Januar 2001  /  Dunja Evers: Zustände (Göttingen)

Zwischenreich

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Farben locken. Dunkle Farben ziehen heran, saugen, saugen auf, hellere Töne strahlen, strömen aus. Kadmiumrot, Kobaltblau, Petrolgrün, Sonnenblumengelb, ein Lila, ein Violett, ein Grüngelb, ein Blaublau, Rotrot. Warmtönig die einen, weich, wärmend, ein Hauch von Romantik – unser Blick öffnet, verliert sich –, kalt, manchmal fröstelnd die anderen – unser Blick schärft sich, der Rücken streckt sich, wir stehen aufrecht dem Bild gegenüber. 

Es sind Farbflächen im Kleinformat von knapp 30x20cm bis höchstens 50x70cm, in die Schicht um Schicht, nass in nass Eiweisslasurfarbe aufgetragen, eingerieben worden ist, von Hand, ohne die Spur eines erkennbaren Duktus zu hinterlassen, im Vorgehen an japanische Lacktechnik erinnernd. Monochrom sind sie meist; in den ersten Porträtarbeiten eher dunkel oder in gebrochenen Tönen, später aufklarend, strahlender, leuchtender, in der jüngsten Serie gar giftige, künstliche, fluoreszierende Farben und erstmals auch eine Andeutung von Zweifarbigkeit, ein Schillern von Grün zu Gelb, von Hellblau zu Mittelblau, von Dunkelrot zu Orangerot. 

Die Farbflächen sind zu Tafeln auf dünnem Aluminium aufgezogen und werden distanzlos auf der Wand montiert. Sie wirken von weitem, als seien sie in der Wand eingelassen, als seien sie rechteckige Wandmalerei, allein durch den schwachen Glanz und die Farbe von der Wandoberfläche abgehoben. Je nach Farbe ziehen sie das umgebende Weiss in sich hinein, stossen es zurück oder finden mit ihm ein Gleichgewicht, eine entspannte Ruhe. So kleinformatig die Bilder auch sind, sie sind von hoher Konzentration, haben eine starke Präsenz, brauchen viel Platz, wirken wie kleine Farbexplosionen: Grün, Rot, Gelb, Orange, Blau, umgeben von Weiss.

Doch die Farbe ist nur ein Bestandteil der Werke und erst noch jener Teil, der zuletzt dazu gefügt wird, der das Werk abschliesst. Aber sie ist das erste, was wir wahrnehmen. Sie ist Lockvogel und Pförtner zugleich, auf ihr verweilt der Blick zuerst, an ihr vorbei, durch sie hindurch 'treten' wir ein, erfahren wir das Werk in seiner Ganzheit. Der Farbe unterlegt sind filmisch und fotografisch erzeugte Zeichen, die wir von weitem einzig als leichte Unruhe der Farbe, als Unregelmässigkeit in der Farbe wahrnehmen, als Irritation des Auges, die man mit einem Blinzeln wegwischen möchte. Nähert sich der Blick, dann taucht wie aus dem Nebel allmählich eine Kontur auf, schwächer oder stärker je nach Werk – und schwächer oder stärker, je nach Standpunkt vor dem Werk, als Figuration lesbar. Der Schemen eines Gesichts – von vorne oder im Halbprofil –, einer Landschaft – als Totale, mit Horizont oder als Detail von Furchen und Wellen des Bodens – und einer Architektur – eines Torbogens, einer Pfeilerreihe. Ist die Schwärzung der unterlegten Fotografie tiefer, so wird stärker die Linie, die zeichnerische Note des Bildes betont, ist sie schwächer oder ist die Fotografie farbig, dann wirkt das Bild tektonischer, malerischer. Flächen oder Flecken – ja, manche Oberflächen sehen aus wie einfarbiger Stoff, auf den Wasser oder Fett getropft ist, so dass sich hellere und dunklere Stellen der gleichen Farbe abwechseln – stossen sich gegenseitig ab, reiben sich aneinander, formieren sich zur Bildhaftigkeit. Treten wir noch näher, so verliert sich die Lesbarkeit wieder, wird unscharf ungegenständlich, schattenhaft, nurmehr eine Trübung der reinen monochromen Farbe.

