März 2019  /  A New Gaze (Vontobel Photography Prize)

Comoros Encounters

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Comoros Encounters – das ist der Kernbegriff der Ausstellung und der Arbeit von Kelvin Haizel für A New Gaze 2019. Der Künstler aus Accra, der Hauptstadt von Ghana, machte sich auf, sich mit dem Archipel der Komoren, dessen Bewohnern und den wirtschaftlichen und politischen Strukturen künstlerisch auseinanderzu­setzen. Von Westafrika flog er über das südliche Ostafrika und darüber hinaus auf die dem Kontinent, nördlich von Madagaskar, vorgelagerte Inselgruppe mit den drei Hauptinseln Grande Comore, Anjouan, Mohéli, die 1975 die Unabhängigkeit von Frankreich erreichten und seit 2001 amtlich die Union der Komoren, also einen föderalen Inselstaat bilden, und der vierten, Mayotte, die seit 2014 den Status des 101. Départements der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich erhielt.

Encounters – Begegnungen und Zusammenstösse – mit einer wirtschaftlich und politisch komplexen postkolonialen Situation, die es ihm beim ersten Besuch unmöglich machte, alle Hauptinseln zu besuchen. Für den Besuch auf Mayotte war der Erwerb eines Visums erforderlich, eine Zugangserschwerung, die auch alle Komorer betrifft, die lediglich ihre Nachbarinsel besuchen wollen. Begegnung auch mit einer wirtschaftlich prekären, ja erbärmlichen Situation. Das BIP von Mayotte beträgt nur ein Viertel von dem in Frankreich, das BIP der drei anderen Komoreninseln wiederum ist dreizehnmal geringer als das von Mayotte und beträgt damit rund ein Fünfzigstel von dem in Frankreich. Madagaskar weiter südlich geht es, kaum fassbar, noch schlechter. Wohl wissend, dass das BIP kein Index für Lebensglück darstellt. Encounters auch zwischen Theorie und Praxis, zwischen klaren Verhältnissen in der Theorie und den Auffächerungen, der Vielstimmigkeit in der realen, gelebten Situation.

Kelvin Haizel liess sich auf diese Begegnungen und Zusammenstösse ein und schuf überraschende, eindringliche Verbindungen. In BASIC I und BASIC II zum Beispiel, der komplexen Rauminstallation im Erdgeschoss, deren Titel das Kürzel des Haupttitels ist: Babysitting a Shark in a Coldroom. Der Künstler selbst ist, rudimentär, in einer Performance zu sehen, in einer weissen Robe, einer Tunika, gekleidet, mit blauen Plastikhandschuhen versehen, mit denen er einen kleinen Hai trägt, ihn gleichsam «babysittet». In den grossen Fotografien trägt er zusätzlich ein gemustertes rotes Tuch um die Lenden. Die kleinen wiederum sind oval geschnitten und erinnern an Flugzeugfenster. Auf den Bildschirmen zweier Flugzeugsitze sind Auszüge eines Videos über eine Flugzeugwasserung, einen halb geordneten Absturz, zu sehen. All das spielt sich vor grellgrünen Bild-Hintergründen ab. Die Bild-Performance wirkt einerseits klinisch und andererseits fast so surreal wie Man Rays zufälliges «Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch», der fotografischen Umsetzung einer berühmten Metapher von Lautréamont, mit der dieser die Schönheit eines Jünglings beschrieben hatte, eine absurde Metapher, die später von den Surrealisten aufgegriffen wurde. Haizel verknüpft hier die Notwasserung des Ethiopian-Airlines-Fluges 961 vor den Komoren im Jahr 1996 mit der wirtschaftlichen und politischen Situation der Inselgruppe. Das Flugzeug wurde auf dem Weg von Addis Abeba in Äthiopien nach Abidjan in der Republik Elfenbeinküste von drei Äthiopiern mit dem Befehl entführt, nach Australien zu fliegen. Wegen Treibstoffmangels stürzte die Maschine ins Wasser, von 175 Passagieren überlebten gerade mal 50. Die Leichen wurden in einen grossen Kühlraum gebracht, der sonst zentraler Kühlort der ganzen Insel gewesen war, und dort aufgebahrt. Seither steht der Raum, gleichsam entweiht, nutzlos im Stadtgefüge. Haizel performt in diesem Raum einerseits mit dem Hai, den er einem Fischer abkaufen konnte, und andererseits mit den Farben Blau, Weiss, Rot, die auf die ehemalige Kolonialmacht Frankreich verweisen. Er nennt die Performance «a fictive re-membering of a historic event». Der grelle Green-Screen, vor dem die Foto-Performance stattfindet, verweist auf die Möglichkeit, das Bild, das hier generiert wird, jederzeit unterschiedlich und fast beliebig neu kontextualisieren zu können.

