riss, den das Bewusstsein der Moderne durchzieht – entlassen aus der Totalität, aus dem Ganzen, sehnen wir uns nach Überbrückung, nach dem Heilen der Gespaltenheit –, und stellen die Melancholie und Ironie als eine wichtige Grundhaltung des Überlebens heraus, diese Ambivalenz, diese Gespaltenheit zu denken, zu leben und zu ertragen. Visueller Träger dieses Lebensgefühls waren in den siebziger Jahren Lüthis schwarzweisse, später farbige Selbstinszenierungen als schöner, oft androgyner, sexualisierter Jüngling, der zur Projektionsfigur, zum Spiegel – “I’ll be your mirror” – wurde. Der Travestie-Charakter der Arbeiten lässt uns gerne übersehen, dass Lüthi sich hier zum Stellvertreter stilisiert, der mit den Sehnsüchten, Geschichten und Problemen konfrontiert ist, die wir alle in uns tragen. Ugo Rondinones Kopf schlüpft in der grossen Reihe I don’t live here anymore (begonnen 1995) digital in die verschiedensten Körper hinein, zieht sich medial vermittelte Erscheinungen über, probiert Kleider an und Geschlechter, Posen, Verhaltensweisen aus. Das Autoren-Ich spaltet sich in eine Vielzahl von mediatisierten Identitäten aus den “Fashion glossies” auf, die alle die Frage nach ihrer Lebbarkeit und Lustbarkeit stellen und die Sehnsucht nach Erfüllung aller Wünsche für den Zeitpunkt der virtuellen Realisierung stillen. Pipilotti Rists inszenierte Videos und Videostills erzählen ebenfalls nicht von einer nach innen gekehrten, rückwärts gewandten Inspektion, ihre Bilder weisen in die entgegengesetzte Richtung, sind ein einziger Fluss des Ausprobierens, des Aus-sich- und Über-sich-hinaus-Gehens: Ich will tanzen. Ich will fliegen. Ich will schwimmen. Ich will sein, hier und dort, diese und jene, voll und ohne Zögern und Bedauern – bis ihre Nase sich stösst, zumindest am Bildschirm. Pipilotti ist und Pipilotti feiert. Claudia di Gallo verführt uns, die Welt zu verlassen, eine "Reise jenseits des organisierten Systems" in den von ihr geschaffenen Kosmos anzutreten. Ihre "Voyager" sind von jeglicher Erdenschwere erlöste fliegende Wesen und damit weissgekleidete Boten einer heiteren Welt. Chantal Michel entfacht ein wildes Wechselspiel zwischen Räumen und ihrer selbst, die als Protagonistin wie ein Huhn auf den Tisch plumpst, wie eine Vase auf der Kommode steht und sich witzig in die Form der Räume, “sich ins Bild fügt”. Die Arbeiten von Ana Axpe und Eliane Rutishauser sind weitere Beispiele, sich in verschiedene Posen und Rollen zu kleiden und so weibliche Identitäten auszutesten.

Etwas anders Daniele Buettis visuelle “Identitätsbefragungen”. Sie finden an der Schnittstelle zwischen Medienversprechungen und eigenen Sehnsüchten statt. Tatzelwürmern gleich ziehen sich Bastelburgen durch Räume, mit Licht zu rechteckigen Lampions verkleidet, die mit Model-Fotografien aus Zeitschriften, mit gestanzten Lichtlöchern, gepunkteten Wörtern und Sätzen – “What is the most important thing in life?” oder “Joy of my Life” – das Thema des medialen Lichterreigens und der flirrenden Projektionen im Bereich der Wünsche, der Wahrheiten und der Liebe illuminieren.

Hannah Villigers minutiöse, bohrende Polaroid-Fotografien ihres eigenen Körpers stehen als Markstein da für alle, die ihr mit Körperarbeiten nachfolgten. Eine fast quälerisch suchende Fotografie, die in den Körper eindringen will, ihn aufsässig aus nächster Nähe abtastet, ihn auf- und abwickelt, zerlegt und in extremen Beschneidungen, einzeln nebeneinander aufrollt und anordnet. Hannah Villiger vereint in ihrem Werk malerische und skulpturale Elemente zu einer Foto-Performance, die vom Erarbeiten, Erkämpfen eines eigenen Ganzen anhand des fragmentierten eigenen “fremden”, doch nie verlassbaren Körpers erzählt.

Teresa Chen thematisiert – in Bildern, die mit Bändern gebundene, verklebte oder ins Wasser getauchte Körperfragmente zeigen, Haut, Arme, Mund, Auge, Schamhaare – einen gebrochenen Körperbezug, der zwischen Faszination und Ekel, zwischen eigen- und fremdbestimmt schwankt. Andrea Loux zwängt ihre Protagonisten wie Hannah Villiger in den Bildraum, aber die Körper sind nicht fragmentiert: sie vermitteln vielmehr den Eindruck von Rückzug in einen (embryonalen) Zustand der Kontraktion und Konzentration. Marianne Müller erkundet in A Part of My Life (1998) tagebuchartig ihr Leben über Bilder ihrer Kleider, ihres Körpers, der Gegenstände, denen sie begegnet, den Räumen, in denen sie sich bewegt. Ihr Blick auf sich selbst schwenkt von Alltäglichkeit ins Poetische ins Erotische, von Introspektion zu Extrovertiertheit, wandelt sich verwundert vom Selbstblick zum fremdbestimmten Blick. Miriam Staubs Vitrinen mit einer zarten Sammlung von Fotografien und Satzfragmenten wirken wie ein seismographisch feines Stochern im subkutanen Bereich des alltäglichen Lebens. Yolande Schneiter erkundet ihr Ich an der Spiegelung und Verdoppelung mit dem Bild ihrer Schwester. Franziska Matter und Françoise Caraco vergewissern sich an den Gegenständen, die sie umgeben, über mögliche Fixpunkte im Leben.

Franziska Wüsten schliesslich verbirgt ihren Körper ausserhalb der Kameraperspektive. Wir sehen ihre Kleider – Unterhemden, Pullis, Socken, Jogginghosen, Slips – als Knäuel auf grellem Kunstrasen liegen. Alles auf einmal ausgezogen. Eine einfache, von allen Müttern gehasste, private Geste wird hier öffentlich gemacht, ein autobiographisches Moment, das sich aber in farblicher und skulpturaler Gestaltung zum (Neo-Pop-Art-)Bild verwandelt.

Eine andere Form der Daseinsversicherung, der Daseinsbefragung sind Arbeiten, die sich der Familie widmen. Annelies Štrba hat in den vergangenen zehn Jahren (begonnen vor mehr als zwanzig Jahren) ein Werk über ihre Familie, genauer über ihre Töchter, vorgelegt, das in seiner Balance zwischen Fragilität und festigender Wärme, zwischen Realismus und Verklärung pendelt und in seiner Poesie vom verstohlen formulierten Wunsch nach Eingebettetsein spricht. Ruth Erdt dokumentiert seit achtzehn Jahren ihr Leben, sich selbst, den Vater ihrer beiden Kinder, die Kinder sowie die wichtigen Freunde und Freundinnen. Der Blick ist hart und direkt, aber auch warm und sentimental. Wir sind nahe dran, inmitten dieser Intimität, spüren die Spannung, die Erotik, die Verlorenheit, ausschnitthaft das Gefühlspotential einer jungen Familie – und wir fühlen uns doch nicht als Eindringlinge, denken entlang der Bilder über unsere eigene Suche nach. In der Tradition der autobiographischen Fotografie stehend, schafft Ruth Erdt Bilder von Eindringlichkeit, Offenheit und subtiler Erotik und führt damit die gemeinsame Suche nach Identitäten vor Augen. Stefan Banz wiederum zielt mit seinen Familienbildern auf allgemein Alltägliches, allgemein Privates. Anhand seiner Familie führt er die Familie an sich, die Art und Weise, wie sich Zusammenleben konstituiert, in Bildern vor und in die Kunst ein. Teresa Chen hingegen mischt ihren Körperbildern Bilder ihrer eigenen Familie bei, Einwanderern aus China, die in den USA das Bild der intakten Familie pflegen.

