September 2011

Bilderzweifel – Bilderlust
Acht Gedanken zur fotografischen Abstraktion und zu Shirana Shahbazis Weg in die (fast) reine Form

English Version: Pictorial Doubts and Delight →

1.

Beim Schreiben seiner Vision «Die Form ist in Zukunft von der Materie getrennt» war das Gesicht von Oliver Wendell Holmes, einem Arzt und Schriftsteller aus Boston, vermutlich vor Aufregung gerötet. Er glaubte 1859 an den grossen Sieg der Fotografie über die Materie, versprach sich von der Verdoppelung der Welt im «Spiegel mit Gedächtnis» eine neue, leichte Welt, die die schwere immobile Materie für immer abzustreifen vermag. «In der Tat ist die Materie in sichtbaren Gegenständen nicht mehr von grossem Nutzen … Man reisse dann das Objekt ab oder zünde es an, wenn man will.»1 Der «grösste menschliche Triumph über irdische Bedingungen», fügte er abschliessend euphorisiert bei. 

«Die Form ist in Zukunft von der Materie getrennt»: Vor aller offiziellen Abstraktion in der Fotografie trennt Holmes die Form von der Materie und will eine neue, leichte Welt schaffen. Getrennt, abstrahiert von der Materie entsteht durch die Fotografie eine neue, grossartige Welt. Wie real oder wie abstrakt ist sie? Ist sie vergleichbar mit der materiellen Welt? Hat sie immer noch darin ihre Wurzeln? Ist sie also ihre fotografische Repräsentation? Oder entsteht eine gänzlich neue Welt, erschafft, generiert die Fotografie ein neues, eigenes Reich? Oliver Wendell Holmes wusste nicht, dass er hier eine Büchse der Pandora öffnete und die Zerrissenheit der Fotografie zwischen Repräsentation und Kreation, zwischen Konstruktion und Rekonstruktion, zwischen Repräsentation und reiner Form wohl unbewusst für immer in die Welt setzte.

2.

Die offizielle Formulierung der Abstraktion in der Fotografie setzt mit Alvin Langdon Coburn ein, mit seinem Aufsatz zur «Zukunft der bildmässigen Fotografie» von 1916 und seinen Vortographs (Vortografien), den abstrakten, durch ein Spiegelprisma aufgenommenen Fotografien, die sich «von der zwanghaften Verbindung mit der Realität befreiten»2, wie Ezra Pound es formulierte. «Warum sollte nicht auch die Kamera die Fesseln konventioneller Darstellungskunst abstreifen und etwas Frisches, bisher nicht Erprobtes wagen?» schreibt Coburn. «Warum sollte nicht ihre subtile Geschwindigkeit benützt werden, um die Bewegung zu studieren? Warum nicht Mehrfachbelichtungen einer Platte, um einen bewegten Gegenstand aufzunehmen?»3 Er hatte sich den Vortizisten, der englischen Avantgardebewegungen angeschlossen, um der Fotografie einen gleichberechtigten Platz neben der Malerei zu verschaffen, um «unterdrückter und unerwarteter Originalität zum Ausdruck» zu verhelfen.4

Seine Bemühungen wurden genährt von einer allgemeinen Abstraktions­bewegung, die unterschwellig die Gesellschaft seit Mitte des 19. Jahrhunderts erfasst hat: zum Beispiel durch das Undurchsichtigerwerden der Geldflüsse, das Abstrakterwerden der wissenschaftlichen Einsichten ins Leben, in die Organisation des Universums, das Aufbrechen der Einheit in der Vorstellung unserer Psyche. All das und mehr – auch der immense Repräsentationsdruck der Fotografie – trieb die Idee der Kunst in die Abstraktion, ins Abstrakte – zwei verschiedene Begriffe für zwei verschiedene Inhalte. Kandinsky, Boccioni, die Futuristen und die russischen Konstruktivsten reagierten direkt auf diesen «Abstraktionsdrang»,5 auf den revolutionären Wandel der Wahrnehmung und des Weltverständnisses. Der zunehmenden Abstraktion schmiegten sie Abstraktionen in der Kunst zur Seite, oder setzten sich ab, stellten das Abstrakte dagegen, das heisst, die Konstruktion einer neuen, eigenen, parallelen Kunstbildwelt, in der nicht die Mimesis, sondern Geistiges wesentlich ist.

