2018  /  W. Eugene Smith: Pittsburgh (MAST, Bologna)

A Poem to a City, a Poem to the World

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Die ersten Live-Übertragungen vom Vietnamkrieg hatten es angekündigt, das Live-Dabei-Sein in den Tagen der rumänischen Revolution und der Ausschluss der Pressefotografen vom Golfkrieg hatten es bestätigt: Die Fotografie musste ihren Informationsauftrag an das Fernsehen abgeben. Bei grossen und kleinen Ereignissen war das Fernsehen immer schneller. Es kündigte noch am Vorabend an, was für die Zeitungen des nächsten Tages und die Zeitschriften der nächsten Woche von Bedeutung zu sein hat. Damit wurde das Ende der grossen Zeit der Reportagefotografie eingeläutet, damit galt es, Abschied zu nehmen von den Capas, Cartier-Bressons, Bischofs, McCullins und von ihren hautnahen Bildern des Krieges, ihren einfühlsamen, langsam und aufwendig fotografierten Porträts vom Leben und Sterben, von Gewalt und Ungerechtigkeit auf dieser Erde. Auch das Aufrüsten der Zeitschriften mit schockierenden Bildern seit den achtziger Jahren, als Gegenmittel zum Vorsprung des Fernsehens und zur Verführungskraft der Werbung, hat nicht lange genützt. Genau so wenig wie die Digitalisierung und die Verbreitung im Internet, die die Geschwindigkeit schliesslich zur Fotografie zurückbrachten. Sie haben vielmehr die anspruchsvolle Reportage- oder Dokumentarfotografie, das Fotoessay gleichsam von innen her aufgelöst. Denn von jetzt an ist Fotografie gratis zu haben, jeder kann knipsen, kein Aufwand wird mehr richtig entlohnt. Und wir als Betrachter haben uns diese Fragen zu stellen: Wann haben wir zum letzten Mal eine Zeitschriftenfoto­grafie gesehen, die uns wirklich berührt hat? Haben wir uns jemals nach dem Betrachten eines Fotos gesagt: Ja, diesen Zustand, diese Situation müssen wir ändern? Denn diese aufklärerische Haltung war doch immer das Credo der Reportagefotografen. Haben wir möglicherweise die Welt über die Masse der Bilderwelt sattgesehen?


Anfang der dreissiger Jahre jedenfalls war alles anders. Das System der  Illustrierten Presse stand auf seinem ersten Höhepunkt. Erfunden und entwickelt im 19. Jahrhundert, als Kurzform und visuelle Parallele zur Novelle oder zum bürgerlichen Roman, trat sie in den 1920er Jahren dank zahlreichen Neuerungen – Schnellpresse, Rotationsdruck, Halbtondruckverfahren, Zweifarben-, dann Mehrfarbendruck – ihren Siegeszug an. Vorreiter waren die Berliner Illustrierte und die Arbeiter Illustrierte Zeitung in Deutschland mit je weit über 500‘000 Auflage. In den dreissiger Jahren breitete sich diese neue Form des Storytellings, mit vielen Fotografien und begleitenden Texten, in allen Ländern aus. Zuerst in Europa und dann auch in den USA. Die Leica revolutionierte parallel dazu die Handlungen und Wege der Fotografen. 1914 erfand Oskar Barnack die Ur-Leica, 1925 ging die Leica I in Serie und wurde an der Leipziger Frühjahrsmesse vorgestellt, 1932 kam der wirkliche Durchbruch mit der Leica II, mit integriertem Entfernungsmesser und Wechselobjektiven. Ab sofort wurde die Fotografie handlich, leicht, beweglich, dynamisch, sie verlor ihr stativhafte Steifheit, die Augenhöhe als Massstab, ab sofort war es möglich, durch die ganze Welt zu reisen und von überall schnell, wendig und lebendig fotografisch zu berichten. Die Vorläufer, die Pioniere der sozialdokumentarischen Fotoreportage – Jacob Riis und Lewis Hine unter anderen – fanden nun lawinenartige Fortsetzung. Erich Salomon, Henri Cartier-Bresson, Germaine Krull, Margarete Bourke-White, Werner Bischof, Robert Capa sind einige der weltberühmten Fotoreporter; Picture Post, Paris Match, Life, Sports Illustrated, The Daily Mirror, The Daily Graphic zählen zu den berühmtesten Zeitschriften dieser Zeit. Die Welt verdoppelte sich für ein paar Jahrzehnte lang jede Woche in den Zeitschriften, Illustrierten, Magazinen, mit langen, packenden Bildstrecken.