 

Medialien

Die Fotografie ist ein Zeige-, ein Vorzeigeinstrument. Kaum war ihr Prinzip entdeckt, ihr Verfahren erfunden, wurde hier etwas fotografiert, um es dort zu zeigen: Draussen in der Welt, in der “Fremde” wird fotografiert, um sie zu Hause vorzuführen, in einer anderen sozialen Klasse, um diese der eigenen zu präsentieren. Maxime du Camp fotografierte schon früh Ägypten und brachte das sagenumwobene Land, die Pyramiden, aber auch die Inschriften als Fotoalbum auf den französischen Bürgertisch. Diese ersten Fotografien zeigen die Welt weitgehend ruhig und ganz, aus gebührender Distanz. Der Einsatz von kleineren Kameras, von Rollfilm, von Blitzgeräten störte diese Ruhe auf, griff ein erstes Mal die Intaktheit der Figur an. Die Fotografie “entdeckte” jetzt das Versunkene, Verborgene, entdeckte den Schnappschuss, der Unverhofftes zeigt: den Bettler am Strassenrand, das Liebespaar beim Kuss, den Milchtropfen beim Aufprall, eine Frau beim Treppensteigen, einen Körper, der sich zerdehnend offenbart. Neue Filmmaterialien, grosse Teleobjektive, elektronische Nachtsichtgeräte (Restlichtverstärker) störten sowohl die Intimität von Filmstars als auch die Unberührtheit des Weltalls (Hubble). Mit den elektronischen Möglichkeiten wurde der Zeigegestus total, und zugleich offenbarte sich erstmals scharf, dass das Forschen und Entdecken – von Dingen, von Verhältnissen –, das dem fotografischen Tun edel um den Hals gelegt wird, nur die geringere, die matte Seite der Medaille ist, die glänzende hingegen ist das Zeigen und Vorzeigen, das Präsentieren: hier, schaut her, was ich euch zeige, was wir euch zu bieten haben. Die gebührende, “anständige” Distanz zur Welt, zum Gegenüber haben wir schrittweise verschoben zu einer unanständigen, schamlosen Nähe.

Die Geschichte der Fototechnik und Videotechnik ist nur ein Strang dieses gierigen Strebens von Distanz zu Nähe – das Hervorzerren des Privaten an die Öffentlichkeit, das Privatisieren der Öffentlichkeit –, sie ist der offensichtliche Strang, an dem sich ablesen lässt, wie sich eine ganze Gesellschaft pornographisiert. Laurel und Hardy haben sich gegenseitig Torten ins Gesicht geklatscht, heute sind es Geschlechtsteile, die fast am Bildschirm kleben, so nahe werden sie gezeigt. Nichts mehr von der Ruhe, Intaktheit und Distanz des 19. Jahrhunderts, der pornographische Blick überschreitet alle Grenzen, stückelt auf, preist an, hektisch, schnell. Körperteile sind dabei nur das eine Ziel, intimste Gedanken, höchst private Streitigkeiten, Behinderungen werden rund um die Uhr vorgeführt. Vervielfacht, unendliche Male, 24 Stunden am Tag. Thema ist immer: Zeigen, Anbieten, Vorzeigen, mit fotografischen und elektronischen Bildern und mit Worten, von Innerstem, Verstecktestem, wobei sich die Muster medial standardisieren.

Erik Steinbrechers Sammlung von Medienbildern handelt im Feld dieser Bilderwelt, lässt uns diesen totalen, umfassenden Bildergestus in der Katalogisierung und neuerlichen Auslegung spüren. Diesen grellen Bonbons stellt er Bilder gegenüber, die vom totalen Zeigegestus, vom Zeigewahn wissen und sich deshalb zurückziehen, sich murmelnd verweigern. Klein- und grossformatige Verweigerer, die sich wie Vierphasentaps zur Reinigung, zur Beruhigung des Referenzwirrwarrs in unseren Köpfen einsetzen lassen.

Die Fotografie ist von allem Anfang ein revolutionärer Mediatisierungsvorgang, in den neunziger Jahren hingegen wird bohrend deutlich, wie das Medium die Welt nicht nur abtastet, sondern sie durchdringend neu erschafft und mit anderen Medien zusammen zu einem Supergewebe verstrickt, in dem sich alle Fliegen verfangen.

Einer geht noch näher heran: Rémy Markowitsch. Auch er ein Sammler wie Erik Steinbrecher. Markowitsch tastet, leckt nicht nur ab, duchleuchtet sogar. Der Zyklus Nach der Natur untersucht die Verwendung von Fotografie in Büchern. Er registriert Registriertes und durchleuchtet Darstellungsformen gedruckter Fotografie. Markowitsch interessiert nicht nur die Sprache und ihre Buchform, sondern auch unser gemeinsames Bildarchiv, die Bücher, in denen sich das Sehen, die Bildwelten des 20. Jahrhunderts niederschlagen und mit ihnen immer auch der Umgang mit Bildern – die Anordnung auf der Seite, die Abfolgen, die Drucktechniken. Diese visuellen Archive des Wissens aber werden von ihm nicht beschrieben, sondern beleuchtet, durchleuchtet. Als Künstler hebt Markowitsch gerade das Opake auf, um der doppelseitigen Ablagerung ein Bild abzugewinnen. Ein bisschen verhält sich das wie visuelle Chirurgie: “aufgeschnittene” Bücher.

Nicolás Fernández erstellt auch ein Archiv. Gesammelte Zeitungsbilder werden zum Beispiel so beschnitten, dass behütete mitteleuropäische Kinder immer alleine dem täglichen Grauen ausgesetzt sind (Children’s Song) und Autounfälle ohne Menschen zu Schreckensbildern per se werden. Ein zynischer Kommentar zum Graben zwischen Bild- und realer Wirklichkeit. Einen weiteren medialen Kommentar gibt Fabrizio Giannini ab. Gianninis Realität ist das Fernsehbild. Er fotografiert es ab, legt ein Archiv davon an, banalisiert die banalen Bilder durch wahlloses Ausschneiden weiter – und bedient sich dann dieser Bilder wie bei einem Baukastensystem, um damit neue, temporäre Zusammenhänge zu kreieren, die uns in rätselhafter Unruhe lassen.

Der Berner Laurent Schmid nimmt sich dem Medium Fotografie minutiös an, untersucht die Trägermaterialien, macht die Tücke zum Objekt, wandelt den Fehler zum Verlangen, macht “Partisanen” (so werden im Druckprozess Schmutzteilchen auf der Platte genannt, die im Raster einen schwarzen Punkt mit heller Aura erzeugen) zu Hauptdarstellern. Schmid hat eine Reihe von Arbeiten mit diesen berufsethischen Schandflecken vorgelegt, zum Beispiel die Arbeit Lichtenbergsche Figuren aus der Serie “Elektrisieren auf Bergen”. Bei extrem trockener Luft können beim Filmtransport elektrostatische Entladungen vorkommen, die sich in Blitzen auf dem Film manifestieren. Schmid überblendet nun dieses Fehlverhalten mit Bildern eines Elektrizitätswerkes und mit Stadtbildern, mit dem Kraftwerk und dem Kraftverschlinger.

 Studer/van der Berg schliesslich arbeiten in Still Life Take Away mit der Banalisierung, der Verwertung des Bildes als Ware. Sie richten im Internet eine Art Versandhauskatalog ein, in dem sich jeder bedienen und Bilder selbst zusammenstellen kann. Drückt der Betrachter dann wirklich auf “Bestellung ausführen”, so erhält er einen schwach aufgelösten, vom Computer generierten Print zugestellt.

