2018  /  Batirama – Serge Fruehauf

Zerstreut
Enquête photographique neuchâteloise 2018

Man blättert vor und zurück, blickt hinein, schaut schrittweise durch die Bilderwelt, die Fotografien von Serge Fruehauf, durch die Architekturen in seinen Bildern, sieht Verbundstücke, Einlassungen, Ausstülpungen, Ausbrechungen, das Aufeinanderprallen unterschiedlichster Dekorelemente, auch einen Dachstock, der wie eine Kapuzinermütze aufgesetzt worden ist – und gewinnt mit der Zeit das Gefühl, man müsse sich ein neues Vokabular zusammenstellen, müsse seine Sprache neu justieren, um die verbildlichte Realität fassen zu können, um passende Begriffe für das Seltsame, manchmal Absonderliche dieser gebauten Welten zu finden. «Gemeche», das Dialektwort steigt wiederholt in mir auf, während ich, manchmal lächelnd, manchmal den Kopf schüttelnd, neugierig von Bild zu Bild gleite. Volumen werden da zueinander gestellt, verdreht aneinandergeschoben, mit einem ästhetischen Hauruck zusammengemecht, zusammengeschustert, oder so lange verquirlt, bis eine Art architektonischer Cocktail entsteht. Bevor das Auge präzise hinschauen kann, wird es ihm ein erstes oder zweites Mal schwindlig, verliert es sich im heiteren Wirrwarr ungelöster architektonischer Grund- und Detailfragen.

Die Architekturen, die hier gezeigt werden, folgen kaum der modernistischen Formel form follows function, sie stellen sich aber auch nicht hin, präsentieren sich nicht wie ein Schauspieler auf der Bühne, wie Bühnenbilder eigene Welten suggerieren, so wie die Postmoderne mit Verweisen, Referenzen, mit Versatzstücken aus der Geschichte quasi den Historismus und das Theatralische wieder aufleben liess, unter neuen Vorzeichen und mit zeitgemässen neuen Materialien. Nein, diese Architekturen, dieses Gebaute – ja, es ist Gebautes, selten eine sorgfältig konstruierte, einem Weltbild folgende und sie auch symbolisierende Architektur – stolpert, bleibt stehen, schaut sich um, um die eigene Achse, fasst sich verwundert an den Kopf, an den Po, verdreht die Augen, verneint Herkunft, verweigert Einordnung. Manchmal bleibt das Wort gleichsam im Rachen stecken, weil keines passen will.