Dieses Übergehen von einem Wahrnehmungszustand zum nächsten – von einer Ahnung, zur suchenden Vermutung, zur Gewissheit und das wieder Verlieren der Sicherheit –, dieser transitorische Prozess, den der Betrachter durchläuft, den er zu leisten hat, will er in die Begegnung mit dem Werk eintreten, findet auch im Bild selbst seine Parallelen: Das Zusammenfliessen der Farbe mit den fotografischen Schattierungen oszilliert an der Grenze von Figuration und reduzierten, abstrahierten Flächen, von bedeutungshaltigen, lesbaren Zeichen zu freien Farbfeldern, von Definiertheit zu Offenheit; die Werke wechseln ihren Aggregatzustand von Fotografie zu Malerei und wieder zurück. 

Auch der Herstellungsprozess der Werke entzieht sich diesem Verfliessen nicht: Dunja Evers fotografiert aus gefundenen oder selbstverfertigten Super-8-Filmen 24 bis 48 Bilder oder 1 bis 2 Sekunden heraus. Mit einer verlängerten Belichtungszeit lässt sie die Bewegung des Filmes, die Abfolge der einzelnen Bilder auf dem Negativ niederschlagen, sich 'einbrennen', dokumentiert dadurch weniger eine Eigenschaft, einen unverrückbaren Zustand als eine Bewegung, eine Abfolge, einen Fluss der Zeichen. Sie löst das Feste auf. Und dieses Bild des Fliessens wird anschliessend in 'Farbbäder getaucht'.

Die Werke zeigen sich in all den Hinsichten als faszinierende und merkwürdige Zwitter, als Hybride. Sie sind sowohl Malerei als auch Fotografie, sowohl Figuration als auch abstrakte Farbfeldmalerei. Mischwesen eben. Doch das Sowohl-als-auch genügt als Begriffsraster nicht, die Werke sind auch weder-noch, weder das eine noch das andere, sie geben einen transitorischen, (vor-)übergehenden Zustand wieder, ein bildnerisches und inhaltliches Dazwischen, ein Schweben, ein Feld des Ahnens, Erahnens, des Suchens und nicht des Wissens.

Das gleiche Vorgehen bewirkt recht Unterschiedliches bei Dunja Evers "Porträts" und bei ihren "Landschaften". Diese Gesichter, diese Fragmente von Gesichtern, die aus den Farben auftauchen, als träten sie aus einer Wand hervor, als seien sie mit einem Tuch bedeckt, als seien sie eingewickelt, als seien sie Totenmasken, erscheinen manchmal flüchtig, wie ein Hauch, der sich auf der Scheibe niederschlägt und dann vergeht, wie ein Eindruck, der sich von selbst glättet und auflöst. Manchmal erscheinen sie auch eingebrannt, fest eingegossen. Diese "Porträts" wirken wie Erscheinungen, sie zeigen keinerlei Details, sind so weit aufs Wesentlichste reduziert, dass es uns noch möglich ist, sie überhaupt als Menschengesichter zu erahnen, dann zu erkennen; sie verweisen kaum auf etwas Konkretes, sie ziehen sich vielmehr in eine bestimmte Abstraktion zurück. Wie frühe Porträtmalerei repräsentieren sie nichts Individuelles, sie repräsentieren aber auch nicht Status oder Macht, sie lassen in ihrer ganzen Flüchtigkeit so etwas wie Gemütszustände aufscheinen, wirken weich, licht, heiter, sonnig oder aber ernst, kühl, gar düster, wirken, tiefergreifend noch, wie Seelenbilder des Menschseins allgemein. Und immer scheinen diese medial erzeugten Schwebezustände vom Vergehen, von Zeit zu erzählen. Das Porträt als ein Vera Ikon nicht der Person sondern des Dauerns, Aufscheinens, Vergehens, des sich Konkretisierens und sich Auflösens, des Menschen-Lebens.