Neue Welten erzeugt Martin Blum durch seine medialen Eingriffe. Blums Bildkonstruktionen setzen das zur Verfügung stehende Instrumentarium ein: Abziehen des Bildes vom Träger, Ausschneiden des Bildes und plastisch-räumliche Anordnung, Rollen des Bildes, in die Ecke, in den Raum stellen, Verwendung von vorgefundenem, gedrucktem Bildmaterial, Vermischen von Bild- und nichtbildnerischem Material – und schliesslich Licht- und Schattenwurf, was Räumlichkeit und Tiefe erzeugt. Diese Mittel sind so eingesetzt, dass man, spätesten beim zweiten Blick, das Landschaftskonstrukt erkennt und in Wahrnehmungsabgründe eintaucht.

Cat Toung Nguyen stellt dokumentarische Blicke auf städtisches Leben, Porträts einer Frau, das Bild eines Schnee bedeckten Berges neben konstruierte Landschaften, deren Horizont durch das simple Aufeinandertreffen von transparenten und opaken Flächen gezogen wird, und neben Bilder, die eine landschaftliche Farbstimmung durch den Blick in künstlich beleuchtete Vitrinen aufscheinen lassen. Die Motive treten dabei auffallend in den Hintergrund, treten zurück zugunsten einer entspannten Spannung des Blicks, der scheinbar auch das Nichts durchdringen kann. Die Mediatisierung ist hier Thema und Hilfsmittel, um einen Klang, einen Seelenklang zu erzeugen. Daniela Keiser richtet den Blick auf das erste Motiv, die erste Ordnung in der Fotografie: auf die Landschaft, draussen beim “Spazieren”. Ihre Landschaften sind von Spalten durchzogen, die das Heitere der Stimmung verdunkeln. Der normale Waldspaziergang kann äusserlicher und innerlicher Tatort sein, abgründig trotz Licht und Farben. Keiser kreiert mit ihren konstruierten Landschafts-Bildern zwiespältige Wahrnehmungssituationen. Hervé Graumanns Fotografien und Internetproduktionen stellen die Realität als Fundus für das Fiktionale und das Fiktionale als Basis für jeden Realitätsbezug heraus. Eine rhythmische Anordnung von Kleinobjekten mit einem bestimmten gestalterischen Touch in "Pattern" (2001) liest sich wie das Bild eines Chips oder eines Computerprogrammes.

 

 

Bilderzauber

Damit sind wir mitten in einem Feld, das die Schweizer Kunst immer wieder und besonders beschäftigt: das Spiel – forschend, augenzwinkernd und doch seriös – mit dem Bild. Es soll die Rede sein von Bergen, die keine sind, von Unfällen mit Würsten und brennendem Pappmaché, von geteilten Frauenleibern, von verlorener Natur und ebensolcher Wahrheit, von Fotografie, die Zeichnung, von Zeichnung, die Fotografie ist, vom Schein, der trügt, und vom reinen Scheinen, von der falschen und der einfachen Feier. Gäbe es Manifeste, so sagten sie: Der Schein trügt, und das macht auch Spass; der Stil ist am Ende, Gott sei dank; die Welt mutiert, schauen wir hin. Ja, es ist ein Spiel – “Im Ausklang der Moderne lernte die Kunst das Lachen wieder” (Beat Wyss) –, aber ein seriöses. Ja, es geht hier um eine Art von Bilderzauber, aber ebenso um den falschen Zauber, das Vorgaukeln, das Flunkern. Hautnah und doch nicht eigen. Merkwürdige Kühe, falsche Schweine – und der Hase, er kommt gleich doppelt, gespiegelt, aus dem vollen Buch, nicht aus dem leeren Hut. Und die Aura, das Erhabene der lichtdurchfluteten Kuppel? Sie geht auf über einem Salatsieb aus Plastik, fotografiert mit Polaroid, ebenfalls aus Plastik, vor Neonlicht. Das Bild und die Dominanz der Form stehen hier öfter auf dem Spiel, mit ihnen unsere Wahrnehmung, unser Ernst, unsere Suche nach dem geraden, eingefassten Weg, unsere Sucht nach dem formalisierten Werk.

Dies hat schon in den geliebt-geschmähten Nierentisch-Fünfzigerjahren vereinzelt angefangen und damals Gedankengut der dada-Zwanzigerjahre wieder aufgegriffen, als ein junger “Schnösel” die Doktrin bildnerischen Gestaltens wortwörtlich an den Strom hängte. Jean Tinguely, ein Elektromotor und Batterien setzten die damalige Staatskunst in Bewegung. Meta-Malévich war geboren, eine Serie von schwarzen Holzkästen, das ironische Unterlaufen einer Schule und humorvolles Spielen mit sich selbst. Die Gestaltungsdoktrin brach dadurch nicht, jedenfalls noch lange nicht zusammen, hatte sie doch gerade erst als “Gute Form” die gesellschaftliche (und das hiess damals auch bürgerliche) Sanktionierung erhalten, aber es war ein erster Ausweg aus den Absolutheitsansprüchen angebahnt.

 Und dann flatterten 1964 Peter Knapps 36 fotografierte Schweizer Fahnen an der Schweizer Landesausstellung Expo 64, bestätigte Ben Vautier der Leinwand mit seiner Handschrift, dass sie eine “Toile”, eine Leinwand ist (und drei Jahrzehnte später “La Suisse n’existe pas”, die Schweiz existiert nicht), blendeten 1967 Samuel Buris giftig gemalte und aufgerasterte Chalets die Augen, spielte 1967-69 Jean-Frédéric Schnyders Record-Cover-Art ein Augen- und Fetischspiel (das Christian Marclay in den neunziger Jahren erfolgreich wieder aufgriff), thematisierten 1969/70 Burkhard/Raetz gemeinsam in 15 grossen Fotoleinwänden die Wiedergabe als Objekt – Schwarzweissabbildungen von banalen, alltäglichen Dingen und von Orten (Atelier, Küche, Doppelbett, Vorhang, ein Blatt Papier) wurden auf Leinwänden (gross-)vergrössert und an zwei Klammern an der Wand befestigt –, schuf Herbert Distel mit seinem Werk 220 V von 1971 einen leeren Goldrahmen, der sich selbst beleuchtet, und beschäftigte sich Heinz Brand schliesslich von 1965 bis in die achtziger Jahre hinein in fotografischen Arbeiten mit der Relativität des Sehens, mit der Idee, der materiellen Wirklichkeit und ihrer beider Repräsentation. Aldo Walkers und Rolf Winnewissers je eigenes und bisweilen gemeinsames “Stromern im Bild” und Christian Rotachers Klein-Installation von 1978 – eine zirkusähnliche Szene mit einer aufgespannten Leinwand in der Mitte, zwei Hochsitzen je gegenüber und dem Titel: “Fontana, der Tiger, der als erster durch die Leinwand gesprungen ist, uns bleiben die Feuerringe”, eine Ironisierung von Lucio Fontanas Akt des Durchschneidens der Leinwand, der Tat – beenden das querschnittartige Ausbreiten.

