November 2012

Cut & Paste
Aus der Sammlung des Fotomuseum Winterthur

<p>Rémy Markowitsch: <em>045</em> (2004), aus der Serie <em>On Travel</em></p>

Rémy Markowitsch: 045 (2004), aus der Serie On Travel

Cut & Paste, die Präsentation aus der Sammlung des Fotomuseum Winterthur für Paris Photo, greift ein wesentliches Handlungsmuster zeitgenössischer Fotografen und Künstler auf. Seit den 1970er Jahren eignen sich einige von ihnen vorgefundenes Fotomaterial an – Material, das sie in Archiven, vor allem aber in den Medien finden, manchmal beziehen sie sich auch direkt auf die Fotoge­schichte. In diesem Handlungsmuster streifen Künstler ihre klassische Rolle ab und agieren als Mode­ratoren, als Interpreten, als Kuratoren. Sie brechen mit der Vorstellung von «Originalität», vom «Autor», sie intervenieren in öffent­lichen Bildfeldern, die sich rasend schnell vergrössern, im Fluss von Bildern, die in gigantischen Mengen erzeugt, vermittelt und konsumiert werden; Bilder, die unser Leben nicht nur dokumentieren, sondern in gleichem Masse auch beeinflussen. Die Foto­gra­fInnen und KünstlerInnen agieren mit unterschiedlichen Strategien in diesen Feldern, verschie­ben Bilder und Bedeutungen, um in den Brüchen neue Verständnis­möglichkeiten, neue Haltungen zu offerieren.

Die Ausstellung Cut & Paste entwickelt das Thema der Appropriation Art, der Aneigungs­kunst aus den 1970er Jahren heraus bis in die Gegenwart, mit Werken aus der Sammlung des Fotomuseum Winterthur von (in alphabetischer Reihenfolge) Kristleifur Björnsson, Hans-Peter Feld­mann, Thomas Galler, Guerilla Girls, Annette Lemieux, Sherrie Levine, Mike Mandel/Larry Sultan, Remy Markowitsch, Nils Nova, Peter Piller, Martha Rosler, Elaine Sturtevant und Zoe Leonard.


Den Begriff Appropriation Art verwendet man im engeren Sinne, wenn Künstler bewusst, das heisst ausgehend von einer künstlerisch-strategischen Überlegung, einzelne Werke anderer Künstlerinnen oder Künstler kopieren. «Ausleihen, Klauen, Aneignen, Erben, Assimilieren. Beeinflusst-, Inspiriert-, Abhängig-, Gejagt-, Besessen-Sein, Zitieren, Umschreiben, Überarbeiten, Umgestalten … Revision, Re-Evaluation, Variation, Version, Interpretation, Imitation, Annäherung, … Echo, Allusion, Inter­textualität und Karaoke» – all dies sind Aneig­nungs­formen, die nicht als Plagiat verstanden werden, sondern als ein beabsichtig­ter künstlerischer Zugriff. In einem weiteren Sinne spricht man von Appropriation Art, wenn sich Künstler mit vorgefundenem ästhetischem Material beschäftigen, z. B. mit Werbe- oder Pressefotos, Archivbildern, Filmen, Videos. Dabei kann es sich entweder «um exak­te, detailgetreue Kopien» handeln oder aber es werden «in der Kopie Manipulationen an Grösse, Farbe, Material und Medium des Originals vorgenommen.» (Michalis Pichler)

Aneignungskunst entsteht meist aus einer Situation der Fülle, ja der Überfülle heraus. So, wie Menschen erst dann beginnen, absichtlich, konsequent, ja gar mit Lust abzumagern, wenn die Exi­stenz­sicherung kein Problem mehr darstellt, so bedienen sich KünstlerInnen aus dem Fundus vorhandener Bilder, wenn sie mit einer Überfülle an Bildern konfrontiert sind und sich ernsthaft die Frage stellt, weshalb noch ein weiteres Bild in die Welt gesetzt werden soll, wenn es schon so viele gibt und sie täglich neu wie aus einer ewigen Quelle sprudeln. 

Ein zweiter Grund ist der grosse Zweifel an der Vorstellung von «Originalität», der Vorstellung von einem Autor, der mit neuen, besonderen, originellen, mit der Vergangenheit brechenden, bisher nie gesehenen Werken in die Welt der Kunst eintreten und diese revolutionieren soll. Diese Vor­stellung nährt sich auch heute noch aus einem überkomme­nen Geniebegriff, der davon ausgeht, dass das «Genie» über die Welt hineinbricht und sie verändert. Systemische, strukturelle Sichtweisen entzaubern diesen Deus ex Machina, bezweifeln die Autonomie des Autors und begreifen die Welten der Natur, der Dinge und des Geistes als interdependent, als miteinan­der verbunden und vernetzt. Der Autor wird so zum Moderator, zum Kurator, der bestimmte Situationen verschiebt, ordnet und dadurch neue Kontexte und andere Bedeutungen schafft – eine wichtige Leistung in einer Welt, in der das Begreifen weit hinter der Geschwindigkeit von Wirtschaft und Wissenschaft, von Wirklichkeit im Allgemeinen herhinkt.

