2007  /  Nanna Hänninen: Recordings (Kodoji)

Das Erfahren setzt sich zum Denken dazu
Zu den Denk- und Erfahrungsbildern im Werk von Nanna Hänninen

English Version: Experiences enhance Thoughts →
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Nanna Hänninen richtete sich in ihren bisherigen Arbeiten zunehmend nach Innen aus. Sie lenkte Ihren Blick von der Aussenwelt – die sich mit ihren hektischen und heterogenen Zeichen ebenso eindringlich als Bild anbietet wie sie sich durch unkontrollierbare Fülle und Verknüpfungen entzieht – auf eine ruhige, überschaubare Innenwelt, auf die sparsame Situation einer White Box, eine Weiss in Weiss gehaltene Studiowelt, die den reduzierten Hintergrund für kleine, minimale, konzentrierte Interventionen bildet. Dieser Schritt aus der Welt heraus bedeutete auch die Abkehr von der Subtraktion, von der eliminierenden und ordnenden Reduktion als grundlegendem Verfahren der Fotografie, zugunsten der Addition als gestalterischem Prinzip, dem Bauen der Bildwelt im leeren Raum. Nanna Hänninen wandte hier eine Mischung aus skulpturalem, installativem und fotografischem Verfahren an. Sie setzte kontrolliert Element für Element, Gegenstand für Gegenstand ins karge Weiss-in-Weiss: zum Beispiel runde weisse Klebpunkte geometrisch auf pastellfarbener Unterlage ausgesät; oder drei weisse Federbälle, die, Augäpfeln ähnlich, zusammen mit ihren schwarzen Gummikugeln von Konzentration und Auflösung, von Federleichtigkeit und Erdenschwere sprechen; ein aus blankem weissem Papier gefaltetes Flugzeug, das sich als zarte Form aus weissem (Ur-)Grund herausschält und zu schweben scheint; Zahnstocher aus Holz, eng aneinandergefügt und wie spitze Staketenzäune zu Bändern ausgerollt; ein mit Sorgfalt genormter Stapel Papier, der mit Gewicht und Wichtigkeit auf einer Holzunterlage platziert ist; zwölf weisse Schachteln zu einem Quader gestapelt, als würde Luft geformt und angeordnet; schliesslich weisse Umschläge aus Papier, gefüllt, verschlossen und wie knautschige Kissen als Ordnungsversuch aufeinandergelegt.

Nanna Hänninen fügte also sparsam einen Gegenstand zum anderen, bis die wenigen Elemente verhalten zu sprechen anfingen, bis sich durch die Zeichen – in einer Balance von Abstraktion und Konkretion – allmählich Bedeutung zu formen begann. Die Gegenstände und Wörter werden jedoch erst deutlicher, lesbarer und metaphorischer durch ihre fotografische Form, dann, wenn auch die Schärfentiefe bestimmt hat, welche Linie, welche Heftklammer, welche Kreisfläche, welche Wörter scharf und welche unscharf abgebildet werden, dann, wenn der Blickwinkel ausgewählt hat, welcher Gegenstand sich prominent vor unseren Augen aufbaut und welcher sich im Unter- und Hintergrund zu verlieren hat, und dann auch, wenn die Lichtführung den Hänninschen Fotoraum moduliert hat. Nur so – durch Auswahl und Anordnung der Gegenstände und durch den bestimmenden Blick auf sie – wandeln sich die bewusst einfachen, banalen Gegenstände beim Betrachten zu Stellvertretern und die Fotografien in Hänninsche Denkbilder.