Während die "Porträts" sich vor dem Betrachter aufbauen, als stummes, oft 'augenloses', manchmal geheimnisvolles Gegenüber, ziehen die "Landschaften" den Betrachter in ihren Raum hinein, setzen ihn in Bewegung. Unser Blick saust durch die Industriearchitektur, durch die Landschaften, taucht in den gelben Garten, verliert sich in roten Flecken, tritt durch einen blauen Torbogen ins Imaginäre. Wie durch farbige Röntgenaufnahmen, durch Nachtsichtgeräte hindurch schauen wir in Räume, die kaum konkrete Einzelheiten wiedergeben, nur fragmentarische Andeutungen machen, die sich manchmal zur Ruine einer Säule, eines Bogens, einer Fassade, eines Horizonts verbinden, sich oft aber auch als Feld aufgesplitterter Einzelzeichen offenbaren. Wenig Verbindendes – das Zusammenfügen geschieht im Kopf des Betrachters –, aber die wenigen lesbaren Zeichen vibrieren, und zwar derart, dass wir, die Betrachter, uns fühlen, als seien wir in Bewegung, als rasen wir durch die rote (Industrie-) Landschaft oder an der grünen Landschaft vorbei, als betreten wir in eine warmgelb strahlende Wiese. Die Bilder leben von der Spannung, die sich zwischen der Reduktion und Auflösung eines Abbildes von Landschaft und der Totalisierung einer Bild-Landschaft, zwischen der Realistik und dem Fiktionalen aufbaut. Nicht die Zeit (wie bei den „Porträts“) ist hier das dominante Thema, sondern der Raum, der sich auflösende, sich in Bewegung setzende Raum. Auch hier wird das Feste zugunsten eines Fliessens aufgegeben. Es entstehen aus den Landschaften fiktionale Räume, Traumräume, Spiegelungen des Innern, des Unbewussten.

In den bisher neusten Arbeiten springt Dunja Evers gleichsam. Sie springt direkt ins Feld des Fiktionalen, fotografiert mit ihrer Langzeitbelichtung aus Science-Fiction-Filmen, ein besseres Wort ist hier: aus Phantasy-Filmen. Raumstationen, Starts von Raketen, Fahrzeuge, Kraterlandschaften, Wolkenbildungen, Bilder des Alls. So genau, wie das hier benannt ist, erkennt man es nicht, auch diese Zeichen lösen sich auf, verlieren an Definition. Wir wissen nie genau, ob die Zeichen einen Mikro- oder einen Makrokosmos andeuten. Was bei den Landschaften zur Fiktionalisierung führt, bewirkt hier das Umgekehrte: Diese Bilder können auch als medial vermitteltes ‚Reales‘ aus der Forschung, aus der Raumfahrt gelesen werden. In giftigen, künstlichen, verrückten Farben flunkern die virtuellen Landschaften mit dem Wirklichen, zwittert hier die Fantasie mit dem Realen, mit der Zukunft der Welt. Baut sich in den "Porträts" ein Gesicht vor uns auf, werden wir von den "Landschaften" aufgesogen, so lehnen wir uns bei den Phantasy-Landschaften leicht zurück: die Farben springen uns an, die Bilder knallen dem Betrachter wie kleine Farbbomben entgegen, , so präsent und leuchtend sind sie. Sie heulen laut und schrill.

In all diesen Fotografie-Malerei-Werken verschmelzen Figur und Grund, fotografisches Zeichen und Malerei. In allen Werken sind Details so weitgehend eliminiert, weggewischt, dass nur wesentliche Formen, Strukturen zu sehen sind, die Struktur der vergehenden und der eingeschriebenen Zeit in den "Porträts" (die wiedergegebenen Gesichter wirken meist auffallend älter, ‚weiser‘) und die Struktur des gedehnten, geöffneten Raumes in den Landschaften. Die Bilder sind keine "Cuts", wirken nicht durch Subtraktion, durchs Ausschneiden aus der Wirklichkeit, wie das Fotografie allgemein tut, sondern durch Addition, Konstruktion, durch ein Totalisieren des Bildes auf das gewählte Format hin. Das Verweisen ins Wirkliche, das Indexikalische, ist stark zurückgenommen, zugunsten ikonischer, symbolischer Bildqualitäten, die Bedeutungsfelder zwischen Ahnen und Wissen, Bewusstes und Unbewusstes, Fokussieren und Ausschweifen, real und fiktiv, Fläche und Zeichnung abstecken. Dunja Evers erzeugt mit ihren Ikonen des Unterwegsseins, des Grenzgängerischen eine Welt im Fluss, ein lyrisches ‚Zwischenreich‘.