Diese späten sechziger und siebziger Jahre waren zusammenfassend also für viele Künstler eine Zeit der Abkehr: von den abstrakten, reinen, nach Objektivität strebenden Gestaltungsweisen und ihrem gedanklichen Überbau, vom Werk als geschlossener, absoluter Entität; von der Vorgabe des kunstwürdigen Materials und vom Stildenken. Absage auch an die grosse Form, die grosse Erzählung, die übergreifende Wahrheit, das Absolute, dafür Einsicht in die Bedingungen des eigenen Tuns, die Beschränkung der Aussage: “ ... Setzungen werden nicht mehr als überindividuelle Wahrheit akzeptiert, sondern werden auf ihr Funktionieren, auf ihre Rechtmässigkeit überprüft. Dieser Individual-Anarchismus entspricht einer ,Dekolonialisierung‘ des Individuums von den Aussensetzungen, von der Aussengesteuertheit, von Konventionen und Übereinkünften.” (Theo Kneubühler) Und es war eine Zeit der unablässigen Erkundung: Reflexion und Relativierung der Welt, der Wahrnehmung, der Kunst, der Bildvorstellungen und -gestaltungen.

Die Werke – vornehmlich die kleine Zeichnung, das sich bescheidende Aquarell, das kuriose, merkwürdige Kleinobjekt sowie das Notizbuch – waren in erster Linie Feld, Mittel und Notate von Erkundungen. Zunehmend wurde dazu auch die Fotografie eingesetzt, ebenfalls als Mittel zur Notiz, zur Dokumentation, zur Konstruktion und In-Szene-Setzung, aber auch zum Spiel mit sich selbst, mit sich als dem perspektivischen Paradepferd. Auf einmal waren sich die Fragen der Fotowelt und der Kunstwelt sehr nahe. Christian Vogts Zeit-Raum-Sequenzen, sein forschendes Spiel mit dem Bildrahmen, und Vladimir Spaceks Licht-Raum-Forschung sind gute Beispiele dafür.

Neben Figuren wie Gérald Minkoff, Hugo Suter und Markus Raetz haben vor allem Peter Fischli und David Weiss das Spiel mit dem Bild vorangetrieben. 1979 haben sie zehn kleine Farbfotografien vorgelegt, die als “Wurstserie” bekannt geworden sind. So bescheiden die Serie anmutet, sie enthält all den Sprengstoff ketzerischen Tuns, den Fischli Weiss’ spätere Arbeiten, angefangen mit den Weltszenen in Ton, Plötzlich diese Übersicht, über die Karotten- und Küchenraffel-“Tänze” in der fotografischen Reihe Stiller Nachmittag bis hin zur farbechten Agglomerations-Idylle von 1992 auszeichneten. “Bei den Höhlenbewohnern” heisst ein kleines (fotografiertes ) Feuerchen im Backofen, “Untergang der Titanic” ein (fotografiertes) Stück Styropor im Wasser, “Eitles Pack” oder “Modedefilée” die herausgeputzten Cervelatwürste, “In den Bergen” eine schneebedeckte Hügellandschaft aus Bettzeug mit eingelassenem Bergsee; “Der Unfall”, “Der Brand zu Uster”, “Pavesi” oder “In Anos Teppichladen” sind weitere Titel. Das Ketzerische formt ein Viereck: Einmal ist da das Erzählerische, sonst verpönt im 20. Jahrhundert, dann das fast kindlich anmutende Basteln auf Elterns braunem Mohair-Teppichboden, schliesslich die banalen Materialien – Eierkartons, Würste – bei “anspruchsvollen” Themen wie “Der Unfall” oder “Der Brand zu Uster”. Der Ernst der Forschung in den siebziger Jahren schlägt hier um in die schiere Freude am Spiel, am schranken- und doktrinlosen Tun und Lassen.

Fischli Weiss’ Einführung der erzählerischen Bildkonstruktion findet seit 1984 bei Christoph Rütimann eine Parallele. Der Luzerner Künstler, bekannt für sein Schaffen in vielen verschiedenen Medien, bekannt auch für seine gedanklich und gestalterisch präzisen Arbeiten, die im wesentlichen um das Thema offener, floatender Energien streifen – Energien, die sich dann und wann zu Flüssen verdichten, die sich niederschlagen, Ausfällungen produzieren, als Gewicht auf der Waage, als Linie auf der Wand, als Kurve im Raum, als seismographische Notate auf Papier –, dieser Christoph Rütimann lebt seine poetische Seite vielleicht am stärksten in seinen Polaroid-Arbeiten aus, die er in manchen Winterferien tatsächlich im Schnee inszeniert. Die Serie Polaroids 95 mit 42 Polaroids – 42 verschiedene Szenen bzw. Geschichten im Schnee – ist erzählerischer, theatralischer denn je. Man gewinnt den Eindruck, als bilde der Schnee eine hervorragende, halbdurchscheinende, halbpräsente Bühne für die verschiedensten Bildgeschichten, Bildrätsel, Bildspiele. Kleine szenische Stücke, das eigene und das Bildnis seiner Freundin teils integriert, die aus lauter Fragmenten von ausgeschnittenen Fotos, Hölzchen, Stäbchen, Klebeband ein schönes rätselhaftes Bild-Gewebe inszenieren. Verkehrte Grössenverhältnisse, fragmentierte Figuren und Wörter, reale Gegenstände und ausgeschnittene Fotofiguren entfachen zusammen einen poetisch-bildnerischen Zauber.

Bernard Voïta ist strenger in seinen Fotografien. Er konstruiert wie Rütimann alles bis zum letzten, doch seine Intention ist weniger das Theatralische als das Skulpturale, das Bildhauerische. Hat er in früheren fotografischen Aufbauten mit der Bildfläche und der Raumtiefe, mit dem Glanz der Wiedergabe und einem Raster als Bildordnung gespielt, so sind seine Werke Ende der neunziger Jahre architektonischer. Sie sind ein Gang durch Architekturen und Städte, entlang der Autobahnen, an einer Tankstelle vorbei, ein Innehalten vor Häusern im Bau, bevor es ins Freibad geht. Die kleinen und mit viel Weissraum umgebenen Fotografien sind wie vergrösserte Rasterpunkte, kommen wir jedoch näher heran, dann öffnet sich darin ein ganzes Universum. Der Homo ludens ist bei Voïta immer zu spüren, aber auch die Liebe zur perfekten Konstruktion. Fiktionen mit dem Geschmack von Realität.

Peter Tillessen entfacht mit seinen Bildserien, die er im Buch Gold zusammengefasst hat, ein heiteres Spiel mit dem Schein. Trompetengold, als Vortäuschung von Gold, sind seine Serien. Die heissen zum Beispiel “Aktionskünstler” und zeigen Menschen im Supermarkt beim Schnäppchen-Kauf oder “Kunst am Bau” und zeigen Baumaterialien, die so angeordnet sind, als wären sie gerne installative Kunst. Die Degenerativen Bilder ziehen den Blick, nicht unähnlich den Arbeiten von Luigi Ghirri aus den siebziger Jahren, durch die Vorgärten an die Hausfassaden, durch Tankstellen hindurch auf die Strasse und kreieren als Serie eine Art Achterbahn durch die Zeichenwelt der banalen Alltäglichkeit im urbanen Zusammenhang.

Derek Stierli inszeniert mit Bildern von Zigaretten und Dingen, von einem Badeanzug und von einem Bikini mit Frau ein fast absurd-witziges installatives Spiel über die Differenzen in der Wahrnehmung. Heinrich Lüber lässt in den Diaprojektionen von Fotoperformances zwischen Autor und Gegenständen irrwitzige Situationen entstehen und vergehen.

 

 

Inszenierung und neue Narration

Das Unheimliche nähre sich aus der Allmacht der Gedanken und Wünsche, der Magie und Zauberei, der Beziehung zum Tode, der Belebung des Leblosen, der unbeabsichtigten, unvorhergesehenen Wiederholung oder Handlungsweise und dem Kastrationskomplex, schreibt Freud – und das Unheimliche des Erlebens komme zustande, entweder wenn verdrängte infantile Komplexe durch einen Eindruck wiederbelebt werden oder wenn überwundene primitive Überzeugungen wieder bestätigt erscheinen.