Einige ihrer Werktitel – zum Beispiel „Fear and Security“, „Keep under Control“, „Information Failure“ – bekräftigen, dass ihre bühnenbildhaften, kleintheatralen Szenen als visuelle Aphorismen, emblematische Konkretionen zu lesen sind. Sie „denken“ in modellhafter visueller Form über Grund- und Wesenszüge des individuellen und universellen Weltdaseins nach, „sprechen“ von Spannungen, von Gegensätzen, von Überlastung, von Fehlerquellen, von Ordnung und Kontrollverlust. In ihrem Buch „Fear and Security“ wird Nanna Hänninen mit Folgendem zitiert: «Instead of order, I started to see chaos in things. I have been trying to catch the idea of society which is filing, sorting and systemizing things to be more secure and organized. I see a great paradox because by setting up security measures you cause insecurity of something unkown .... this series (Fear and Security) is about the fear of losing control.» Es ist spürbar, dass Nanna Hänninens Werke dieser Zeit der Unsicherheit und der Suche nach möglichen Ordnungen Ausdruck geben. Die alten Ordnungen der Welt zerfallen schneller – es stellt sich die Frage, wie und welche neuen entstehen und ob sie
auch individuell erfahr- und tragbar sein werden. Die greifbare, materielle Welt wird zunehmend überformt von einem Himmel immaterieller Zeichen – wo in diesem neuen Kunstraum platzieren wir unsere Gefühle und wie werden wir uns ohne die gewohnte Visualität orientieren und erinnern können? Die Angst, die Kontrolle zu verlieren, die Angst, dass die Dinge uns entgleiten, sich gegen uns wenden: derartige mentale und psychische Zustände thematisierte Nanna Hänninen in den Werkserien dieser konzentrierten, fast rein-weissen Bilder, die sowohl Unschuld wie auch Unendlichkeit, Urgrund und auch Ortlosigkeit suggerieren und dabei modellhaft Bausteine der Welt befragen.

Nanna Hänninens Gang in den künstlichen Fotoraum formulierte sich nahe am Nullpunkt des fotografischen Bildes. Es war deshalb zu vermuten, dass dieser geschlossene Raum eines Tages aufgebrochen würde. Die Art und Weise, wie das nun in den neusten Arbeiten geschieht, verblüfft auf den ersten Blick: Nanna Hänninen steht zwar wieder draussen und blickt in die Welt hinaus, sie fotografiert an benennbaren geografischen Orten – in Basel, bei der Brooklyn Bridge in New York, am Flughafen von Ponta Delgada, am Hafen von Helsinki, auf der Autobahn A5 –, doch die Resultate dieser realen Betrachtungen muten abstrakter denn je an. Nanna Hänninen ist da, konkret, in Zürich, in Manhattan, in Irgendwo – selber unterwegs oder still beobachtend, jedenfalls real existierend. Und sie zeichnet auf, seismographisch, und zwar das Wechselspiel zwischen den Bewegungen der Realität vor ihren Augen und ihrer eigenen Welt, ihren Bewegungen, ihrem Atmen und Lachen, ihrem Innehalten. Dieses neue Unternehmen kreuzt und katalysiert sich durch eine Grossformatkamera, eine 4x5inch-Plattenkamera, die Nanna Hänninen nicht, dem Gewicht und der Grösse angemessen, auf ein Stativ stellt, sondern in der Hand hält. Sie stellt die Kamera nicht still, sondern setzt sie Bewegungen aus. Daraus ergeben sich Kreuzungen von Innen- und Aussenbewegungen, Parallelereignisse werden gemeinsam notiert, der Herzschlag der Welt und der Herzschlag von Nanna Hänninen mischen sich in der Kamera. Wir folgen dem Pulsieren, der Rhythmik sich kreuzender Energien und sehen Ausfällungen aus den Begegnungen der Künstlerin mit der Welt. Das Fluidum der Welt und das Fluidum ihres Lebens treffen sich in einem bestimmten Augenblick, fällen aus, schlagen sich wie ein chemischer Niederschlag auf dem Film nieder. Als Spur, als Erinnerung, als Protokoll von Ereignissen und ihrem Aufeinandertreffen.

Wir begegnen also höchst abstrakten Fotografien, die mit ihren halbdurchscheinenden, ungreifbaren Hintergründen und den zeichnerischen Wellenbewegungen – den davor sich abwickelnden, ausdehnenden oder zusammenknäuelnden Linien, oder den Farbflächen und Farbclustern – in der Malerei auf das Informel verweisen, auf das ungenormte, pulsierende (Aus-)Fliessen der Malerei in den fünfziger Jahren, und die in der Welt der Apparate, Messgeräte, Kameras an Kurvenverläufe erinnern, an Aufzeichnungen von Erdbeben, Herzstössen, von Blutdruck oder Druckwellenverläufen und ihrer Darstellung auf Displays. Gelassene Linien erinnern dabei an die Kartographisierung von Landschaft, an die präzisen, mal geschwungener, mal kantiger verlaufenden Höhenlinien. Auf der Autobahn wiederum sind die Linien ineinander drängender, dichter, sich auftürmender. Die schnelle Bewegung vorwärts ergibt je nach Geschwindigkeit ein Stocken, ein (explosives) Aufladen der Energien, als würden wir in einen aufschäumenden Farbberg hineinrasen, der sich immer weiter verdichtet, ja magnetisiert. Die Perspektive scheint zu implodieren, scheint sich hier selbst zu überholen. Andere Linien spielen mit Leichtigkeit mit unserer Wahrnehmung, hüpfen wie Seepferdchen figurativ übers Feld und lösen sich auf.

