2013  /  Concrete – Fotografie und Architektur (Scheidegger&Spiess)

Concrete – Einleitung

English Version: Concrete – Preface →
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Ja, die Architektur ist ein Augenspiel, wir schauen sie an, aber wir erfahren sie ebenso, vielleicht sogar vor allem, mit dem Körper. «In diesem Raum wird mir eng», «Hier kann ich mich entspannen» oder «Der Raum eignet sich für Gespräche»: Diese Urteile fällen wir, nachdem wir einen Raum erfahren haben, nachdem die Rückmeldungen von allen unseren Sinnen ein Gesamtgefühl vermittelt haben. Der «stumpfe» Tastsinn (Goethe) ist dabei genauso wichtig, wenn nicht wichtiger als der Sehsinn. Wir meinen mit dem Auge zu sehen, doch wir «sehen» mit dem Körper, wir streunen durch Räume, Gänge, Häuser, nehmen den Geruch auf, spüren die Ausstrahlung der Materialien und Grössenverhältnisse. Erleben, ob man in einem Raum atmen kann oder förmlich erstickt, ob die Proportionen harmonisch wirken oder «anecken», als würde an unserem Körper gezogen, als würde es uns hier strecken oder dort beugen. Unsere Sinne reagieren wie kommunizierende Röhren direkt und unmittelbar auf das, was gebauter Raum, was Architektur an Atmosphäre aussendet.

In Paul Valérys Eupalinos unterhalten sich Phaidros und Sokrates in der Unterwelt über den Architekten Eupalinos, über sein Werk, sein Denken. Und sie ärgern sich darüber, dass sie als Verstorbene an der Einmaligkeit körperlicher Schönheit nicht mehr teilhaben können, spricht doch gerade Eupalinos von der Vollendung von Form und Materie, von der Perfektion architektonischer Gedanken und gestalterisch-stofflicher Realisierung. Von der Last ihres Leibes befreit, müssten Phaidros und Sokrates eigentlich in der optimalen Position für die Anschauung des Schönen sein – hatte doch Platon in seinem Dialog Phaidros behauptet, die Menschen seien in ihren Leib «eingekerkert wie ein Schaltier» und könnten daher ihr höchstes Verlangen nicht wirklich erfüllen. Was für eine Enttäuschung für die körperlosen Seelen, denn sie können dem Schönen zwar folgen, es aber nicht mehr körperlich erfahren. So vernehmen sie bloss, dass es gemäss Eupalinos Häuser gebe, die schweigen, solche, die reden, und sogar solche, die singen und klingen. Sie vernehmen, dass erst bei totaler Verschmelzung von Idee und Materie, also auch bei handwerklicher Vollendung, Baukörper zu Klangkörpern werden, die singen und klingen.

Ja, Architekturen sind selbst Körper, in die wir eintreten, eingehen, die wir für die unterschiedlichsten Zwecke begehen, bewohnen, behausen. Wir denken und arbeiten darin, wir wohnen und schlafen in ihnen. Wir erkunden beim Begehen den Klang der Architekturen, unbewusst oder hellwach. Wir sind Körper, die sich in diese anderen Körper einschmiegen oder sich von ihnen wie heftig abgestossen fühlen. Wir leben mit ihnen oder gegen sie, einigen begegnen wir auffallend neutral.

Die Geschichte der von Architekten entworfenen Baukörper ging in der westlichen Welt den Weg vom gedrungenen, rauen, dickwandigen Volumen zum hauchdünnen, glatten, lang- oder hochgestreckten, jedenfalls stark ausgedehnten Körper. Alte Häuser im Engadin haben oft Mauern mit der unglaublichen Dicke von ein bis zwei Metern, als müssten sie Erdrutschen, als wollten sie Bergrutschen Widerstand leisten. Stahl-Glasbauten hingegen sind oft so filigran, dass sich Innen und Aussen kaum mehr unterscheiden lassen, dass die Bewohner im Drinnen ein Gefühl vom Draussen haben und die Wohligkeit des Eingebettetseins gegen das Gefühl des Ausgesetztseins eintauschen. Nur noch die Dicke eines Verbundglases trennt die Welten auf.

Die radikalste Ausdünnung der Baukörper geschieht in der Verbildlichung von Architektur. Der voluminösen Körperlichkeit stehen die (ultraflachen) Bilder dieser Architekturen entgegen. Architekturen sind gedacht, gezeichnet, fantasiert und seit der Erfindung des Mediums endlos fotografiert worden. Die ersten Fotografien waren allesamt Architekturbilder. Architekturen leben ein zweites, ein paralleles Leben durch Bilder. Vor, während und nach ihrer Existenz sprechen Bilder über sie, überformen sie mit Gedanken, Fantasien und Ideologien. Baukörper wurden über die Jahrhundert immer filigraner, bis sie hauchdünn, bis sie transparent waren, fast wie ihre Bewohner auch. Doch erst die Bilder entmaterialisieren die Architekturen gänzlich, entziehen ihnen die Stofflichkeit und reduzieren sie auf Form und Zeichen. Oliver Wendell Holmes’ euphorische Forderung zu Beginn der Fotogeschichte, die Welt zu fotografieren, damit wir sie materielos erfahren können, und die Welt danach abzubrennen, wird schon schrittweise in der analogen, jedoch besonders in der digitalen, virtuellen, in der medialen Welt zu einer Form von «Realität»: Der lange Weg von der Substanz zur Oberfläche, von der Materie zum Zeichen, ist beschritten – auch ohne die Vernichtung der Materie, die für Holmes als letzte Konsequenz ansteht.