In Literatur, Film und auch in der Kunst wird das Potential des Unheimlichen eingesetzt. In Horrorfilmen dient es einzig dem Ziel, die Betrachter fürs Eintrittsgeld gehörig zu erschrecken. In anspruchsvollerem Rahmen, in Theaterstücken, Erzählungen, in Darstellungen der Kunst, wird der meist zugrundeliegende (surrealistische) Wechsel von Realität zu Fiktion, zu Fantasmen und zurück – der vielfach für das Entstehen eines unheimlichen Gefühls in der Kunstwelt mitverantwortlich ist – zur eindrucksvollen Darstellung von konkreten Ereignissen oder von wesenhaften Elementen im Weltdasein eingesetzt. Das Unheimliche dient hier als Mittel zur Steigerung der emotionalen Bereitschaft, zur Verdeutlichung des zu Verstehenden oder zur Läuterung. Immer wieder, so auch im Surrealismus, wird damit aber auf das Untergründige, Verdrängte, auch auf die dünne Haut, die dieses vom bewussten, rationalen Verstehen trennt, hingewiesen.

Es ist auffallend, dass in jüngster Zeit das Prinzip des Unheimlichen häufiger und stärker eingesetzt wird. Weniger wohl, um mit der Attraktivität und Macht der Unterhaltungsindustrie mithalten zu können, als mit dem Ziel, den grossen gesellschaftlichen und intellektuellen Unsicherheiten am Ende des 20. Jahrhunderts begegnen zu können. Wissen wir denn, wie wir uns richtig zu ernähren haben, wie wir richtig miteinander umgehen, was wir tun sollen, um unseren Job zu behalten, wie man den neuen Technologien zu begegnen hat, wie wir die Klimaveränderung positiv beeinflussen können, wie wir nicht wahnsinnig werden – wissen wir auf all diese und noch hundertmal mehr Fragen eine einzige verlässliche Antwort, die uns Stabilität in unserem Sein ermöglichen, uns beruhigen, festigen, wirklich handlungsfähig machen könnte? Die Antwort darauf ist doch das einzig schlichte an der unheimlichen Lage – und das Lachen darüber das einzig Befreiende.

Viele Arbeiten der neunziger Jahre arbeiten mit diesem Spannungspotential, arbeiten allgemeiner mit der Ambiguität, diesem Übergangszustand, der keine Sicherheit vermittelt, sondern uns floaten und treiben lässt, ohne dass wir genau wissen, wohin und wozu. Und die meisten dieser Arbeiten sind theatralischer Natur, sind inszenierte, in Szene gesetzte Fotografie, häufig mit einer Anlehnung an filmische Sequenzen. Seit den späteren achtziger Jahren visualisiert beispielsweise Istvan Balogh kleine Alltagsszenen zu Allegorien der Gegenwart. Mit Schauspielern oder Laien realisiert er kleine narrative Tableaux, in denen eine Fülle an Bedeutungen mitschwingt. Olivier Richon hinterfragt seit den achtziger Jahren als erklärter Antiklassizit in reichen, gediegenen Natur- und Kulturtheater-Bildern die Doppelstruktur der Fotografie von Repräsentation und Reproduktion, erfreut darüber, dass sich im Zeitalter der Aufhebung von Dualismen wie Schein und Sein sich alles als bühnenbildnerische Rhetorik entlarvt.

Standen sie in den achtziger Jahren noch alleine auf weiter Flur, so änderte sich das in den Neunzigern schnell. Olaf Breuning, Shooting-Star der Schweizer Kunstszene, ist Performance-Künstler, Choreograf, Bühnenbildner und Fotograf in einem. In einem assoziationsreichen, inhaltlichen und formalen Cross-over führt er uns in “verhexte Welten”: zum “Waldfest”, in ein “Bed & Breakfast”, in die “Woodworld”, ins “Empire”, zu den “Apes”. Er lockt uns – “come with me” – wie einst Till Eulenspiegel oder die Hexe bei Hänsel und Gretel in wunderbare, in schauerliche Reiche. Aber er verführt uns nicht persönlich, sondern baut mit viel Material Höhlen, Schlünde, Räume auf; Blendwerk, in das er uns, unter Einsatz von Musik und Licht, hineinlockt. Getragene oder süssliche oder schrille Musik, weiches oder kaltes, ja grelles Licht versetzen uns in Wechselbäder der Sinne. Olaf Breuning kreiert begehbare Installationen, die aber nicht (in erster Linie) an das denkerische Sehen, das Verstehen appellieren, sondern an die Sinne, die Gefühle, die Seh- und Hörlust. Erleben sollen wir seine Welten, hineingezogen und verführt sollen wir werden: von einer faszinierenden, manchmal erschreckenden Mischung aus Versatzstücken aktueller Film-, Video-, Musik- und Modewelten. Die Kunst wird hier sinnlich aufgerüstet, die Lifestyle-Welt persiflierend hinterfragt – in Installationen und in fotografischen Standbildern.

Auch Alexia Walther verlässt den authentischen Bereich und re-inszeniert die Gerüche, die Räume, die Gesten ihrer Kindheit, sie erinnert sich in Bildern an den Familienraum, der für Freiheit und Ordnung, für Spiel und Manier stand. Die Bilder leben von der minutiösen, detailreichen Szenerie und von den Spannungen und Brüchen, die den heiteren Klang brechen lassen. Wie bei Standbildern eines Films trügt aber die vermeintliche Harmlosigkeit der eingefrorenen Szenen. Walthers Inszenierungen sind von latenter Erotik oder einem unmittelbar bevorstehenden Drama gezeichnet. (Ulrike Meyer Stump)

Teresa Hubbard und Alexander Birchler, amerikanisch-schweizerisches Künstlerpaar, scheinen in all ihren Arbeiten das Latente als Bildstimmung anzuvisieren: Übergangszustände in den Fotoarbeiten Falling down, fragile Blicke in den Holes, Schwebezustände auch in den neuesten Videos, Detached Buildings und Eight. Ihre fotografischen Arbeiten nähren sich vom Filmischen, ihre Videoarbeiten nähren sich von der Fotografie, sind eine Art von langsam vergehenden Tableaux Vivants mit vielen Bezügen zur Kunst- und Filmgeschichte. Sie arbeiten visuell überzeugend an der Auflösung des Sicheren, des Geordneten, verweben Draussen und Drinnen, scheinen auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ein Vakuum, eine Unentschiedenheit versetzen zu können.

Viele der Positionen, die in der Ausstellung und nachfolgend im Bildteil präsentiert werden, können unter dem Label “fragile Konstellationen” zusammengefasst werden. Katrin Freisagers rätselhafte junge Frauen, die – quasi schwebend, verloren wirkend – sich zu einer Gruppe der Ähnlichen versammeln (to be like you), wirkt da leitmotivisch. Sie hat sich spätestens mit ihrem grossen, siebenteiligen Fries dem Hybriden, dem Spiel mit der Grenze ins Künstliche verschrieben: Living Dolls zeigt schöne, makellose Modelle, die auf einer hellen, genoppten Unterlage aus Schaumstoff gleichsam schweben, entschweben. Ihre spärlichen, halbdurchsichtigen, hautfarbenen Kleider reduzieren das Nacktsein, das Sexuelle, neutralisieren es. Wir meinen, neuartige Medienwesen, biologisch angereicherte Cyborgs vor uns zu haben, mit einem schwarzen Wesen in ihrer Mitte, das gleichermassen fremd erscheint, wie es dem Reigen menschlicher Künstlichkeit optischen Halt verleiht. In der neuesten Arbeit, to be like you, wird ein komplexes Thema angegangen, das zwischen Zugehörigkeit, Isolation und Einzigartigkeit pendelt.