Wir folgen diesen Kurven, diesen Linien, Gittern, Knäueln, Fangnetzen, Aufhängungen, erleben sie vor dem scheinbar erleuchteten Hintergrund als abstrakte Landschaftszeichnungen, die uns immer wieder an Musik erinnern – als spiele hier ein Orchester, als fände ein Zusammentreffen vieler Stimmen und Klänge statt, das wir am Regiepult verfolgen, ein bewegtes Notat der Ereignisse und Zufälle und Zu(sammen)fälle der Welt, ein rhythmisches Energieprotokoll, das Seismogramm der Stadt, des Lebens.

Nanna Hänninen wird also auf ihrem Weg aus dem künstlichen Fotoraum in die Welt hinaus und trotz Einbezug ihrer eigenen Befindlichkeit, ihres Standpunktes beim Fotografieren visuell noch abstrakter, reduzierter als vorher. Sie konzentriert sich auf diese Schnittstellen zwischen Subjekt und Objekt, Aussenwelt und Innenwelt, zwischen real Vorliegendem und Empfundenem, sie spielt mit der Mischung aus Ausfluss und Einfluss und legt uns ein visuelles Protokoll vor, das abstrakt erscheint, aber von den konkreten Ereignissen, von Zusammentreffen geladen ist. Die Linien erscheinen künstlich-fiktiv und sind doch reale Spur, konkreter Niederschlag. Bei diesem Vorgehen arbeitet sie meist mit der fotografischen Negativform, sie kehrt das gewohnte Bild um – was leuchtend war, erscheint nun dunkel, während der dunkle Hintergrund so hell wie ein Bildschirm, wie eine durchleuchtete Membrane erscheint –, und dadurch entfernt sie sich von bekannten Wahrnehmungen, verfremdet sie, entrückt die Welt, lässt sie wie eine elektronische Darstellung, ein Display mit Tiefe (was Displays in der Regel nicht auszeichnet) erscheinen. Und gleichzeitig atmet Nanna Hänninen, lacht sie, bewegt sie sich oder hält inne: Das Bild wird also nicht ruhig gestellt, wie Fotografie es meist versucht. Das Bild atmet mit ihr. Wird gezogen, verwischt, als ziehe sie der Welt ein Bild ab. Es entsteht dadurch eine Fotografie, die zugleich von der Welt und von Nanna erzählt, die abstrakt, entrückt und merkwürdig konkret und real ist.

Das was inhärent in jeder Fotografie da ist, doch oft mit grossem Aufwand zum Vergessen gebracht wird (je kürzer die Belichtungszeit und je grosser die Schärfentiefe ist, desto grösser die Brillanz des Bildes, die uns den Träger und den Herstellungsprozess vergessen lassen), wird in ihren neuen Landschaftsbildern zum Werkzeug, um verschiedene Schnittstellen zu visualisieren: diejenigen zwischen Bildträger und Bildinformation, zwischen realer Welt und ihrem (mathematischen, musikalischen, analogen und digitalen) Bild, zwischen Abstraktion und Figuration, zwischen Aussenbetrachtung und teilnehmender Betrachtung, zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Individuellem und Allgemeinem. Hänninen löst in diesen Visualisierungen die alte philosophische Frage, ob die Wand auf den Finger oder der Finger auf die Wand drückt, auf: Sie führt uns die Welt als Zusammentreffen, als Kollisionen von Energiefeldern vor, als permanente, unaufhebbare und wechselseitige Verwicklungen zwischen dem Ich und der Welt – auch zwischen dem Betrachter und dem Werk. Verlässliche Standpunkte sind fortan jene, die in Bewegung sind. Aus Statik wird Dynamik. Das Ungreifbare wird vertrauter als das Greifbare. Das Ahnen setzt sich zum Wissen, das Erfahren zum Denken dazu. Aus Denkbildern werden nun auch Erfahrungsbilder, die uns von der Fragilität des Zusammenspiels und von seiner Permanenz, seiner Unausweichlichkeit zu erzählen scheinen.