Dezember 2007

Dem Leben, den Kerben nach

English Version: Charting Life →

Zoe Leonard fotografiert und zeigt uns Fotografien. In den ersten zwanzig Jahren sind es fast ausschließlich schwarzweiße Fotografien, auf Barytpapier abgezogen, die wir zu sehen bekommen. In der letzten Zeit, vor allem durch die große Werkgruppe Analogue (1998–2007), an der Zoe Leonard ein paar Jahre lang gearbeitet hat, bis sie sie zuerst im Wexner Center for the Arts in Columbus (Ohio) und dann an der documenta 12 in Kassel vorgestellt hat, wird Farbfotografie ein ebenso ständiger Begleiter, analoge Farbfotografie, zumeist mit einer alten Rolleiflex aufgenommen und dann auf klassisches Farbfotopapier ausgeprintet oder, in kleinerer Auswahl, als Dye-Transfer-Prints gedruckt. Ihre Formate fallen nicht sonderlich auf. Die kleinsten sind etwa 10 x12,5 cm groß, die größten übersteigen 80 x120 cm oder 100 x120 cm nicht. Es ist jedoch bemerkenswert, dass Zoe Leonard in den achtziger und neunziger Jahren offenbar die breite, umfassende Blow-up-Bewegung, das Aufblasen der kleinen Negative zu Fotografien, die so groß und präsent wie Billboards sind, dezidiert nicht mitgemacht hat.

Einen Essay über das bisher rund 25-jährige, meist fotografische Werk von Zoe Leonard mit diesen Bemerkungen einzuleiten, scheint lapidar, ja banal zu sein, jedenfalls von unnötiger Redundanz. Und dennoch – diese Bemerkungen begleiten sprachlich, was Zoe Leonard jeder ihrer Fotografien mit Vehemenz zu unterlegen scheint: „Ich sehe, ich fotografiere“, „ich zeige Ihnen hier, was ich gesehen und fotografiert, und nicht, was ich erfunden habe“, „das ist es, nichts anderes!“ Diese unterschwelligen Statements „lesen“ wir mit, wenn wir Fotografien von Zoe Leonard betrachten. Über alle Themen hinweg, die sie bisher angegangen ist, schauen wir auf einen in der Regel matten oder halbmatten Barytabzug, der zuerst von sich selbst und von der Fotografie allgemein zu reden scheint. Der schwarze Negativrand, der immer mitgeprintet wird, umkreist das Gesehene, rahmt es, bestimmt es sowohl als Fragment der Wirklichkeit wie auch als Totalität des Fotografierten, des dort Gesehenen und hier Gezeigten. Die verschiedenen Unreinheiten – Kratzer im Negativ, Staubkörner im Vergrößerungsapparat –, die sich beim Entwickeln des Films und beim Vergrößern der Fotografien ergeben können, werden nicht wegretuschiert, wie das sonst üblich ist, sondern auffallend so belassen. Dadurch werden der Prozess des Fotografierens, der Entwicklung und der Vergrößerung auf die verschiedenen Arten von Schwarzweiß-Fotopapieren hervorgehoben und mitthematisiert. Der Träger des Bildes, der Bildinformation, geht nicht vergessen, er versinkt nicht, wie vor allem in blendender Werbefotografie, hinter der Brillanz des Bildes, hinter der perfekten Vergrößerung, sondern er wird gezeigt, er wird dadurch ein wahrnehmbarer, spürbarer Teil des Bildes. Als hörten wir nach Sendeschluss das Rauschen des Radios, als sähen wir das Flimmern des Videobildes, so erkennen wir in den Fotografien von Zoe Leonard durch die Bildinformation hindurch immer auch die Materialität des Bildes und das Prozesshafte des Fotografierens.