3.

All diesen revolutionären Gedanken und Erschütterungen zum Trotz, trat der Glaube an die fotografische Repräsentation einen unglaublichen Siegeszug an, erdrückte für Dekaden jedes andere Verständnis der Fotografie und überzog die Welt mit einem endlos scheinenden Bildteppich an Wirklichkeit behauptender Fotografie. Der Glaube an die mechanisch-optisch-chemische Reproduktion der Welt überlagerte die Einsicht, dass jede Fotografie in hohem Mass eine Abstraktion ist. Ihre Anmutung von grosser Realitätsnähe lässt uns bis heute einen Rösselsprung vollziehen und gleichzeitig der Meinung sein, wir sähen direkt und ungeschminkt in die Welt: so wie sie ist, wie sie gewesen ist, wie es war und wahr ist. Sozialpsycho­logen werden uns eines Tages erklären, weshalb ein ganzes Jahrhundert, weshalb die halbe Menschheit einhundert Jahre lang den fotografischen Ersatzstoff der Welt nicht nur in Kauf nahm, sondern ihn liebte, förderte, sammelte – und ihm glaubte, ihm nicht nur Wahrhaftigkeit, sondern Wahrheit zugemessen hat. Es wird sich im Rückblick weisen, ob die Fotografie das erste weltumspannende Reha-Projekt der abendländischen Menschheitsgeschichte gewesen ist, weil der Mensch aus der grossen Erzählung, der umfassenden Struktur entlassen wurde, weil wir uns seit der Romantik als verlorene Einzelwesen verstehen, die, in die Welt geworfen, ihren Sinn selbst suchen, finden und pflegen müssen. Dagegen bot die Fotografie die Illusion, die Welt begreifen, sie in den Händen halten zu können. Eine beruhigende, ordnende, auch sentimentale Funktion. Die Spiegelung als Versicherung, die bildlich eindrückliche Re-Präsentation als Halt und als (vermeintliche) Klärung.

4.

Mit ihrer Diplomarbeit, der ersten grossen Werkschau, wagt sich Shirana Shahbazi mitten in das Dilemma der Fotografie. Entstanden ist eine Arbeit über ihre erste Heimat, aus der Sicht der zweiten, dritten Heimat gemacht (geboren in Teheran, mit elf Jahren nach Deutschland emigriert, seit 1998 in Zürich lebend), eine Mischung aus Erinnerung und Erfahrung im Iran um das Jahr 2000 herum. Ein Bild von Teheran, doch von wem für wen gemacht? Was bedeuten diese meist alltäglichen Landschaften, Stadtlandschaften, Porträts, Zeichen, Gesten? Was bedeuten sie für diesen oder jenen Kontext? Für die einen wirken sie exotisch, für die anderen banal, für dritten mögen sie als folkloristisch ausbeutend zu lesen sein. Shirana Shahbazi schifft die Goftare Nik / Good Words (1998-2003) genannte Arbeit gekonnt um das Repräsen­­ta­tions­schlamassel der Fotografie herum. Und sie spielt damit, fotografiert reale Menschen und Menschen in Bildern, in Mosaiken, lässt eine Frau malen und re-fotografiert diese Malerei, setzt sie neben das direkte Fotoporträt. Sie irritiert somit laufend den Fluss der Bilder, ihre mögliche leichte, süffige Lesart, sie stört mit Absicht die Rezeption. Die Arbeit mit Farbfotografien in unterschiedlichen Formaten ist dokumentarisch angelegt, doch sie scheint bei näherem Hinsehen das Dokumentarische Schritt für Schritt selbst in Frage zu stellen. Eine Grossstadt (weit weniger homogen, als ein vorurteilsbehafteter Blick es sich vorstellt) bietet sich den Blicken möglichst offen und unideologisch an. Als eine Art Geste hingegen ist der Titel zu verstehen, den Shahbazi wählte. Er verweist auf Zoroaster (Zarathustra) und die zoroastrische Ethik. Der Lehrsatz «Good Thoughts, Good Words, Good Deeds» (Gute Gedanken, gute Worte, gute Taten) erinnert an altpersisches Denken und kontrastiert ein für die iranische (Bild-)Tradition typisches Pathos mit der Alltäglichkeit von Shahbazis Bildern.