Emmanuelle Antille spielt in narrativer Form mit ambivalenten Stimmungen von Gewalt, von Einsamkeit, mit der Interaktion zwischen dem Einzelnen und der Gruppe. In den Stills des Videos Introducing my blood sister I, II, III beobachten wir eine Frau im Kostüm durch eine Überwachungskamera. Am Anfang im Unklaren darüber, welcher Situation wir wirklich beiwohnen, spüren wir mit der Zeit das Gefangensein dieser Frau, ein inneres und äusseres Gefangensein, in äusseren und internalisierten “Vorschriften”. Die Videos Reflecting Home (1998), Wouldn’t it be nice (1999) und Night For Day (2000), meist in komplexen Installationen und Projektionen gezeigt, führen die Themen erfolgreich fort.

Das Künstlerduo Lang/Baumann – Sabine Lang und Daniel Baumann – rezyklieren in aufwendigen, grellen Raumgestaltungen den Geschmack und die Euphorie der sechziger und siebziger Jahre. In ihren Fotoarbeiten – Strand (1997), Auf dem Bett (1997), Vitaparcours (1998) und Wellness (1999) – inszenieren sie mit augenzwinkerndem Charme und viel Ironie Lebensbereiche neben der täglichen Arbeit und behaupten darin mit viel Zweckoptimismus, dass alles seine Ordnung hat.

Viele dieser Arbeiten entstehen entweder in Wechselwirkung mit Videoarbeiten oder sie lassen sich von filmischen Strukturen und filmischem Sehen beeinflussen. Die Fotoarbeiten von Frédéric Moser und Philippe Schwinger sind direktes Resultat ihrer Videos, dieser gefilmten langsamen, reduzierten Situationen, in denen sich zwei einander gegenübersitzende Menschen, zum Beispiel in einem Boot auf dem Wasser, Sätze zuwerfen wie “Ich habe den Eindruck, ich tauge nichts” oder “Du bist nicht ehrlich”. Die Bilder ziehen aus den stilisierten, modellhaften Videos fast archetypische Situationen, in die wir hineingeraten oder die unsere Träume besetzen. Marco Polonis 54-teilige Fotoarbeit Shadowing the Invisible Man gibt sich als Skript für einen Kurzfilm, der nie realisiert wurde. In 54 Fotografien und 54 Anweisungen für die Kamera, für die Handlung, entwickelt sich die fiktiv-dokumentarische Geschichte eines Asylanten, der in Bari, Italien, landet und sich von dortaus in Richtung Schweizer Grenze durchzuschlagen versucht. Wir sehen den Asylanten nie, aber wir sehen mit seinen Augen, und wir sehen das “Setting”, die Tatorte, an denen er sich aufhält, bevor er sich weiterbewegt. Die Tendenz vieler Künstler heute, einen Kurzfilm, ein Video zu produzieren, wird hier umgekehrt mit dem Ziel, aus der Filmsprache eine neue Narration für fotografische Sequenzen und Geschichten zu entwickeln. COM & COM, das wilde Schweizer Duo Johannes M. Hedinger und Marcus Gosselt, schliesslich bedienen sich aller Medien und Plattformen. COM & COM schlüpfen in Rollen auf einer Barclay-Anzeige, katapultieren sich in den Werbeauftritt grosser Galerien, finden sich wieder in konstruierten Klatschspalten, parodieren in C-Files: Tell Saga die Unterhaltungsindustrie, den Mythos Wilhelm Tell, und sind Consultants for the Future. Glamouröse Schwanzbeisser-Künstler, die jedes Event, in dem sie auftreten, gleich selbst kreieren.

 

 

Katastrophen

Das inszenierende Momentum dominiert auch Christoph Draegers “Katastrophen-Zonen”-Arbeit. Er rekonstruiert, inszeniert und dokumentiert Katastrophen: Reale Katastrophen in der Welt draussen, die Draeger besucht und fotografiert, und die den Ort des Geschehens in seiner Wahrnehmung für immer verwandeln, stehen neben der ästhetischen Inszenierung und der Videodokumentation von Katastrophen, wie beispielsweise dem Erdbeben in Kobe. Offensichtlich geht es Draeger dabei um die Auseinandersetzung mit der involvierten Gewalt: die Gewalt der Zerstörung wie auch die Kraft, jegliche Bedeutung durch eine Katastrophe von Grund auf zu ändern. Patrick Weidmann, in den achtziger Jahren bekannt geworden durch Arbeiten, die sich buchstäblich mit den Rahmen-Bedingungen und Schein-Werfern auseinandersetzten – Rahmen von Bildern, Ins-Licht-Setzen und Schmücken eines Raums –, setzt seit ein paar Jahren seine Beschäftigung mit schönem Scheinen verwandelt fort: Bildern von hochglanzpolierten, fabrikneuen Autos und Karosserieteilen stellt er völlig demolierte Autowracks gegenüber – für den Autoliebhaber die Katastrophe schlechthin. Annelies Štrbas neue Videostills zeigen Stadtlandschaften – Berlin, New York – aus der Luft, arbeiten mit Verfremdungen, die die Stadt wie durch Röntgenaugen gesehen präsentieren: als sei die Stadt erschüttert, auf ihr Skelett, auf ihre Energieströme zusammengestrichen worden. Unwirklich und fahl taucht Berlin auf, als feuchte die Vergangenheit durch das Bild der Gegenwart.

 

 

Natur ersten, zweiten, dritten Grades

Ende der sechziger Jahre begann in den USA eine markante Bildrevolution. Die Vorstellung der amerikanischen Landschaft als einer grossen, grossartigen, unberührten, heiligen NATUR – über hundert Jahre hinweg in Landschaftsfotografien von Carlton Watkins über Edward Weston zu Ansel Adams und Minor White idealisiert und hochstilisiert zur Verkörperung des Ewigen, Beständigen, Göttlichen, das nur herausgefordert wird durch die eigenen Kräfte, durch Sonne, Regen, Schnee und Sturm – war plötzlich mit der Vorstellung einer sich verändernden Landschaft konfrontiert, der Besetzung des Landes, der Verwandlung der Natur in ein Territorium, das in Besitz genommen wird. Robert Adams, Lewis Baltz, Joe Deal, Stephen Shore und andere junge Fotografen stellten der bedeutungsschweren, entzückenden und entrückenden Sicht einen realistischen Blick auf die konkrete, alltägliche, banale Umgebung gegenüber. Diese neue Generation von Fotografen skandalisierte mit der Ausstellung New Topographics (1975) die Vorstellung des schönen, existenziellen Landschaftsbildes. Aus der “göttlichen” Landschaft wurde die Landschaft als reales Faktum und als künstlerisches Konzept.

Dieser Bruch im Verständnis und Verhältnis zur Natur ist besonders schön an der amerikanischen Fotografie aufzuzeigen. In der Schweiz ist Nicolas Faure der “neue Topograph” der Schweizer Landschaft und der Schweizer Fotografie. Er hat hier den Paradigmenwechsel vollzogen. Seit rund fünfzehn Jahren realisiert er Werkgruppe um Werkgruppe mit Bildern, die die aktuelle Schweiz zeigen – mehrheitlich Landschaftsfotografien. Seine Farbfotografie hat von Anfang an Erhöhungen, Idealisierungen gemieden, hat direkt und einfach Vorliegendes, Augenscheinliches, Offensichtliches “gesehen” und bildfähig gemacht: die neue, eigentliche, ungeschönte Schweiz, die Schweiz, von der Autobahn aus besehen, die Schweiz der Vorgärten, Parkpätze, Lagerhallen, Stromkandelaber.