Bilder sprechen eine eigene Sprache, sie regen einen anderen Diskurs an als die körperliche Erfahrung von Architektur. Sie verwandeln Volumen in Fläche, sie destillieren Materie zu Form und Zeichen. Fotografie formt Architektur, verformt sie, vergrössert, verkleinert, erhöht oder erniedrigt sie, akzentuiert sie, aber kaum je wird Architektur von ihr in Ruhe gelassen. Wohl deshalb versuchen viele Architekten, das Bild ihrer Gebäude mitzubestimmen. Der klassische Architekturfotograf ist ihr Werkzeug, der ihren Anweisungen zu folgen hat, der in der Stunde Null – sobald das Gebäude fertiggestellt, gereinigt und bereitgestellt ist – fotografiert, bevor Gebrauchsspuren auftauchen, bevor das Gebäude in Besitz genommen und verwandelt wird. Der Idealzustand in der Stunde Null ist der Augenblick der klassischen Architekturfotografie. Diese Stunde Null gehört ihr. In dieser kurzen Zeitspanne stellt sich die Architektur genau so dar, wie die Architekten es sich vorgestellt, wie sie das Gebäude, das Ensemble geplant haben. Je nach Fotograf wird die Luzidität des Gebäudes herausgearbeitet, die Transparenz, der Bezug der Räume zueinander. Oder es wird als neue Ikone inszeniert, die sich in den Architekturzeitschriften behaupten soll. Ein Augenblick der Entrückung, bevor die Architektur in «Gebrauch» genommen wird, bevor sie, wie Roland Barthes es zum Thema der Hose formuliert hat, durch den Gebrauch erst zur eigentlichen Architektur, zum funktionierenden Gebäude wird.

Architekturen folgen einer Vielzahl von Zwecken, von Haupt- und Nebenzwecken. Ein Teil davon besteht ausschliesslich im Fotografiertwerden. Bilder demonstrieren zum Beispiel ihr Prestige, den damit verbundenen Statusanspruch, Bilder verwandeln Architekturen zu brands, verschaffen ihnen eine ungeahnte Lebenszeit, die weit über ihre ursprüngliche Bestimmung hinausreicht, die auch ihre absichtliche oder unabsichtliche Zerstörung überdauert, die Gebäude und Städte auch nach ihrer Vernichtung noch in Erinnerung rufen. Diese Ausstellung und das Buch wollen sich diesem eigentümlichen, vielfältigen Verhältnis von Architektur und Fotografie auf verspielte, erzählerische und dialektische Weise annähern. Wir fragen nach Historie und Ideologie, aber auch ganz konkret nach Form und Materie im fotografierten Bild. Die visuelle Anziehungskraft von zerstörten oder verfallenen Gebäuden wird ebenso thematisiert wie monumentale Macht- und Abgrenzungsdemonstrationen, aber auch die Fragilität und Schönheit einer Architektur auf Zeit. Inwiefern beeinflusst die Fotografie nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch die Gestaltung von Architektur? Wie wird Architektur im Bild lebendig, wann wird sie unheimlich? Wie wachsen Siedlungen zu Städten zusammen? Oder soziologischer gefragt: Wieso verschränken sich Arbeit und Leben in Zürich und Winterthur anders als in Kalkutta oder Chandigarh? Und wie lassen sich Wolkenkratzer und Wohnräume in die flache Welt der Fotografie übertragen?

Die Architektur ist seit jeher ein grossartiger und heftig debattierter Schauplatz von Zeitgeist, Weltanschauung, Alltag und Ästhetik. Sie ist gewagte Materialisierung von privaten und öffentlichen Visionen, Gebrauchskunst und Avantgarde zugleich, und sie ist auch, wie Slavoj Žižek schreibt, Stein gewordene Ideologie. Fotografie und Architektur sind beide aber auch ganz selbstverständlich in unserem Alltag verankert, sie begegnen uns täglich – oft unbewusst – auf Schritt und Tritt, und beeinflussen unser Denken, Handeln und Sein auf untergründige, nachhaltige Art und Weise. Concrete – Fotografie und Architektur gibt visuelle Antworten auf die Frage, was das innige und doch so komplexe Verhältnis zwischen Architektur und Fotografie, zwischen Architekt und Fotograf auszeichnet.