5.

Eine (Exil-)Iranerin kehrt zurück und fotografiert den Iran. Das ist ein gefundenes Fressen, für politisch Interessierte, Feministen, aber auch für Journalisten und Marketingabteilungen von Museen. Ein farbenfroher Bilderschatz für bunte, wohlmeinende Missverständ­nisse. Shirana Shahbazi reagiert instinktiv darauf und verweigert den zweiten Schritt in die gleiche Richtung. Sie reist in die ganze Welt hinaus, fotografiert hier und dort gesehene, erfahrene, schon fotografierte Landschaften, Landstriche, urban sites. Jeden Ort, keinen Ort, überall, nirgendwo, die Geografie wird unwich­tig, entscheidender ist die Erkennbarkeit allgemeiner Strukturen. Shirana Shahbazi zieht hier ihre Fotografien auf Aluminium auf oder druckt sie als Plakate, die sich im Tapeten-Rapport wie ein neuer Fond über die Wand ziehen. 

Und sie porträtiert auch, Freunde, Bekannte, Fremde, doch kaum je als Einzelbild, vielmehr als Doppelbild, als Beginn einer Sequenz, einer Linie. Mit leicht verschobener Perspektive, leicht verschobenem Blick. Nicht das Porträt, sondern zwei Blicke auf eine sich leicht verschiebende Person ergeben eine dynamisierte Situation, lösen das Subjekt-Objekt- Gefälle, auch die Starre der Situation auf. Zwei Bewegungen kreuzen sich auf der Linse und schlagen sich als Begegnung, als Aufeinandertreffen nieder. Zu lesen auch als Symbol einer dialogischen, einer dynamisierten Welt, einer Welt in permanenter Bewegung, mit ständig sich ändernden Konstellationen, Möglichkeiten. Schliesslich beginnt sie auch sichtbar zu inszenieren, arrangiert Stillleben mit Korb, Früchten, Blumen, Muscheln, Perlenketten und Totenköpfen. Künstlich arrangierte Natur, drapiertes (totes) Leben. Natures Mortes vor schwarzem Grund, wie in der holländisch-flämischen Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts. Schmetterlinge, Muscheln und Steine vor sattfarbenen, dunkel leuchtenden Hintergründen. 

Shirana Shahbazi splittert die (Bild-)Welt in drei klassische Malereikategorien auf: Landschaft, Porträts und Stillleben. Allein dadurch «verkünstelt» sie bereits ihre Fotografie. Zudem überträgt sie die Bilder in andere Medien, lässt Porträts und Landschaften als Teppiche knüpfen, lässt Stillleben zu immensen Billboardmalereien aufblasen, und holt die medial verwandelten Bilder zurück in den Fotobereich. Sie bricht den Blick in die Welt mit verschiedensten Mitteln, irritiert die nach kultureller, medialer Einheit verlangende Sichtweise. Dazu arrangiert sie auch Bilder wie Puzzlestücke, setzt eine monochrome Fläche nahe an ein Doppelporträt, gefolgt von einer schwarzweissen Steppenlandschaft, einem in Teppich geknüpften Weg entlang grüner, sonnendurchfluteter Hecken und schliesslich einem Porträt. Gegenüber dann vielleicht eine Malerei mit Totenschädeln, eine Vanitas, die sich durch die Überhöhung, die massive Vergrösserung selbst zu entleeren scheint. Cross culture in jeder Hinsicht, mit Distanz und Nähe als prägenden Elementen.

Die Stillleben vor monochrom leuchtendem farbigem Hintergrund manifestieren eine wachsende Bilderlust. Eine Bilderlust, die aber noch eine Weile gebrochen, angehalten, gestoppt wird, eine Bilderlust, mit der die Künstlerin zuweilen hadert, der sie nicht ohne eingebaute Repräsentationskritik traut. Doch zunehmend entschlacken sich die Räume in ihren Ausstellungen, zeigen sich die Bilder pur.

