Oktober 2010  /  Du 810

Wohltemperierte Formeln gehen um die Welt

<p>Aktinkunde Akinley: <em>Hell from Heaven</em>, 2006</p>

Aktinkunde Akinley: Hell from Heaven, 2006

Hell from Heaven betitelte Akintunde Akinleye seine Bilderserie der gewaltigen Explosion einer Treibstoffleitung in einem Aussenbezirk von Lagos am 26. Dezember 2006. Ein Bild daraus ging um die Welt und gewann den World Press Photo Award in der Kategorie Spot News Single. Die Agentur Reuters schrieb als Legende: «Ein Mann spült sich nach der Explosion einer Erdölleitung Russ aus dem Gesicht. Mindestens 260 Menschen wurden getötet, als eine punktierte Leitung in Brand geriet. Diebe hatten sie angebohrt und Tanklastwagen damit gefüllt. Danach kamen Hunderte von Menschen, um den auslaufenden Treibstoff in Plastikkübel abzufüllen. Pipeline-Vandalismus und Treibstoffdiebstahl finden in Nigeria oft statt. Im achtgrössten Öl-Exportland der Welt leben die meisten Menschen in Armut.» Mit knappen Worten, Hölle aus dem Himmel, fasst Akinleye die fast unfassbare Schere zwischen gigantischem Reichtum und gigantischer Armut zusammen. Seine preisgekrönte Pressefotografie weist auf ein punktuelles Schreckensereignis hin, das Resultat und Ausdruck eines langfristigen schrecklichen Gesellschaftsszenarios ist. 

Damit erfüllt diese Fotografie einige Kriterien von erfolgreicher Pressefotografie: Sie personalisiert das Geschehnis, bringt es eindrücklich auf den Punkt und weist zugleich inhaltlich darüber hinaus. Das Bild ist noch aus weiteren Gründen bemerkenswert. Für mich war es eine der ersten Pressefotografien, bei denen auffiel, wie malerisch sie wirken, wie sie, mit leicht zugekniffenen Augen betrachtet, gar als Historienmalerei durchgehen könnten. 

Pressefotografie war in der analogen Vergangenheit oft hart und kontrastreich. Die Schnelligkeit des Ereignisses, die extremen Lichtverhältnisse erlaubten es selbst berühmten Pressefotografen nicht, das Resultat ganz zu kontrollieren. Oft in extremis geschossen, brachen die Bilder in einer Ecke weg ins Papierweiss, sanken in einer anderen in zeichnungsloses Schwarz ab, wurden mit hochempfindlichen Schwarz-Weiss-Filmen geschossen, deren Empfindlichkeit noch «gestossen» wurde, mit dem Resultat
von sichtbarer starker Körnigkeit im Bild. Und hier? Bei Akinleyes farbiger Pressefotografie schauen wir in ein perfekt ausbalanciertes Bild. Das Hell-Dunkel-Gleichgewicht ist hervorragend, nichts säuft weg, bleicht aus, alles zeichnet präzise, die Farben verteilen sich dynamisch, aber, mit Ausnahme der herausragenden Figur, ausgeglichen über das gesamte Bildfeld. 

Dieses Ausgeglichene, Wohltemperierte, Malerische beschäftigt mich. Immer öfter begegnen wir Pressebildern, die selbst extremste Lichtverhältnisse spielend meistern, die sich präsentieren, als seien Szenerie und Akteure perfekt geschminkt, eingekleidet und inszeniert worden. Bilder, die wie Setdesigns wirken, wie Theater- oder Filmszenen zu lesen sind, obwohl reale, oft harte Geschehnisse draussen in der Welt aufgenommen worden sind. Dieses Phänomen manifestiert sich nicht nur im guten Magazin-Druck, sondern auch im stark gerasterten, auf dünnem Papier erzeugten Zeitungsdruck. Wem wir diese Veränderung verdanken, ist bekannt: Die Programme neuer Digitalkameras und die digitale Nachbearbeitung werden immer ausgeklügel-
ter. Sie erlauben, in vorgewählten Programmstufen zu entscheiden, wie ein Bild wirken soll, sie erlauben auch differenzierte Modulationen im Nachklang, falls das Kameraprogramm versagt hat. 

Die Rohheit analoger Pressefotografie im 20. Jahrhundert vermittelte uns über das Erzählte, das Abgebildete hinweg immer auch den Eindruck von Echtheit, den Glauben an das Wirklich-da-gewesen-sein-und-gesehen-Haben. Sie verlieh der Pressefotografie – wider besseres Wissen — das Gütesiegel des Authentischen. Was geschieht nun mit der feinpixeligen, austarierten Pressefarbfotografie im 21. Jahrhundert? Was vermittelt sie uns, was bringt sie in ihrem digitalen Backpack mit? 

Die Digitalisierung der Fotografie hat den Glauben des realen, wahren Abdrucks der Fotografie aufgelöst. Wir wissen nun, dass in einem auch noch so real aussehenden Foto nicht die Realität enthalten ist. Der optisch gewonnene Eindruck wird in ein duales System, eine Sprache verwandelt, die am anderen Ende der Kamera, des Raums, der Welt wieder als Bild visualisiert und ausgedruckt werden kann. Es geht also eine Formel um die Welt, keine Reliquie. Dieses Wissen ist jedoch sehr abstrakt. Wir wissen davon, aber glauben wir es? Hier leisten die malerischen Pressefotografien, vermutlich contre cœur, Veranschaulichungsarbeit, verbildlichen das abstrakte Wissen. Indem sie weniger schnell, roh, direkt erhascht denn sorgfältig gestaltet und eingefärbt wirken, weniger als Abbildung denn als Darstellung, weniger als Foto denn als Malerei, als designtes Bildprodukt erscheinen, visualisieren sie genau das, was sie wohl am liebsten verdecken würden: dass jedes Foto immer eine Inszenierung, eine Darstellung von Wirklichkeit ist und keine Abbildung. 

Diese Bilder sind also in gewisser Weise wahrer, wahrhafter als ihre analogen Vorgänger. Sie zeigen, was sie sind. Das hat auch seine Kehrseite: Es ist auffallend, wie die Pressefotografien und die Tageszeitungen, die sie drucken, an Härte und Schärfe verloren haben. Fotografien auch von allerschlimmsten Vorfällen werden gemildert, selbst wenn sie als Tragödien inszeniert sind. Sie wirken nicht mehr wie Nachrichten, wie Spuren, wie direkt aus der Wirklichkeit gehauen, sondern wie Illustrationen, wie bildliche Realisierungen bestimmter Themen. Zum Preis des Verlusts an Authentizität vorgaukelndem Rauschen der Wirklichkeit erscheint die Welt in diesen Bildern als gekonnte Gestaltung, als wohltemperierter, ästhetisierender Entwurf.