Die starke Präsenz des Trägers, des Materialen irritiert den Glanz, trübt das bloße Blenden, den Spiegel der Bildoberfläche, lässt ihn partiell matt erscheinen. Aus der fotografischen Materie formt sich das Bild heraus. Bilder von Landkarten und Stadtmodellen, Luftaufnahmen von Wasserläufen und Stadtsiedlungen, Fotografien von Modenschauen und Museumsbesuchen – die unterschiedlichsten Motive und Themen schälen sich wie Graphitzeichen aus dem Grund, teils hell, mit ausbrechenden Lichtern, teils dunkel, mit Bildpartien, die abrupt und rußig von hell ins Dunkelschwarze abbrechen. Zoe Leonard fotografiert, aber sie behandelt das fotografische Bild eher wie eine archäologische Grabungsstätte, an der Spuren, Überreste unterschiedlich genau und unterschiedlich tief freigelegt werden. Sie fotografiert, doch die Anmutung ihrer Abzüge erinnert ebenso an Kohlezeichnungen wie an lange Zeit vergrabene Bildschätze. Sie knetet gleichsam ihre Fotografie, und zwar so lange, bis Träger und Bild, Licht und Schatten, Motiv und Thema ein Amalgam werden, das zutiefst der Gestaltungskraft der Künstlerin entspringt und zugleich fast wie ein gefundenes Foto wirkt. Eine Art von formbewusstem Antiformalismus, von materialbewusster Antibrillanz, von bildbewusster Non-Standard-Fotografie scheint den Gestaltungsprozess zu begleiten und zu prägen – wohl wissend, dass jeweils erst beide Teile dieser Doppelbegriffe zusammen das Bemühen von Zoe Leonard beschreiben können. Die Suche nach Zuordnungen lässt uns Zoe Leonards Werk in einem vielleicht gewagten Vergleich als „Fotografia Povera“, eine Arte Povera der Fotografie, oder als eine Mischung aus Beuys’scher Materialbewusstheit und Minimal Art bezeichnen, die den Bildgehalt schon im Material anrührt, im Prozess sichtbar macht und ihn dann mit dem Licht zum Leben erweckt – um fürs Erste Verweise nicht in der Geschichte der Fotografie zu suchen.

Wie selten in der zeitgenössischen Fotografie – weil die Industrie mit ihren Materialien, Filmen, Papieren, Entwicklungschemikalien gewisse Standards vorgibt – erzeugt Zoe Leonard einen sehr eigenen Boden für ihre visuelle Beschäftigung mit der Welt – ohne dadurch manieriert oder historisch zu wirken. Diesen „Boden“ überzieht sie dann mit dem „Himmel“ des Sehens, mit der Halbkugel voller Fragen und Hinweise auf die Bedingungen und Bedingtheiten des Sehens. So wie sie in jeder Arbeit die Fotografie selbst und ihre Materialität thematisiert, so thematisiert sie in ihren Arbeiten oft das Sehen mit. Die beiden Porträts zu Beginn des Buches lassen sich dafür leitmotivisch verstehen. In beiden Bildern sitzen wir im Wagen, wir sind also mit der Kamera zusammen unterwegs. Im ersten Bild schauen wir einer älteren Frau auf den Hinterkopf, auf ihre verzausten Haare, wir sehen ihr zu, wie sie schaut, wie sie aus der Frontscheibe blickt, ohne dass wir selbst sehen, was sie da sieht. Das Bild ist mehrfach gerahmt, durch den Negativrand, die Einrahmung der Windschutzscheibe und durch den Rückspiegel, alles Rahmungen, die je neue, unterschiedliche Seh-Felder umschreiben. Das zweite Bild zeigt ebenfalls eine Frau, diesmal im Fond eines Wagens. Wir blicken ihr ins Gesicht. Sie hält die Augen geschlossen, schaut nach innen, kümmert sich nicht um allfällig vorüberziehende Landschaften. Zwei weitere Eigentümlichkeiten prägen das Bild: Starkes Tageslicht gleißt durchs hintere Autofenster auf den Kopf der Frau, überstrahlt ihren Hinterkopf. Ein paar Strähnen ihrer Haare drängen so in ihr Gesicht, als treibe sie das Licht von hinten nach vorne ins Gesicht. Zeichen, die sich kontrapunktisch zu unserer lebensweltlichen und fotografischen Erfahrung verhalten, die den Fluss der Wahrnehmung stocken lassen und diesen Blick nach Innen, dieses Abgewandtsein zu stützen scheinen. Das biographische Gewicht der beiden Fotos – beim ersten Porträt handelt es sich um die Großmutter der Künstlerin, beim zweiten um die Mutter – verleiht dem Thema des Sehens zusätzliche Bedeutung: Es wird existenziell festgemacht als Teil ihres Lebens, als zentrales Thema ihrer Kunst.