6.

Die Sache der fotografischen Abstraktion kam nicht zur Ruhe. Fotogramme standen lange Zeit an vorderster Front (bisweilen, wie bei Moholy-Nagy, auch missverständlich),6 aber auch schwarze Quadrate, Kreise, Dreiecke, die in der Nachfolge von Malewitsch mit Fotografie generiert worden sind, Alexander Rodtschenkos Schwarz auf Schwarz, ein Öl-Fotogramm als schwarze Fläche zum Beispiel, oder Gottfried Jägers «Generative Fotografie» der sechziger, siebziger und achtziger Jahre, diese selbsterzeugenden Fotografien mit eigener (Erzeugungs-) Ästhe­­tik. Doch es fehlte die Durchsetzungskraft, es fehlte die Not, den tiefen, inzwischen theoretisch fundierten Zweifel ernstzunehmen. Noch liefen Angebot und Nachfrage parallel, noch ratterten Filmherstellung, Bilddruck, Presseerzeugnisse wie wild und kleisterten unsere Augen mit attraktiven, repräsentierenden Bildwelten zu.

Anfang 2011 trägt aber nun der Band 206 des Kunstforums einem neuen Trend zur Abstraktion Rechnung und fragt: «Diese Strömung geht durch alle Medien und scheint mehr zu sein, als eine kunstimmanente Auseinandersetzung. Doch was ist das spezifisch Neue an dieser Neuen Abstraktion? Gibt es tatsächlich ungekannte inhaltliche Ausrichtungen und Konzepte oder handelt es sich bloss um zeitgenössische Varianten oder Re-Interpretationen bereits bestehender künstlerischer Strategien. Und was besagt es, wenn die Künstler sich erneut der Abstraktion zuwenden? Postulieren sie damit eine Abkehr von der Realität, eine ästhetische Weltflucht, eine Kompensation oder vermitteln sie damit vielmehr einen Gegenentwurf, eine Erneuerung und eine utopische Qualität?»7

Wir leben nach Jean Baudrillard, und das heisst in diesem Fall hauptsächlich, dass sich über die Jahre hinweg die Zeichen und ihre Bedeutung noch stärker voneinander entfernt haben, dass der Signifikant, das Bezeichnende, weit wichtiger ist als das Signifikat, das Bezeichnete. Wir leben in einem Meer frei fliessender, referenzloser und derart für alles und jedes verfügbarer Zeichen. Die Digitalisierung der Zeichenwelt, der fotografischen Welt, hat die Verwischungen noch stärker explodieren lassen. Wir leben in einer Simulationswelt, in einem «Simulacrum», das die Unterscheidung zwischen Original und Kopie, Vorbild und Abbild, Realität und Imagination unmöglich macht. Zeichen und Bilder werden zunehmend referenzlos.  

Zum ersten Mal scheint heute die Abstraktion in der Fotografie wirklich ernst genommen und diskutiert zu werden, sie wird medientheoretisch und Fotografie-ontologisch als wichtig erachtet. Jetzt wird begriffen, dass letztlich jede Fotografie abstrakt ist, dass die Referenz in die Wirklichkeit «bloss» ein angenehmes, beruhigendes Scheinen ist, dass «alle Fotografien gleichermassen gegenständlich, konkret und abstrakt sind; Konstruktionen, die durch Übersetzungen und Manipulationen entstehen.»8 Heute wird aber auch eingesehen und diskutiert, dass «Abstrakte Fotografie» nur als Holding-Begriff taugt, sonst jedoch zu vereinfachend, zu leer ist, um das Reich der darin enthaltenen Möglichkeiten abzustecken. Was Ugo Mulas, Sigmar Polke, James Welling, Adam Fuss, Herwig Kempinger, Wolfgang Tillmans, Walead Beshty (um nur einige wenige Vertreter zu nennen) jeweils mit ihren fotoabstrakten, fotokonkreten Zeichenwelten beabsichtigen, referenzieren, unterscheidet sich so stark voneinander wie einst Landschafts- und Porträtfotografie, wie Krieg und Frieden, wie Himmel und Erde. Allen gemeinsam ist jedoch die Überzeugung, dass jede Fotografie eine Konstruktion ist und als solche angeschaut und begriffen werden soll. 