In diese Zeit hinein, genauer 1918 in Wichita, Kansas, wurde W. Eugene Smith geboren. Mit 16 Jahren schon begann er zu fotografieren und zu publizieren. Nach dem für die Familie tragischen Selbstmord seines Vater studierte er an der Universität Notre Dame in Indiana Fotografie, schmiess nach einem Jahr die Ausbildung, ging nach New York und agierte fortan als Freelancer für die Black Star Agency und über diese Agentur für Collier’s Parade, Time, Fortune, Look und für LIFE, für viele wichtige Zeitschriften in den USA. Von 1944 an war er als Kriegskorrespondent für LIFE unterwegs, wurde dabei in Japan schwer verwundet, von 1947 bis 1954 arbeitete er fulltime für die Zeitschrift. In diesen wenigen Jahren wurde er neben Margarete Bourke-White zum grossen Heroen der Foto-Reportage, des Foto-Essays. «Country Doctor», «Life without Germs», «Spanish Village», «Nurse Midwife», «Charlie Chaplin at Work», «Reign of Chemistry» und «Man of Mercy» gehörten damals und heute zu den berühmtesten Reportagen, die für Zeitschriften realisiert worden sind. Abfolgen von Fotografien, die in sich selbst Sinn machen wollten, die in sich selbst die Essenz einer Geschichte darstellen wollten, zusammen mit den Legenden und schliesslich ergänzt durch einen Text. W. Eugene Smith‘s Fotografien gingen weit über das hinaus, was man sich von einer Foto-Reportage gewohnt war. Seine Bilder waren dunkel, manchmal düster fast, stark aufgeladen, sie wollten die Welt nicht beschreiben, sondern in sich enthalten, sie nicht ablichten, sondern gleichsam selbst gebären.

John Berger, der kürzlich verstorbenen berühmte englische Kunsthistoriker, leitet in seinem Essay «Pieta: W. Eugene Smith» die Kunst von Smith von seiner starken, widerborstigen, aber gläubigen Mutter her, von seinem Ringen mit ihr – obwohl sie sich hingebungsvoll geliebt haben – und mit der ganzen Welt, seinem Suchen nach der Wahrheit in den Dingen. «His attitude to words, music, his own art was essentially religious. He saw art as a means of redemption. Music, words, were to him an accompaniment to the drama of looking for goodness. His own photography constituted his way of looking for this, his search. He was not a cultivated man for this implies belonging to a privileged culture. He was a loner. He sought a truth which, by its nature, was not evident. It was waiting to be revealed by him and him alone. He wanted this images to convert so that the spectator might see beyond the lies, the vanity, the illusions of everyday life.» Und dann fährt John Berger fort mit: «His unique use of black and white was intimately tied to his sense of vocations. Through blackness he makes the world his own –  turns it into a dark, terrible, moral theatre where souls search for beauty or redemption. (…) Black for Smith, was the valley of the shadow of death. Light was hope.»


Auf dem Höhepunkt seines Ruhms als Zeitschriftenfotograf, nach nur sieben Jahren Vollanstellung bei LIFE – und ein paar Jahren länger im Auftrag –, schmiess 1954 W. Eugene Smith alles hin und verliess die Zeitschrift im Streit. Er war ein schwieriger Fotograf, ein komplizierter, komplexer Auftragnehmer, der mit einem Auftrag nie zur Zeit fertig wurde, der auch nie zufrieden war mit dem Layout der Bilder, mit der Mis-en-page, der Intensität der gedruckten Fotografien, den Legenden, der ganzen Aufmachung der «Story», wie man sagte. Er befreite sich aus dem Auftragssystem, aus der Abhängigkeit, auf der Suche nach mehr Tiefe, Echtheit, Wahrheit, gedrängt vom Wunsch, das Absolute zu finden, in den spärlichen Augenblicken, in denen sich die Wahrheit des Lebens in den Erscheinungen der Welt manifestiert, wirklich anwesend und bereit zu sein.