Unser Verhältnis zur Natur hat sich seither, nicht zuletzt durch den unbedingten Glauben an die Wissenschaft, noch mehrmals überschlagen. Hans Danuser beschäftigt sich seit zwanzig Jahren mit exakt dieser Frage. In den achtziger Jahren waren es Machtzentren der heutigen Gesellschaft, die ihn interessierten: Goldraffinierung, Atomforschung, Tierversuche, Gen-Technik, Pathologie. Es schienen ihn vor allem die Wissenschaften, die “mephistophelischen” Orte anzuziehen, an denen mit viel Aufwand seltsame Energien, Mehrwerte und Wissen erzeugt werden: Wissen über unseren Körper, über den Aufbau der Erde – Wissen zur Nutzung, zur Machtfülle, ohne Kenntnis des Preises, den wir dafür zahlen. Diese Arbeiten bewegten sich formal im klassischen Rahmen der Fotografie, wählten das verdichtete Essay als Form, die dann im Fotolabor bis zum letzten “ausgereizt” wurde, so dass wir emotional nachvollziehen können, was in diesen gesellschaftlichen Tabuzonen geschieht.

Die neuen Arbeiten – Frozen Embryo Series, Strangled Bodies und Erosion I + II – öffnen die Fotografie, lassen sie zu Bildfeldern, Bildlandschaften sich ausdehnen: die Fotografie als Dokument und als Bild. Grenzsituationen sind dabei weiterhin das Ziel des stetigen Forschers Danuser: pränatal oder postmortem oder weggeschwemmt, das ist das Interesse seines Blickes. Er richtet diesen Blick auf die Landschaft von wissenschaftlich genutztem Eis, auf die Landschaft von erodiertem und angeschwemmtem Boden und auf die Landschaft des geschundenen Körpers. Und wir entdecken in diesen grossen Barytpapieren Faltungen, Erstarrungen, Frost.

Hannes Rickli bewegt sich mit seinen Fotografien und Installationen ebenfalls in einem Themenbereich, der der Naturwissenschaft nahesteht. Vor Jahren verwandelte er eine wissenschaftliche Apparatur zur Erforschung der Bienen in eine Art Bildgenerierungsmaschine, die aus der kleinen elektrisch angetriebenen Kugel über Projektionen Weltkugeln, Satelliten entstehen liess. In neueren Arbeiten ersetzt er die Fotografie durch Computermonitore, auf denen sich sehr langsame Vorgänge wahrnehmen lassen. Die Arbeit Green Amber stülpt den Gebrauch der alten grün- und goldfarbenen Monitore um, indem sie diese Farben der abgebildeten Natur zuweist: dem Mond, dem Honiggras, der Weinrebe, dem Riesenschachtelhalm.

Roman Signers Fotodokumentationen selbst verursachter Explosionen, Pascale Wiedemanns und Jules Spinatschs Bilder von Tieren aus naturhistorischen Museen beschäftigen sich ebenfalls mit dem Zusammenspiel von Wissenschaft und Natur. Andreas Züst fotografierte über zwanzig Jahre lang die optischen und metereologischen Phänomene sowie Farben der Atmosphäre, u.a. Blitze, das sogenannte Brockengespenst, Dämmerungserscheinungen, Föhnfenster, Halos, irisierende Wolken, nächtliche Nebelmeere, Nebelbögen, Nebensonnen, Nordlichter, das Purpurlicht, Sonnensäulen, Sonnen- und Schattenstrahlen, Wetterfronten und das Zodiakallicht. Der im Jahr 2000 verstorbene Künstler bewegte sich in seinen Fotografien an der Grenze von Kunst und Wissenschaft, war ein poetischer Wissenschaftler, ein forschender Künstler.

Doch die Natur ist, trotz aller Transformationen, weiterhin auch Hort, ist Weite, Auslauf, ist die Möglichkeit, einen Rhythmus zurückzugewinnen. Thomas Flechtner und Cécile Wick sind, auf den zweiten Blick wenigstens, die Hamish Fultons der Schweiz. Cécile Wick ist eine jener Künstlerinnen, die sich einer Ursituation verschrieben haben: Einfache Kamera (dass es eine Lochkamera ist, bleibt nebensächlich), einfache Wege, einfache Bilder: Landschaften – Seen, Meere, Berge, Wasserfälle – und Selbstbildnisse, Aufnahmen ihres Kopfs. Einzelbilder, die sich leicht, fast modular, zu Gruppen vergrössern lassen. Aussenwelten und Innenwelten als ein Gemeinsames, als ein reiches Schwarzweiss, ein dichtes Bild. Zum Beispiel vier Bilder vom Horizont, in denen der Eindruck von Räumlichkeit fast ganz verschwindet. Eigentlich sind es zwei Flächen, die aneinanderstossen, nichts weiter. Wir, die Betrachter, geraten ob diesem reichhaltigen, verführerischen Nichts allenfalls ins Projizieren, ins Schwärmen. Thomas Flechtner geht in den Schnee hinaus, in die verschneite Stadt La-Chaux-de-Fonds, in die verschneiten Berghänge hinein, oder er wandert auf Grönlandeis. In diesem Herbst konnte er diese “Schneeobsession” in einem Buch zusammenfassen, ein Werk, das ihn als spannenden, gestaltenden Land-Art-Künstler ausweist. Der Schnee verwandelt sich in den Fotografien von Flechtner in einen Spiegel für Inneres, für unterschiedliche Gefühle und Stimmungen: Schnee wird zur Seelenlandschaft. Andrea Good's Lochkamera ist einer dieser klassischen Transportcontainer von sechs Metern Länge. Sie stellt ihn in die Stadt, auf den Pannenstreifen der Autobahn und in den Wald und lässt die Zeit vergehen, Licht einwirken, Bewegungen vorbeirasen, um dann betörende Bilder von gedehnter Zeit zu erhalten. Thomas Popp macht ebenso einfache wie konzentrierte Landschaftsbilder. Auf Anhieb wirken die kleinen Bilder nüchtern und lassen Popps Herkunft von der Becher-Schule erahnen. Sie verleiten aber zu genauerem Sehen, zum Erkunden der Bilder, die, mit grosser Sorgfalt hergestellt, eine Balance von entspanntem, offenem (desinteressiertem) und sehr genauem, konzentriertem Blick erzeugen.

Peter Fischli und David Weiss erarbeiten sich eine Art Katasterplan der “Sichtbaren Welt” und behaupten mit trockenem Humor, dass ihre Fleissleistung des Sammelns auch qualitative Aussagen erlaube. Gärten, Blumen, Pilze, Siedlungen, Flughäfen, Kätzchen, Heimat, Fremde, Sonnenuntergang: Als würden sie Kaffeerahmdeckelchen sammeln, legen sie ein Bildarchiv an, unterschiedslos ob banal oder schön, ergreifend oder kitschig.

Transformierter geht es bei Christoph Schreiber, Bohdan Stehlik und Studer/van der Berg zu. Christoph Schreiber bringt subtile digitale Retuschen an seinen Landschaftsbildern an, um über das Mittel der Ambivalenz Bilder zu schaffen, die “diese unfassbare, wegtragende Macht” (Chr. Schreiber) entfalten. Bohdan Stehlik verleiht Wohnsiedlungen, Traumlandschaften, Wäldchen, Interieurs durch digitale Eingriffe, durch Umstellen, Verstärken eine suggestive, beunruhigende Kraft. Studer/van der Berg kreieren auf ihrer Website www.vuedesalpes.com das Hotel Vue des Alpes, ein digitales Paradies mit Waldstücken, Berglandschaften, Bergrestaurant- und Luftseilbahnbildern, mit panoramatischem Rundblick, der verrät, dass sich neben dem Ausblick der Einblick in eine Baustelle auftut. Gäste können als Besucher durchs Hotel schreiten oder aber sich für fünf Tage einmieten.