«Wir werden keine Welt gestalten und wollen es auch nicht direkt. Sich gestalterisch den­kend zu bewegen genügt fürs Erste, vielleicht wird etwas Neues daraus, nur eben nicht, indem es von vornherein mit einem neuen Weltbild in Einklang stehen soll, sondern als Selbst­läufer, in der Hoffnung, dass es auch schön aus dem Ruder läuft und wunderbare Bas­tarde bildet.»9 Diese Zeilen des deutschen Malers Bernd Ribbeck formulieren einen der Grund­­töne der neuen Beschäftigung mit der Abstraktion, in der Shirana Shahbazi zunehmend eine wichtige Rolle spielt.

7.

Die vergangenen zwei, drei Jahre zeigen eine sichtlich gelöste, entschiedene Shirana Shahbazi. Das berechtigte, auch beabsichtigte Zweifeln, Ringen mit den Repräsentationsfallen der Fotografie ist einer noch deutlicheren Zuwendung zum Schönen, zur Bilderlust gewichen. Ihre Bilder werden zunehmend sichtbar «abstrakt». Aus der Beschäftigung mit den Stillleben, mit der Frage, worauf Stillleben arrangiert werden, entsteht ein freies Konstruieren von Farbflächen, die ein faszinierendes, auch irritierendes Spiel zwischen Fläche und Tiefe betreiben. Frei, aber präzis arrangierte Farbformen, im Studio durch das Zusammenstellen von geometrischen Farbkörpern konstruiert, werden neben Bilder von Felsen, von Bergen, von Landschaften gestellt. Strukturähnlichkeiten zwischen Draussen und Drinnen, zwischen gesehener Landschaft und konstruierter Landschaft werden zueinander in Beziehung gesetzt. Natürliche Formen stehen neben geometrischen Formen, durch das blosse Sehen konstruierte Bilder neben bühnenhaften Installationen. Alles ist Konstruktion, alles ist abstrakt. 

Der Fokus wechselt zur reinen Bildlichkeit. Zur schönen und spannungsvollen Strukturierung. «Denn zur Schönheit sind drei Dinge erforderlich: Und zwar erstens die Unversehrtheit oder Vollendung; Dinge nämlich, die verstümmelt sind, sind schon deshalb hässlich. Ferner das gebührende Missverhältnis oder die Übereinstimmung der Teile. Und schließlich die Klarheit; deshalb werden Dinge, die eine strahlende Farbe haben, schön genannt.»10 Thomas von Aquins frühe Schönheitsformel passt ungewöhnlich genau auf die geometrisch abstrakten Konstruktionen von Shirana Shahbazi, auch wenn sie noch der traditionellen Trias des Wahren, Guten und Schönen folgt. Selbst Max Bills Definition – «Sie (die konkrete Kunst) soll der Ausdruck des menschlichen Geistes sein, für den menschlichen Geist bestimmt, und sie sei von jener Schärfe und Eindeutigkeit, von jener Vollkommenheit, wie dies von Werken des menschlichen Geistes erwartet werden kann.»11 – wirkt wie eine Anspielung auf die in diesem Buch vereinten Bilder. Zumal Bill selbst in seinen Skulpturen wiederholt Geometrie und Natur einander gegenübergestellt, miteinander verbunden hat. Aber Shahbazis aktuelle Bilder gehen darüber hinaus. Sie wirken wie Hymnen an die reine Form, sie preisen – weiterhin analog und für die Kamera inszeniert, weiterhin sich mit anderen Repräsentationsformen reibend – die Form, die Farben, die Leichtigkeit, sie suchen im Verschmelzen von Zeichen und Bedeutung, von Signifikant und Signifikat ein erhebendes Gefühl – ohne den Schauer des Erhabenen, der Schönheit des Mächtigen, Überwälti­genden. Much like Zero, ohne die Schwere der Referenzen, des Repräsentationsanspruchs, ohne die Schwere der Welt, der Bedeutung. Vielmehr befreit, abstrahiert, heitere geologische oder geometrisch-abstrakte Formen.