Die Serie PROOF – Possibilities of Our Return führt eine Reihe von inszenierten Porträts vor Augen: mehrheitlich sitzend, vor einem grauen Tuchhintergrund und an einem schwarzspiegelnden Tisch, sowie zwei Ganzkörperfiguren in langen weissen Tunikas (Kandous), umstrahlt von leuchtendem Orange. Kelvin Haizel entwickelt hier aus dem narrativen Hintergrund, dass ein Bekannter, ein Freund drei Monate früher seinen Bruder verloren hat, ein Instrumentarium, eine Reihe von Requisiten, mit denen er ebenso eindringliche wie rätselhafte Porträts schafft. Der Bruder seines Freundes war Bauer und Fischer, wie viele auf diesen Inseln, und er verschwand im Meer. Die Maske, die Haizel trägt, ist aus Gewürznelken gemacht, einem zentralen Produkt der Inseln, die orangefarbenen Jacken von Seerettern tauchen real oder als orangene Farbfläche auf, Weltkugel und Landkarte, globale und lokale Vermessung, wiederum sprechen von den geopolitischen Verhältnissen der Inseln. Gloves, Cloves and the Globe bzw. Gloves, Cloves, Cheers oder Orange is the Colour of Hope lauten Einzeltitel in dieser Gruppe. Wie in der ersten Serie, so verfremdet der Künstler auch hier die Szenerie, bricht mit dem Geschehen, öffnet es damit, trotz eindringlicher Symbolik, für eine freie Begegnung von Betrachtenden und Betrachtetem. In einer Nebengruppe thematisiert er zudem mit Gewürznelken und Ylang-Ylang, einer Art von Parfümpflanze, deren Öl ein begehrter Duftstoff ist, die limitierten Möglichkeiten einer existenzsichernden Erwerbstätigkeit auf den Inseln.

Die dritte zentrale Gruppe heisst Every Other is a Citizen und visualisiert die Migrationskrise auf dem Archipel, die sich über die letzten Jahren ähnlich wie im Mittelmeer stark verschärft hat, vor allem seit Mayotte, das heisst Frankreich, die Visumspflicht eingeführt hat. Das Ziel vieler Komorer ist Mayotte, weil die Armut auf den anderen Inseln so schreiend gross ist. Sie erreichen das Ziel seither meist nur noch auf illegalem Weg, auf schmalen Booten, wenn das Meer nicht zu heftig, die Boote nicht übervoll und die Begegnungen, die Encounters mit der französischen Küstenwache, nicht zu dramatisch sind. Angekommen, quälen sie sich jahrelang durch das Asylverfahren. Sicher 30’000 Menschen sollen auf diesen Überfahrten bisher schon umgekommen sein. Kelvin Haizel schreibt dazu: «… after legally acquiring a visa to Mayotte, I created this series. I photographed people who are in Mayotte as asylum seekers, Comorians who have been denied visa to Mayotte, or those who haven’t even dared to try. These pictures were superimposed on the visa I acquired and details were changed for each image. I chose the immigration booth aesthetic because it puts the images in a site reminiscent of where its politics play out.» Die Porträts, die er hier verwendet, zeigen Männer und Frauen, denen er begegnet ist. Die Frauen tragen oft die für die Inseln typischen Korallen-Gesichtsmaske, die sowohl als Behandlung wie auch als Schmuck aufgetragen wird.

Gleichsam als Verankerung der drei grossen Werkgruppen fungieren im Hintergrund zwei Bild-Wände: Boats and Blues between Land und This Cannot Be Delicious Forever. Die erste wolkenartig installierte Gruppe von Fotografien verankert das Thema geografisch, zeigt in Begegnungen, wo und wie die Fischer auf den Inseln arbeiten, die zweite Gruppe spielt auf den sozialen Hintergrund an, fasst das architektonische und soziale Gefüge, zum Beispiel die für den sozialen Status so wichtige zweite «Grosse Heirat», zu einer Serie zusammen. Beide Gruppen sind auffällig skulptural, die Boats-and-Blues-Wand wirkt wie eine unruhig gemauerte, weissgewaschene Backsteinwand, an der Wind und Salz nagen, die sozialen Bilder werden als Bildtafeln in Reih und Glied präsentiert, als stünden sie aufgestellt auf einem privaten Hausaltar oder in einer öffentlichen Erinnerungsstätte. Sie sind der Green-Screen in dieser Ausstellung, Bildtafeln zum geografischen, sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund der Komoren.

In der gesamten Arbeit Babysitting a Shark in a Coldroom erleben wir einen Künstler, der die verschiedenen Encounters mit der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Situation auf den Komoren virtuos mit einem vielschichtigen Bilddiskurs unterlegt, der die Bildwelten, die er kreiert, ebenso öffnet und verfremdet, sie zu «Dingen», zu körperlichen «Eindringlingen» gerinnen lässt, die in unsere materielle Realität eintreten. Er realisiert die Bilder als streunende Migranten unserer Erfahrungswelt – eine Begegnung, ein Zusammenstossen von «Bild» und materieller «Realität», ein Ineinanderlaufen, ein Encounter zweier sich gegenseitig beeinflussender Universen.