In vielen ihrer frühen Fotografien hebt Zoe Leonard vom Boden ab, steigt in Flugzeuge oder Helikopter und fotografiert die Welt von oben herab: die Niagarafälle, Flussläufe, Bahnlinien, Städte, Hausdächer, Grasflächen, dann – von nahe – Stadtmodelle, Stadtpläne und Landkarten. Der ungewöhnlich steile Blick von weit oben nach unten erinnert an Entdeckungs- und Aufklärungsflüge, an die Ballonfahrten im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert, an militärische Aufklärungsfotografie, mit der die Situation im gegnerischen Territorium erkundet wird, an Vermessungsfotografie als Basis für spätere Pläne und Karten. Die Atmosphärik in den Bildern schwankt vom Gefühl großen Staunens und Glücks beim Anblick von glitzernder Schönheit bis zu düsteren Empfindungen bei Bildern, die nächtlich geschossenen militärischen Überwachungsaufnahmen gleichen. Die Fotografien sind, unabhängig von ihren Motiven, Repräsentationen des Sehens, Wahrnehmens, Entdeckens, Überwachens, Repräsentationen der Fragen, wie wir sehen, aus welchen Perspektiven, welches Sehen welche Haltung spiegelt usw. Der mitbelichtete Negativrahmen setzt dem Thema seinen Stempel auf: Es wird gesehen, wahrgenommen und nachgedacht. So wie wir beim Schreiben ein Wort unterstreichen, um seine Bedeutung hervorzuheben, so wird hier unterstrichen, dass es immer ums Sehen geht, um die Frage, was wir, die Welt sehend, überhaupt begreifen können. Auf einfache und gelassen-eindringliche Weise.

Ihre Wolkenbilder, Wolkenformationen – sich auftürmende Wolken, Kumuluswolken, Schäfchenwolken –, sind durchs Fenster von Flugzeugen gesehen und fotografiert. Sie thematisieren das Rahmen (das Framing) zweimal, mit dem Negativrand des Filmmaterials und mit den Trapezen der Fenster, die wie verzogene Linsen wirken, wie doppelwandige Blenden, die den Blick ins Fluidum des Himmels ermöglichen, in dem sich Wolken formieren und auflösen, in die Welt der flüchtigen Konfigurationen an der Grenze von Figuration und Abstraktion, von Ausfällung und Auflösung. Diese vorbeischwebenden Wolken aus dem fliegenden Flugzeug heraus fotografieren – das löst den traditionellen Standpunkt, Wissenspunkt, Ausgangspunkt auf und versetzt das Subjekt der Aufnahme und der Betrachtung in Bewegung. Ein visueller (Einstein’scher) Relativismus scheint sich in diese Fotografien einzuschleichen.

Die steilen Aufsichten von Zoe Leonards Luftaufnahmen erinnern erstaunlicherweise kaum an den russischen Konstruktivismus, an das Neue Sehen im deutschen Bauhaus, auch nicht an andere Epochen der Fotografie und des Films. Es fehlt ihren Sichten das Heroische, es fehlt der Gestus des Neuen, das Pointierte, das mit den genannten Kunstrichtungen einhergeht. Vielmehr erinnern Zoe Leonards Fotografien an das weite Feld der außerkünstlerischen, der Gebrauchsfotografie. Als seien sie gefundene Fotografien, Überbleibsel einer Handlung, einer Anweisung, einer visuellen Maßnahme zu anderer Zeit und aus anderem Grund. Einzig die Wolkenbilder beziehen sich, wohl eher unwillentlich, auf die Equivalents von Alfred Stieglitz der zwanziger und frühen dreißiger Jahre, auf seine zunehmend abstrakter werdenden Himmelsbilder, die er als Entsprechungen von Gefühlen, von inneren Wahrheiten, von Seele verstanden hat.