Das scheint unfair zu sein. Zumal in seiner Pauschalität. Ungerecht diesen Häusern, diesem Gebauten gegenüber, dem Einzelnen, Individuellen, das in der allgemeinen Betrachtung unterzugehen scheint. Ungerecht auch den Bewohnern gegenüber, die sich darin mit Sicherheit heimisch und wohl fühlen. Aber erinnern wir uns: Die erste Orientierung und Ordnung des Menschen im Diesseitigen ist die Welt vor ihm, das Zimmer, die Umgebung, die Landschaft, die er vor sich erblickt, die ländliche Landschaft ebenso wie die städtische Landschaft. Die zweite Orientierung ist der andere, der erblickte Mensch, und schliesslich folgt die dritte Orientierung, die gleichzeitig die erste Verunsicherung ist: der Augenblick, wenn der erblickte Mensch zurückschaut, mich anschaut, wenn ich meiner selbst bewusst, aber auch ein erstes Mal verunsichert werde, wie Jean-Paul Sartre sagte. Ich erfahre mich als ein von aussen Betrachteter, Wahrgenommener, Begutachteter. Die Renaissance und der Barock halten für die erste Orientierung gute Modelle, anschauliche Vorstellungsbilder bereit. Zum Beispiel den Blick in die klar strukturierte Stadt, die città ideale, im berühmten Entwurf eines unbekannten Malers des 15. Jahrhunderts im Palazzo Ducale von Urbino – ein Blick in ein Stadtgefüge, das Verstand, Ordnungssinn, aber auch die Hierarchie einer Gesellschaft stärkt. Es stellt eine konstruierte Idealstadt, einen gebauten Weltentwurf vor, der von einem zentralen Subjekt ausgeht, auf das sich, perspektivisch konzentriert, die Totalität dieser Kleinwelt, dieser Republik, bezieht. Jedes Gebäude im Bild hat seine Funktion, spielt seine Rolle im Gefüge, in der Ordnung der Gesellschaft. Die Form der sinnhaften Gestaltung der Zentren unseres Lebens erfährt im 19. Jahrhundert, im Zeitalter des bürgerlichen Individuums und der bürgerlichen Machtentfaltung, einen letzten Höhepunkt, sichtbar unter anderem im Panoramabild. Ob gemalt oder fotografiert wird es zum Sinnbild der Weltergreifung, des Welt-Begreifens der damaligen Zeit. Die Welt liegt vor unseren Füssen, sie «gehört» uns, ist für uns da, wir können sie be-greifen, das heisst zugleich in Besitz nehmen und gedanklich durchdringen. Und die Welt ist auf unseren Blick hin ausgerichtet, so scheint es. Es werden 360-Grad-Panoramen geschaffen, wie im San-Francisco-Panorama von Eadweard Muybridge von 1877, und im Bourbaki-Panorama in Luzern, welche dem sehenden Subjekt die totale Übersicht, die Verfügbarkeit suggerieren, und gleichzeitig ein wenig Schwindel auslösen.

In diesen Zentren, die wir heute noch erleben können, wenn wir durch norditalienische Städtchen spazieren, und in ihren idealisierten Darstellungen erfährt das einzelne Gebäude seine Sinnhaftigkeit erst in der Totalität der Stadtanlage, im Spiel mit anderen Architekturen, in der Verdichtung mit anderen Gebäuden und Funktionen. Die Situierung, die Struktur, die Gestaltung der Architektur wird zum bewohnbaren, nutzbaren Symbol eines gesellschaftlichen Zusammenhangs, eines gefestigten, temporär geschlossenen Weltbildes. Genau das scheint auf den ersten Blick den rund zweihundert Gebäuden in den rund zweihundert Fotografien von Serge Fruehauf abhandengekommen zu sein. Wir scheinen nicht mehr in ein sinnhaftes Gefüge zu schauen, sondern in ein offenes Konglomerat von Einzelhäusern, die innerhalb der Grenzen des Kantons Neuenburg verstreut platziert worden sind. Einzelne Wesen, schüchterne, protzige, verquere, wuchernde, gehandicapte und strahlende Volumen, die berührungsarm, zusammenhangslos, vielleicht auch gedankenlos aneinandergereiht oder in gebührender Distanz zueinander aufgestellt worden sind. Einzelne Brotteige mit Hilfsgerüsten, Hilfskonstruktionen, die wundersam aufquellen, sich in kuriose Richtungen entwickelt haben. Streusiedlungen, Streuhäuser, Streubauten, Streufunktionen, verstreut und zerstreut zugleich.