Dennoch, die Appropriation hatte es im Rahmen der klassischen Fotografie auffallend schwer. Die Fotografie musste und wollte – da sie mit ihrer Optik und Mechanik und ihren chemi­schen Niederschlagsprozessen selbst weit von ursprünglichen Vorstellungen, vom malerischen Duktus, vom künstlerischen Impetus entfernt war – auf der persönlichen, subjektiven, frei gewählten Sicht auf die Dinge der Welt beharren. Das war der ureigenste fotokünstlerische Akt, das war das au­then­tische Moment beim Fotografieren. Und nun eignete sich die Appropriation Art auch noch fremde Sichtweisen an. Lange Zeit wurde sie deshalb mehr als Skandal, denn als Chance wahrge­nommen, dabei entstanden durch Aneignung und Moderation von Bildern, von Haltungen, von Gesten wichtige und spannende bildnerische (Ein-)Sichten. 

Zwei Beispiele dazu aus der Ausstellung: Martha Roslers «Bringing the War Home» zur Zeit des Vietnamkrieges oder ihr eigenes Remake während des zweiten Golf­krieges führen die häusliche Harmonie, das entspannte Ambiente des American Way of Life nahtlos mit der Brutalität des Krieges zusammen: eine Courrèges-Dame der sechziger Jahre staubsaugt aufwandlos elegant, mit leichter Hand die Vorhänge und blickt dahinter direkt in unverblümt düstere Grabenkämpfe. Damals waren es klassische Collagen, gekonntes Schnipseln mit Schere und Leim, in den neuen Arbeiten hingegen führt Rosler die verschiedenen Elemente digital zusammen. Found Footage, im Netz oder in den Medien vorgefundene Fotografien, die der Logik der Künstlerin entsprechend neu zusammen-, in einen anderen Kontext gesetzt werden. Aber auch in der digitalen Version ohne feines Ren­dering, ohne gestalterische Finesse, vielmehr weiterhin – mit Erinnerung an das Prinzip des Brechtschen Verfremdungseffekts – entwurfs- und scherenschnittartig entern Spezial-Marines den living room, Abu-Ghraib-Häftlinge werden mit Laufstegmodels konfron­tiert, das Girl der Gegenwart erfährt vom Leben an der Front aufgeregt übers Handy, mit Rückkoppelung an die Front.

Remy Markowitsch reproduziert und reproduziert. Und zwar Reproduktionen von Bildern aus Büchern. Wiedergaben von fotografierten Landschaften, Pflanzen, Tieren und Menschen. Wiederga­ben vom Verlauf der Zeit. Er bedient sich der Bücher als visueller Archive des Wissens. Er beschreibt sie nicht, sondern beleuchtet sie, er hebt die Opazität des Papiers auf, um der doppelseitigen Ablage­rung ein Bild abzugewinnen. Ein bisschen verhält er sich wie ein Chirurg, der Bücher aufschneidet und durchleuchtet. Das, was wir da sehen, ist echt, war wirklich da, hat sich im Durch­licht so gezeigt. Doch Markowitschs Schirmbilder, seine visuellen Palimpseste klären vorerst nicht, sie verunklären vielmehr. Durchs Sichtbarmachen, Durchleuchten verwischt sich die Schärfe der Darstellung, werden Träger und Information gleichwertig, werden vermengt. Das Rauschen der Papierstruktur als erstem materiellem Träger, das Sausen der Rasterpunkte als eigentlicher Träger der Information stört die ursprüngliche Repräsentation. Markowitsch führt dadurch die Mimesis ad absurdum. Seine mechanistische Kopie einer mechanistisch gedruckten Kopie einer mechanistisch fotografierten Kopie nimmt selbst eine monströse Bildrealität an, sieht schliesslich fast aus wie ein digital erzeugtes Pflanzen-Arrangement, wie ein etwas befremdliches Original, eine «Natura natu­rans», eine etwas verquer sich selbst hervorbringende Natur. 


Die Sammlung des Fotomuseum Winterthur setzt um 1960 ein und entwickelt sich – meist mit grösseren Werkgruppen – entlang der Dokumentarfotografie und der photo­based conceptual art in die Gegenwart. Sie umfasst heute rund 4000 Werke von 350 Fotografen und Künst­lern. Die Samm­lung ist auf www.fotomuseum.ch praktisch vollständig online zugänglich, ebenfalls die bisher neun grossen thematischen Sammlungsausstellungen seit 2003. Die begleitenden Hefte zu den Ausstellungen sind in Form von pdfs online einseh- und downloadbar.  Sammlungskurator des Foto­mu­seum Winterthur ist Thomas Seelig.