November 2011  /  Du 821

Zwei Fotografien, ein Bild – von Robert Frank

<p>Robert Frank: <em>Mabou (from Explain My Roots)</em>, 1998, Silbergelatine-Abzug, 50,8 × 61 cm (Sammlung Fotomuseum Winterthur, Ankauf mit Mitteln der Georg und Bertha Schwyzer-Winiker Stiftung)</p>

Robert Frank: Mabou (from Explain My Roots), 1998, Silbergelatine-Abzug, 50,8 × 61 cm (Sammlung Fotomuseum Winterthur, Ankauf mit Mitteln der Georg und Bertha Schwyzer-Winiker Stiftung)

Zwei Fotografien sind zueinandergestellt, nahtlos aneinandergeschoben. Das linke Bild führt den Blick durch ein Fenster hinaus in einen Hinterhof, den Hinterhof an der Bleecker Street 7. Ein grauer, enger, verschlossen wirkender Hof im Winter. Schneereste am Boden hellen die scheinbare Ausweglosigkeit des Gevierts auf, korrespondieren mit dem kargen, laublosen Baum, der sich wie eine dünne, sich verzweigende Ader nach oben zieht, in Richtung Aufhellung, in Richtung Licht. Der typische Querbalken amerikanischer Fenster kreuzt sich in unserem Blick mit dem hochstrebenden Baum. An der Oberkante schliesst das Bild mit verlaufenden Entwicklungsfehlern, die wie eine Draperie oder wie Reste einer eingeschlagenen Fensterscheibe wirken.

Das rechte Bild führt den Blick auf eine alte, spröde und brüchig gewordene Palästinakarte, die ausgerollt auf faltigen Laken liegt. Starkes Gegenlicht spiegelt und «brennt» so Teile der Karte weg, blendet das Kartografische aus, während es gleichzeitig jede Unebenheit, jeden Riss des Trägers zum Relief auftürmt, als verlebendige es die Karte. Ein auffallendes Paradox, das zwei Realitäten, das Leben des Trägers versus das Leben des kartografischen Bildes, gegeneinander ausspielt.

Ein winterlich lichtloser, fast toter Hof steht also neben dem Bild einer runzligen, reliefartigen, blendenden und geblendeten Karte. Helle Partien des einen Bildes treffen in Hard-edge-Manier auf dunkle, schwarze Partien des anderen. Spuren von Schnee, von Weiss hier korrespondieren mit Lichtern auf der Karte dort. Auf einer der Innenhoffassaden ist in grossen schwarzen Lettern «Lefty Wolf Man. Milie» aufgetragen.

Wie oft bei Robert Frank, so gibt es auch dieses Diptychon in verschiedenen Versionen. Die eine Version schliesst ein von Hand gezogener Tintenstrich unten zusammen, über dem in handschriftlicher grüner Tinte «They will travel with you» eingetragen steht, rechts signiert mit «Robert Frank», verbunden mit zwei Daten, Franks Geburtstag, «Sunday November 1924», und dem Herstellungsdatum, «Mabou 1998». Die zweite bekannte Version wirkt unverbundener, loser aneinandergepasst. «at 7 Bleecker Street 1996» steht links und «in Mabou 1995» rechts geschrieben, dafür sitzt dazwischen, in der Mitte, das Wort «Roots» für Wurzeln oder Herkunft. In beiden Versionen aber treffen reale Geografie und modellhafte, imaginäre Geografie aufeinander. Der Geist des gelebten Ortes, die Bleecker Street in New York, trifft auf den Geist imaginierter, erinnerter Herkunft, aufgenommen in Mabou, dem zweiten realen Wohnort von Robert Frank. Alle drei «Orte» sind ebenso real, wie sie zu verschiedenen Genius Loci aufgeladen sind. «They will travel with you», sie werden mit dir reisen, heisst es. Die Rede ist wohl von diesen drei «Seelen», die mit dem angesprochenen Du reisen, und das Du scheint hier der Autor des Werkes selbst zu sein. Also eine Art Selbstanrede mit Voraussage oder Vorahnung: Geistige Herkunft verbindet sich mit real Gelebtem zum Gepäck für die Zukunft, für die Reise ins Unbekannte, scheint das Werk andeuten zu wollen. Robert Frank äusserte sich im Gespräch mit Ute Eskildsen zum Altern: «Nun, die Pillen stützen den Alten, so kann er noch spazieren und fotografieren, vor allem hat er Zeit zum Nachdenken. Dies wird dann ganz sorgfältig und langsam ein Andenken.»

In reduzierter, minimaler Form enthält dieses Diptychon alle Elemente, mit denen Robert Frank arbeitet, seit er vom Filmen zeitweise zur Fotografie zurückgekehrt ist. Es handelt sich um die Montage von zwei Polaroidnegativen, die zusammen auf ein Blatt – ein Silbergelatine-Abzug – kopiert wurden. Das eine Foto wurde 1995, das andere 1996 aufgenommen. 1998 hat Robert Frank die beiden Bilder zueinandergestellt und aus den beiden Fotografien das Werk geschaffen. Handschrift, manchmal Schreibmaschinenschrift, setzt Worte in das Bild oder unter das Bild, ergänzt die Bildinformation, widerspricht ihr, verwandelt sie, vergegenwärtigt sie. Der Spalt zwischen zwei zusammengefügten Fotografien, an dem sich die Bildinformationen wie Erdplatten aufwerfen, die Bildbedeutungen sich entzünden, an dem die Bilder zu laufen beginnen, wird oft durch eine oder mehrere unterlegte, eingefügte oder darübergespannte Textzeilen «überschrieben», rekontextualisiert. Nicht deckend, nicht bedeutungseinengend, sondern eher «lasierend», sodass die verschiedenen Bild- und Textebenen ein durchscheinendes, manchmal mehrschichtiges Gewebe formen, das hier sich aufbläht und dort sich zusammenzieht und so eine Art offenen Frank’schen Bildorganismus kreiert, mit dem die Betrachter in einen visuellen Dialog treten. 

Die beiden Fotografien stossen hier horizontal aneinander, so wie sie in Los Angeles, February 4, I wake up, turn on TV (1979) oder in Sick of goodbye’s senkrecht aufeinanderstossen. In Fear – No Fear, Mabou, Nova Scotia (1987) stehen drei Bilder übereinander, drei Fotografien mit Sicht durch ein offenes Fenster an einer Schreibmaschine vorbei in die Landschaft hinaus – Gräser, dann Wasser und schliesslich Horizont –, mit verwischtem, vom Winde verwehtem weissem, leerem Blatt. In jedem dieser Werke ist genau zu beobachten, wie die Fotografien aufeinandertreffen, wo sie geschnitten sind, in welcher Abfolge und in welcher Art und Weise sie sich entwickeln. In jedem dieser Beispiele wehrt sich Robert Frank, seit er filmte, gegen das unberührte fotografische Einzelbild. Nur in den Brüchen, den Sequenzen manifestiert sich seine ungeheuerlich existenzialistische Bilderwelt, die Entwurf und Spur, Vision und gelebtes Leid zugleich ist und die ein komplexes, konzeptuelles Bildbewusstsein mit tiefem Erleben, Erfahren, Erdauern verbindet.