         

 

Wir und die Welt, die uns umgibt

Claudio Moser fährt die Umgebung ab, die ihn umgibt, fährt und geht, schaut an den stumpfen, dunkelgrauen Architekturen hoch, die die Sicht versperren, schaut beim Fahren in die Weite, tastet den Horizont auf Bedeutungen ab. Bedeutsam für seine urbanistische Fotografie ist der Rhythmus, das Filmische, als würde die Kamera nonstop laufen, bedeutsam ist aber auch das Latente: da ist nie etwas ausformuliert, nie gibt sich etwas klipp und klar zu erkennen und zu verstehen, vielmehr tappen wir in einem Graubereich, der sprachlos wirkt, in einem Walddickicht, das sich nicht entwirren will, wir stehen vor Gittern, die den Zugang versperren, die die Welt in ein Drinnen und Draussen aufteilen. Einzig eine zerschlagene Schaufensterscheibe “spricht” von einer Tat, doch sie ist bereits geschehen, und wir kennen die Ursache, die Umstände nicht. Dieses Latente, “Vorsprachliche” erzeugt eine saugende Kraft, wir werden mitgezogen in die tastenden Versuche, die Welt zu sehen, zu erkennen, zu begreifen.

Felix Stephan Hubers Werk folgt von Anbeginn seinen wechselnden Wohnsitzen, seinen Reisen, den Hotels, in denen er sich aufhält. Immer zeigt er sein Umfeld, das Bett, die Wände, die Architektur, die Büsche am Strassenrand. Die neueste Arbeit heisst “reality check”. Es sind Vergewisserungsbilder in einer urbanen Situation mit kalter Betonarchitektur, Plattenbau und zurechtgestutzter, eingetopfter Natur. Er zeigt sie als beleuchtete Bilderinstallation, als Environment. In all den Arbeiten gewinnt man immer wieder den Eindruck, als befinde man sich an einer kritischen Schnittstelle: Die Bilder spiegeln einerseits die psychische Befindlichkeit des Autoren-Ichs, andererseits geben sie die architektonisch-soziologischen Rahmenbedingungen des Lebens heute wieder.

Balthasar Burkhard fotografiert die Welt, die uns umgibt, aus der Luft. Seine grossformatigen Luftaufnahmen von Städten in der ganzen Welt – Mexiko City, Los Angeles, Tokio – visualisieren eindrücklich Grundstrukturen des Urbanen heute, thematisieren die Zentrum-Peripherie-Frage wie auch das All-over der Stadtstruktur von L. A. Renate Buser kreiert mit Ausschnitten aus städtebaulicher Architektur eine Art von Vokabular, mit dem sie ihre eigene Stadt, eine eigene Skulptur schafft.

Jene Fotografie, die Menschen “outdoor”, im städtischen Umfeld zeigt, schafft gleichsam belebte Environments. Christa Ziegler nennt ihren “Film”, ihre Bilder, die sie mitten unter den fremden Menschen macht, deshalb wohl auch “Schauplatz”, englisch übersetzt dann “Public Scene”. Die zentrale Figur in diesem Bereich ist sicher Beat Streuli. Im Gespräch sagte er mir einmal: “In den Passanten-Bildern treffen sich zwei Dinge meines Interesses, die sich kaum trennen lassen; zum einen geht es poetisch und fast literarisch um Formen der Schönheit, zum anderen um die sozialen, politischen und ethnischen Probleme meiner Zeit, um die zweigeteilte Realität von Minoritäten: ihre Probleme und ihre Kraft, ihre Gefährdung und ihr Stil. Die Bilder, die ich schliesslich definitiv auswähle, sind jene, in denen sich in der Abwesenheit etwas zeigt – wenn das Gesicht einen Moment lang wie innehält, das ,öffentliche‘ Gesicht sich vergisst und unbeobachtet fühlt. Es entsteht dann ein Schweben, das vom ganz Konkreten abstrahiert und Aspekte des heutigen Daseins aufscheinen lässt ...” Diesen präzisen Sätzen füge ich hinzu: In der Zwischenzeit hat Beat Streuli sein Interesse am bewegten Bild in einer Art räumlichem Kino aufleben lassen, setzt uns mitten in die Menschen hinein, in diesen Rhythmus von Begegnung und Vergehen, von Stehen und Gehen, von Schauen und Sein, von Präsenz und Absenz. Stadtlandschaft als rhythmisiertes Erlebnis im Museumsraum.

Shirana Shahbazi, in Teheran geboren, hat vor einem Jahr in Zürich ihr Fotografiestudium abgeschlossen und geniesst bereits internationale Anerkennung. Ein Grund dafür ist sicher, dass sie Bilder von einer Gegend der Welt macht, die für uns bilderlos geworden ist. Der wichtigere Grund dürfte ihre äusserst sorgsame, sehr bildmässige Form eines Dokumentarismus der Identität “Iran” sein, ihre Porträts der Menschen dort, der Gegenstände und der Umgebung. Es entsteht in dieser fortschreitenden Arbeit ein eindringliches und attraktives Bild des Irans, fast ein Gegenbild zu bekannten Reportagebildern.

 

 

Malerisch oder skulptural

Die Betrachtungen über die Fotografie in der Schweizer Kunst heute und in den vergangenen zehn Jahren werden mit zwei Künstlern abgeschlossen, die sich scheinbar klassisch in angestammten Bereichen des Malerischen und Skulpturalen bewegen, in ihren Werken aber sehr radikal sind. Gaudenz Signorells Bilder setzen uns körperlich aus. So flach, unhaptisch und manchmal diffus-verschwommen die Fotografien auch sind, sie formen einen Bildraum, auf den der Betrachter körperlich reagiert, der ihn erschauern lässt. Das Schaudern angesichts der Existenz. Man steht vor den Bildern, zögert, tritt ein – in Andeutungen von Lichtern, von Stapeln, von Absperrgittern –, wird zurückgestossen. Der Blick antwortet auf die Zeichen, auf die Hell-Dunkel-Kontraste, die Abgründe, auf die Räumlichkeit, das Führen ins Leere, das Abprallen an der (Bild-)Fläche. Der Blick wird nicht genau geführt. Kaum ist das Licht aus, verliert er sich, muss seinen Standort und seine Richtung dauernd neu bestimmen. Die Fotografien durchlaufen unterschiedliche Abstraktionen, sind erkennbare Wiedergabe eines Realraums, sind abstrakte, informelle Licht–Schatten-Welt, sind Modell- oder Realwelt, aber immer schaffen sie einen Bezug zum Körper, fordern sie – bei aller Abstraktion – Unmittelbarkeit ein. Das ist ihre Wirkung als “Sculpture”. Adrian Schiess, hauptsächlich Maler, löst die fotografisch-perspektivische Repräsentation in seinen kleinen, oft 30 x 50 cm grossen Farbfotografien auf. Da war einmal etwas vor der Kamera, ein Fussboden, ein Bildschirm, doch die Art der Aufnahme, vor allem die unterschiedlichen Grade an Unschärfe, verwandelt die prosaischen Vorlagen, das Motiv in Abstraktionen, in zarte Verläufe oder bunte Flecken – in reines schönes, feierliches Scheinen.

Ich schliesse mit dem Hinweis auf den Anfang: Die Dichte der Fotografie in der Schweizer Kunst ist gross, die Qualität ist hoch, die Vielfalt enorm, so konnte sich diese Betrachtung unter einigen anderen nicht auf die Ready-mades von Stöckerselig, die raumgreifenden exzentrischen Bild-Wort-Spiele von Susanne Walder, die malerischen Rauminterventionen aus fotografischer Sicht von Ursula Mumenthaler, die kleintheatralen allegorischen Inszenierungen von Esther van der Bie, die coolen Environments-Porträts von Laurence Bonvin, die Fotoarbeiten der Videokünstlerinnen Muda Mathis und Marie José Bürki oder auf die flirrende Vielseitigkeit des Fotografen, Künstlers, DJs Stefan Altenburger einlassen, der zwischen Abtanzen und Waldesruhe unruhig, nervös das Urbane durchstreift.