Doch halt, das ist wiederum unfair. Ja, es ist ungerecht, die eine Zeit an der anderen zu messen. Wir finden zudem vereinzelt Gebäude, deren Struktur, Material und Funktion sich zu einem eindrücklichen Ganzen formen, zu dem, was wir als «gute Architektur» bezeichnen. Und das, was in den Fotografien gedankenlos, vielleicht sogar sinnlos zu wirken scheint, ist durchaus sinnhaft. Nur wird hier nicht mehr die Fürstengesellschaft oder Republik der Renaissance und des Barocks, die Einheit von Kirche, Staat und Volk im Auge Gottes symbolisiert, auch nicht die bürgerliche Gesellschaft, die bürgerliche Herrschaft des 19. Jahrhunderts, vielmehr ein Dasein, das wir mit liberal, individualistisch und konsumistisch bezeichnen können, ein Dasein im Nachklang der beiden grossen Weltkriege, mitten in der Entleerung der Werte, der brisanten Mischung aus Individualisierung und Kommerzialisierung der Welt. Ein Dasein, in dem der Einzelne auf sich selbst zurückgeworfen ist, in dem der Glaube an den Staat, an die Institutionen, die Kirche, die verschiedenen moralischen und juristischen Instanzen eine heftige Erschütterung, das Freud’sche Über-Ich eine tiefe Verstörung erfährt. Wir wissen es und wir erfahren es täglich: Wir sind in die Welt geworfen, sind verurteilt zu einer Freiheit, müssen unseren Sinn selbst suchen, fragen uns entsprechend ständig: Wer bin ich? Wer will ich sein? Das Gebaute in den Fotografien von Serge Fruehauf spricht vom ersten Schutz vor all diesen Existenzfragen, vor all diesen Verunsicherungen, es spiegelt eine Gesellschaft, die sich aufsplittert, in der jeder seine eigene Identität, seine Individualität sucht, mit sich selbst zufrieden oder mit sich selbst und mit den anderen hadernd, mit seinen Möglichkeiten und allgemeinen Regeln ringend, seinen Lebensentwurf bauend und immer wieder überarbeitend. 

Zumindest zeigt uns Serge Fruehauf die Welt, die gebaute Wirklichkeit aus dieser Perspektive. Sein fotografisches Auge scheint ein spezielles Sensorium für Wunderdinge, Wunderkisten zu haben, für Sonderlinge, Originale, für Abweichungen von der strikten Norm. Er zeigt uns fast ausschliesslich Ansichten, Gebautes von aussen, den Aussenraum, keine Innenräume, auch keine Sichten von innen nach aussen. Doch er präsentiert uns die Aussenwelt wie eine Innenwelt, die Fassade als den Spiegel des Inneren, das Private als das neue Öffentliche. Er zeigt keine Verdichtungen, Verschränkungen, vielmehr breitet er im Buch einen Streuraum aus, einen bunten Garten voller hingestellter, veränderter, ausgebuchteter, aneinandergestossener Eigenheiten, Merk-Würdigkeiten. Heitere, rührende, fast natürlich gewachsene Absonderlichkeiten, ohne sichtbare Abgründe, manchmal schwindelerregenden Eigensinn – «Gemeche» eben –, aber keine Gefahrenzonen.

Schachteln mit Aufsatz und Dekor. Gebaut. Angebaut. Ausgebaut. Umgebaut. Umfunktioniert. Aneinandergehängt. Gestossen. Geleimt. Gekittet. Gemauert. Einbuchtungen und Ausstülpungen. Wilde Diagonalen. Bunte Materialien. Ein Mix an Tätigkeiten, an Eingriffen, die nur dann und wann von einer klaren Handlung, einer einfachen Idee und ihrer gekonnten Realisierung durchbrochen werden. Serge Fruehauf lenkt unser Auge einerseits mit grosser Konzentration, mit auffallender Seriosität, andererseits fotografiert er den gelebten, gewachsenen Architekturgarten des Kantons Neuenburg mit lakonischer Gelassenheit. Er visualisiert ihn gerade durch seinen genau beobachtenden Blick als «Batirama», als gebautes, auf Zeit verewigtes Hobbyrama. Diese Individuen, diese Originale, diese einzelnen Häuschen, Gärtchen, Einfahrten, Eingänge, die er gefunden und aufgenommen hat, kümmern sich aber wenig um unser heiteres Lächeln. Sie strecken uns vielmehr unbekümmert die Zunge raus, so wie diese hellgraue Zementzunge, die als abgeschossener, abbröckelnder Türschwellenvorsatz eine ungeklärte Verbindung zwischen Innen- und Aussenwelt schafft.

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Erschienen in

Batirama – Serge Fruehauf
Fotografische Ermittlung Neuenburg 2017

Scheidegger & Spiess, 2018

www.scheidegger-spiess.com/…