Oktober 2018  /  Pendulum – Moving Goods. Moving People

Das Leben als Wettlauf

English Version: Life in the Fast Lane →
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«Der Mensch wird das Unendliche nicht durch die Maschine, sondern durch sich selber erobern. (...) Das wahre Getriebe sind wir, die industrielle Maschine ist nur seine Karikatur. Wir legen das Sein ab, zugunsten der von Tag zu Tag wachsenden Zahl der Dinge.»

Saint-Pol-Roux

 

Die Welt heute ist ein Angriff auf Gedächtnis und Schwerkraft. Alles scheint in Bewegung. Businesspläne haben eine kurze Verfallszeit. Es wird erfunden, entwickelt, produziert, transportiert, verkauft, dann diversifiziert, abgestossen, wieder aufgekauft, umbenannt, verlagert, das Management ausgewechselt, und schliesslich wird fusioniert. Anschliessend beginnt das Spiel von neuem, mit erhöhter Geschwindigkeit, erhöhtem Risiko und Gewinnpotential.

Jahrhunderte lang nahmen die Ereignisse einen gemächlichen Verlauf. Man nahm sich die Zeit, die Zeit selbst brauchte Zeit, die Dinge sollten reifen, wie ein Wein, wie die Heilung einer Krankheit. In der Moderne wird diese Naturzeit von der Menschzeit, dann von der Maschinenzeit abgelöst, in der die Ereignisse immer schneller werden, sich rasch ablösen, sich gegenseitig pushen, «auf dem Weg zu einer Nonstop-Gesellschaft» (Aurel Schmidt). Der Zeiger auf der Uhr schlägt die Sekunden, die Minuten seit Jahrhunderten im gleichen Tempo, aber der Herzschlag pulsiert härter, der Blutdruck steigt, die Kraft der Bewegungen, die pro Zeiteinheit erfolgen, erhöhen sich, Maschinen hämmern nonstop, 24 Stunden pro Tag, ohne zu ruhen, ohne zu klagen. Der Output der Industrie beschleunigte sich über Jahrzehnte, nur noch übertroffen von der gigantischen Explosion von Rechnerleistungen, Datenübertragungen, von Datenvernetzungen.

«Die Geschwindigkeit», schrieb der visionäre französische Dichter Saint-Pol-Roux in den 1910er bis 1930er Jahren, wird zur «Identität des Fortschritts», «die Maschine ist die Masturbation des Menschen», die mechanische Geschwindigkeit ist «der Wahnsinn in Zwangsjacke.» Und: «Seit dem Aufkommen der mechanischen Geschwindigkeit ist die Menschheit stehengeblieben.» Die Geschwindigkeit, gekoppelt mit der Nichterfüllbarkeit der Heilsversprechen, mit dem immerwährenden Einlaufen neuer Bilder, neuer Versprechen, neuer Produkte, wird zum alles verschlingenden Zaubermotor des Kapitalismus. Ein ewig blinkendes «schwarzes Loch» auf Erden.

Je weiter die Standorte von Produktion und Verkauf auseinandergezogen werden, desto grösser ist in der Regel der Gewinn. Die Zeitspannen verkürzen, die Wegstrecken verlängern sich. Dazwischen stampfen riesige Frachtschiffe hin und her, schwimmende Containerstädte, die allein durch ihre lange Fahrt Schneiderarbeit für 2 Euro in Kleider für 2‘000 Euro verwandeln. Ist die Ware verderblich, werden Flugstrassen und Kühlketten eingerichtet. Im Verlaufe der Fahrt wettet die Börse pausenlos für und gegen die Schiffe, die Ware, als sei die Welt ein Spiel, ein ewiges, nie Enden wollendes Rennen. Die Entfernungen von Planungs- und Entwicklungsort, Produktions-, Verkaufs- und Gebrauchsort entsprechen der Entfremdung anonymer Gesellschaften, Kapital- und Finanzgesellschaften von den Bedürfnissen realer Menschen, konkreter Arbeiter.

Wir alle partizipieren an diesem Kreislauf, die einen mit Gewinn und Verlust, die anderen mit mühseligen oder heiteren Fahrten zur Arbeit. In beiden Feldern werden die Geschwindigkeit und die Erwartungshaltung seit Jahrzehnten immer weiter angetrieben, wir beschleunigen die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse seit Beginn der Industrialisierung in schwindelerregende Höhen, wir erhöhen die Ansprüche, das Verlangen, wollen vor anderen, ja vor uns selbst ankommen. So wenig Zeit wie möglich im grösstmöglichen Raum, so wenig Aufwand mit grösstmöglichem Gewinn, das sind die Parameter für den grossen Triumph.

Nur in einem Bereich verlangsamen wir, suchen wir zunehmend den Stillstand: in der Migration. Obwohl wir wissen, wie stark die Verführung durch die Werbung wirkt, wie die kolonialen Verbrechen nachhallen und wie tief sich überall mögliche Gewinnmargen in Köpfe eingraben. Die lokalen und weltweiten Verlierer der Moderne werden radikal ausgebremst. In der Ausstellung stehen sich die grosse Motorenkraft, die immense Beschleunigung, das Fetischisieren der Fahrmittel und das heftige Ausbremsen, Verlangsamen, Stoppen von Menschen, von Migranten gegenüber. Der «Psychomotor» von Markowitsch », Doisneaus Renault-Fotografien, Edgar Martins BMW-Paint-Shop, Mulas Rennwagen und Luciano Rigolinis dreiteiliger Autofetischtempel prallen am Ende der Austellung auf eine Mauer auf, auf die komplexen Installationen von Ulrich Gebert und Xavier Ribas zum Thema der Migration, des Nomadentums. Die diametral verschiedenen, kontrastierenden Energien sind in diesen Bildfeldern physisch spürbar. In Ribas Arbeit schauen wir in die mit der Macht des Besitzes zerstörte Betonplatte eines ehemaligen Fabrikgeländes, damit Nomadisierende sich nicht mehr niederlassen können. In Geberts Arbeit kontrastiert die Dunkelheit, in der fahrende, migrierende Arbeiter für Arbeit anstehen, für Arbeit betteln mit der Leuchtkraft von prallvollen Orangenbäumen.