Dieser Bruch mit der Presse, den Zeitschriften, den Medien war gleichzeitig ein neuer Abschnitt in seinem bisherigen Leben, letztlich auch ein Bruch mit seiner Familie, mit seiner Frau Marries Carmen Martinez und den vier Kindern. Er stand an einem grossen beruflichen und persönlichen Scheideweg, musste sein Haus in Croton-on-Hudson, N.Y. verkaufen und zog um nach New York, bezog ein Studio oberhalb eines Jazz Loft auf der Avenue of the Americas, in den unteren 20er Strassen im damaligen Flower District in Manhattan. Ein Grund dafür war ein Auftrag, in sechs, acht Wochen 80 bis 100 Fotografien der Stadt Pittsburgh zu machen. Dieser Auftrag entwickelte sich schrittweise zum grössten Lebensprojekt und dann auch zum schmerzlichen Disaster von Smith. Stadt sechs Wochen fotografierte er zwei bis drei Jahre lang und beschäftigte sich dann den Rest seines Lebens mit zahllosen Versuchen, aus den fast 20‘000 Negativen, den 2‘000 Masterprints den grossen Wurf zu generieren, das ultimative Buch über Pittsburgh, der berühmtesten Industriestadt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, über diese Stahlstadt, ihr Kapital, die Kultur die Menschen, die Arbeitenden, die Seele dieser Stadt, die im Südwesten des Bundes­staats Pennsylvania, in einem Talkessel am Zusammenfluss des Monongahela River und des Allegheny River zum Ohio River liegt.

Smith scheiterte an seinen eigenen Ansprüchen, die höher nicht sein konnten. Er wollte das Absolute schaffen, dann wenn sich die ganze Wahrheit des Lebens – Himmel und Hölle, Licht und Schatten – in den ephemeren Ereignissen der Stadt manifestiert. Stephan Lorant, der Auftraggeber, wartete zwei Jahre lang auf die bestellten Fotografien, LIFE offerierte Smith 13‘000 $ für die Rechte, eine umfassende Story in ihrem Magazin zu bringen. Doch Smith lehnte ab. Schliesslich erkämpfte er sich 36 Seiten in der Zeitschrift «Photography Annual 1959» und versuchte in der kleinformatigen Zeitschrift unter dem Titel «Pittsburgh. W. Eugene Smith’s Monumental Poem to a City» das Maximum zu erreichen. Und scheiterte kläglich. Kurz vor seinem Tod 1978 übergab er sein Archiv dem neugegründeten Center of Creative Photography in Tucson, Arizona, seine Zehntausende von Negativen, Tausende von Prints, seine Briefe, seine umfang­reichen schriftlichen Notizen und die rund 4500 Stunden an Tape-Aufnahmen des Jazz Lofts in New York. Nebst diesem grossen Archiv liegen knapp 600 Abzüge von Pittsburgh in der Sammlung des Carnegie Museum of Art in Pittsburgh. Aus dieser Sammlung stellen wir die Ausstellung am MAST zusammen.


W. Eugene Smith rang mit der Darstellung des Absoluten. Er ging weit über das Dokumentieren des Welt, der Menschen, des Lebens hinaus, er wollte, zumindest in einigen Bildern, nichts weniger als die Essenz menschlichen Lebens «greifen», einfangen. John Berger zeigt anhand von «The wake in the Spanish Village», der Todeswache am Bett eines gestorbenen Mannes, oder an der Pieta der vielleicht grossartigsten schwarzweis­sen Fotografie, in der eine Mutter ihre durch die Quecksilbervergiftung des Meeres im japanischen Minamata gänzlich verstümmelte Tochter aus dem täglichen Ölbad heraushebt, wie Smith die Horizontale mit der Vertikalen kombiniert und kontrastiert: Das Opfer mit dem Täter, Gestorbene mit den Lebenden, Liebe mit Hass, metaphorisch auch der verblichene mit dem auferstandenen Jesus. «Finally we come to the fulcrum of his genius. He accepted his mother’s somber, condemning view of the world but he judged it far less harshly then she did because he turned the love that he knew through her into a principle to be searched for wherever he went. Love is always, amongst other things, pity. This is the love of the vertical figure. The love of the mourner and the healer; the love of the survivor for the departed.»

Wir verdanken diesem fast wahnsinnigen Fotografen W. Eugene Smith eines der grossartigsten Städteporträts und einige der zutiefst menschlichen Fotografien, auch wenn er zwanzig Jahre seines Lebens vergeblich damit gerungen hat, den Schritt von der Darstellung zum schwarzen Quadrat (wie Malewitsch), vom Bild zur Reliquie, vom Ephemeren zur Wahrheit zu geben. Niemand hat es in der Geschichte der Fotografie seither mit solch quälerischer Vehemenz versucht: Smith wollte nicht die Darstellung von Blut, er suchte das Blut.