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8.

Seit ein paar Dekaden widmet sich die Kunst nicht mehr dem Visionären, dem Utopischen, dem Entwurf, vielmehr werden die Wirklichkeiten befragt, kommentiert, analysiert, ironisiert und bisweilen mit aller Schärfe ihre Widersprüche, Zynismen, ihre Abgründe freigelegt. Dabei werden mit gleichem Interesse die natürlichen Gegebenheiten (und unsere Wahrnehmung davon), die gesellschaftli­chen, zivilisatorischen und kulturellen Realitäten ins Visier genommen. Die Gründe für den Wegfall des Utopischen sind vielfach, zwei davon sind das Scheitern oder die Kata­strophen aller realisierten politischen Utopien und die Beschleunigungen in der Welt, die es zur zentralen Aufgabe werden liessen, sich mit den rasenden Phänomenen, den sich verändernden Strukturen, der verschwindenden Materialität, der medialen Überformung zu beschäftigen – sie zu begreifen versuchen. Wir begegneten also vornehmlich kommentierender Kunst, die als ein Merkmal eine geringe Distanz zur All­täglichkeit, eine Nähe zur «gewöhnlichen» Wirklichkeit aufweist. In den Stillleben und geometrischen Abstraktionen von Shirana Shahbazi hingegen, meint man die Sehnsucht zu spüren nach einem idealeren Ort, als es die Wirklichkeit je sein kann, einem reineren, ruhigeren, konzentrierteren, wesentliche­ren Ort, als wir ihn meist vorfinden. Ihr Sehnen gilt aber nicht einer grossen Utopie, die mit vollem Mund und wässrigen Augen vorgetragen wird – dieser Glaube ist wohl für alle für lange Zeit vorbei –, sondern der freien, feierlichen Bildlichkeit, der Freude an Farbe und Form, an Struktur, an Rhythmik, Dynamik, Bewegung, der Freude am Bild, an seiner visuellen Kraft und seiner sich bescheidenden Utopie.

1 Oliver Wendell Holmes: Das Stereoskop und der Stereograph (1859), zit. nach: Wolfgang Kemp (Hg.): Theorie der Fotografie I, 1839-1912, München 1980,  S.119.

2 Ezra Pound, zit. nach Wolfgang Kemp (Hg.): Theorie der Fotografie II, 1839-1912, München 1979, S.55.

3 Alvin Langdon Coburn: Die Zukunft der bildmässigen Fotografie (1916), zit. nach: Wolfgang Kemp (Hg.): Theorie der Fotografie II, 1839-1912, München 1979, S. 55.

4 Alvin Langdon Coburn: Die Zukunft der bildmässigen Fotografie (1916), zit. nach: Wolfgang Kemp (Hg.): Theorie der Fotografie II, 1839-1912, München 1979, S. 57.

5 Astrit Schmidt-Burkhardt: «Die Abstraktion unter der Lupe», in: Fotogeschichte, Heft 79, 2001, S. 3.

6 Siehe Herbert Molderings Beitrag in der Diskussion «Was ist Abstrakte Fotografie?», in: Gottfried Jäger (Hg.): Die Kunst der Abstrakten Fotografie, Stuttgart 2002, S. 269.

7 Sven Drühl: «Neue Abstraktion», in: Kunstforum international, Band 206, S. 32.

8 Liz Deschenes zit. in Magdalena Kröner: «Form, Fragment, Formation. Aktuelle Tendenzen der Abstrakten Fotografie», Kunstforum international, Band 206, S. 118.

9 Bernd Ribbeck, zit. nach: Sven Drühl: «Neue Abstraktion in der aktuellen Malerei», in: Kunstforum international, Band 206, S. 72.

10 Thomas von Aquin: Summa Theologica I (1a q.39 a.8).

11 Max Bill, «konkrete kunst», in exh. cat., zürcher konkrete kunst, Galerie Lutz und Meyer, Stuttgart, 1949.