Das Pendel ist einerseits Symbol für das Vergehen der Zeit. Andererseits aber auch für das Umschlagen von Meinungen, von Standpunkten, das Verkehren von Überzeugungen, Verhaltensweisen in ihr Gegenteil. Wir sprechen von Pendelverkehr, wenn wir an die Hundertausende, die Millionen von Menschen denken, die frühmorgens ins Zentrum der Städte hinein- und abends erschöpft wieder hinauspendeln, zurück in die Schlafstadt. Es taugt auch als Sinnbild für den Verkehr, den stetigen, nie enden wollenden Tausch von Waren, gegen andere Waren, gegen Geld, gegen Versprechen. Der Physiker Léon Foucault führte 1851 mit einem langen und langsam schwingenden Pendel in verblüffend einfacher Weise vor, dass die Erde sich selbst dreht. «Und die Erde bewegt sich doch!», wie Galileo gesagt haben soll, aber nicht nur um die Sonne, wie er und Kopernikus bewiesen haben, sondern auch um die eigene Achse, wie Foucault hier veranschaulichen konnte. Dieses sich um die eigene Achse Drehen enthält im Kern die riesige Dynamik, die Menschen mit ihren Werkzeugen, Maschinen und Instrumenten seit zwei, drei Jahrhunderten auf der Welt erzeugen. Alles steht restlos, rastlos auf Start-up.

Die Ausstellung «Pendulum – Moving Goods, Moving People» führt mit zeitgenössischen und historischen Fotografien aus der Sammlung des MAST augenscheinlich vor, welche Kraft wir in die Bewegung legen, wie erfinderisch wir Schiffe, Autos, Lastwagen, Eisenbahnen, Flugzeuge und Daten entwickelt haben, um damit die Welt zu erobern und das Wirtschaften, Handeln, das Produzieren, Verkaufen und Transportieren ins Zentrum unseres Seins zu stellen. Wie wir uns selbst immer weiter und immer schneller drehen, um schliesslich in einer rasend schnellen Pirouette entweder in den Boden gebohrt oder in den Himmel gehoben zu werden.

Sonja Braas‘ Containerarbeit, Annica Karlsson Rixons Trucker-Epos, Yto Barradas Hilfsspengler-Block sprechen visuell in eindringlicher Weise vom Transportieren, Verlegen, von mobiler Ware und mobilisierten Menschen. Helen Levitt fotografiert die Befindlichkeit von Commuters in der U-Bahn der siebziger und achtziger Jahre in dichten, nahen Schwarzweiss-Porträts, David Goldblatt demonstriert in dunklen, düsteren Bildern die harten vier Stunden Busfahrt zur Arbeit und die, nach geleisteter 10-Stunden-Schicht, noch härteren vier Stunden zurück. Jacqueline Hassink porträtiert die Pendler von heute in sieben globalen Städten und visualisiert, wie jeder einzelne/jede einzelne zweifach reist, zuerst von und zum Arbeitsplatz, zum Zielort, und dann zugleich in virtuellen Reisen auf dem Handy, dem Tablet, in das ausnahmslos alle starren. Schliesslich verbindet Richard Mosse in seinem 7m 30cm langen Werk den globalen Handel mit der Migration. In seiner Arbeit «Skaramaghas», aus der Serie "Heat Maps" überziehen Hunderte von Containern ein Hafengelände. Auf der linken Seite des Bildes hält seine Wärme-Kamera, eine optische Waffe, die auf 30 km Distanz Wärmeunterschiede festhalten kann, Warentransporte des Welthandels fest, während auf der rechten Seite die gleichen Container als Wohnstätten für Migranten benutzt werden. Migranten, die steckengeblieben sind, die weder vor noch zurück können, die bangen zu erfahren, ob sie vorrücken dürfen oder zurückgeschifft werden. Das gesamte System in einem einzigen Bild.

«TRANS-port», «TRANS-mission», «TRANS-plantation» schrieb Paul Virilio, der Geschwindigkeitsforscher, der Dromologe, auf das Backcover seines Merve-Büchleins zum Thema «Revolutionen der Geschwindigkeit» (1993) und deutete damit an, dass Geschwindigkeit nicht nur eine quantitative, sondern eine qualitative Veränderung des Lebens zur Folge hat, dass man sich durchaus vorstellen darf, dass sich das Foucault‘sche Pendel irgendwann verselbständigt und plötzlich hoch- und wegfliegt, als Zeichen von grundsätzlich veränderten Parametern des Lebens.  Ganz einfach, weil sich die Balance der Energien allzu stark verändert hat. Ankunftsort unbekannt. In der Schwarzweissfotografie von Dorothea Lange beschränkt sich ein mögliches Disaster vorerst auf dampfende, verbeulte Autowracks, vor einem Lastwagen im Hintergrund, der vermutlich gerade wieder neue Autos herankarrt.