So wie Zoe Leonard das Sehen durch den Blick auf die Welt von oben thematisiert, so thematisiert sie die Bedingtheiten des Sehens in der Welt in ihren Fotografien in verschiedenen Museen, beim Blick auf anatomische Wachsmodelle und auf präparierte Figuren, oder beim Schauspiel (dem Stierkampf): das Schauen in Schaukästen hinein, auf zwei hängende Bärenfelle, in eine Kartonschachtel auf ein sitzendes Wachsmodell, das mit drapiertem Stoff und mit abwehrender Handbewegung sich als schamhaftes Wesen erkennen zu geben scheint. Die Sicht in die Stierkampfarena, von weit oben in der Arena hinunter in das Rund. Der Blick geht dabei in die Totale – Stier und Torero sind nur noch winzig klein auszumachen – und zeigt die Anordnung, das Zeremonielle von Architektur, Zuschauern, Kampfarena als Macht der Ordnung (und Ordnung der Macht). Der Blick aus fünf verschiedenen Perspektiven auf eine „bärtige Frau“, die präpariert und hinter Glas präsentiert wird. Der Einblick in Glasvitrinen, in denen Wachsmodelle liegen, zum Beispiel das Modell einer Frau mit offen gelegtem Oberkörper, wallendem Haar und einer Perlenkette. Die Begegnung zweier kleiner Mädchen mit den ausgestellten präparierten Affen, mit den Modellen von vormenschlichen Wesen, die neben den Entwicklungsschritten des Menschen im naturhistorischen Museum vorgestellt werden. Der kindliche Blick fällt hier auf unsere Vorstellungsmodelle der Evolution, und unser Blick fällt auf die Begegnung des Spontanen, Kindlichen mit der Ordnung des Wissens, mit den Weltentwürfen in Modell- und Präparatsform. Ein anatomisches Gesichtsmodell, die eine Hälfte des Gesichts ist aufgeschnitten, halbiert, gibt preis, die andere, die „erhaltene“ Seite, ist traurig und weint. All diese Werke – oft zu kleinen Serien von Bildern mit verschiedenen Perspektiven gruppiert – werden von den Fragen begleitet: Wer schaut, wozu, wer hat das in wessen Auftrag so installiert, so arrangiert? Es sind die Fragen nach der Ordnung und Macht des Sehens und Wissens (Michel Foucault), nach der Geometrisierung und Vermessung von Natur, der Suche nach dem Zählbaren.

Zoe Leonard zeigt uns oft Vitrinen, Kästen oder Schaufenster, unterschiedlich große Kleinbühnen des gesellschaftlich Normativen und der wissenschaftlichen Macht. Hier konkurrieren die geometrischen metallenen Formen der Vitrineneinfassungen mit den weichen natürlichen Formen des Ausstellungsgutes. Es baut sich durch den spezifischen Zugriff in den Fotografien ein Gegensatz von weich und hart, von natürlich und konstruiert, von geometrisch und figurativ auf, es formt sich eine Art von visuellem Kontrast, von „Aggressionsgefälle“ zwischen der Installation und der installierten Natur.

In den beiden Spiegelbildern – Fotografien von opulent gerahmten Spiegeln vor seidener Tapete – kulminiert das „Sehen“ als Thema. Als explizite, ausladende Instrumente des Sehens und Versehens werden sie zum Symbol. Während ein Lichtschein auf die Spiegel, ihre Umrahmungen und auf die Tapete fällt und die Vergoldungen erstrahlen lässt – der Lichtkegel auf der Tapete rahmt die Spiegel und verwandelt sie so in begehrliche Objekte –, verhindert das leichte Wegdrehen der Spiegel eine erfolgreiche Spiegelung, eine direkte, „weiterführende“ Sicht. Vielmehr wird der Blick ins Abseits gelenkt, der Spiegel trübt ein – das Sehen gibt sich hier als feierliche, aber auch komplexe, gebrochene und abgründige kulturelle Handlung zu erkennen.

Im Spannungsfeld von fotografischer Materie und fotografischem Tun (von Sehen und Festhalten) entwickelt Zoe Leonard mäandernd ihre Themen: der Blick von oben auf die Welt als Körper, mit Adern, Straßen, Flussläufen, Kaugummispuren, auf die Welt als Modell, als Vorstellung, als Plan. Der Blick auf das Verhältnis der Geschlechter (auf merkwürdige Geräte und Instrumente, auf Kleider und Wortkritzeleien, auf das weibliche Geschlecht im Kontext männlicher europäischer Malerei), der Blick auf das Verhältnis von Kultur zu Natur, auf die Jagdtrophäe als (schäbiges) Zeichen des Sieges, der Überlegenheit, auf den Kampf der Stadtbäume zwischen Natur und Kultur, das Eindringen in die Natur: das Nest als fragiler und exponierter Ort der Fortpflanzung, die Jagd als Nahrungssuche, als Ringen mit der Natur, das Blühen und Vergehen.

Gleitet unser Blick durch die verschiedenen Aerials, durch Zoes Luftaufnahmen, hinunter auf die Welt, dann sitzen wir wie in einem Aufzug, einem Ballon, einem Kleinflugzeug, das der Wind mal weit nach oben treibt, bis die Welt an Konkretheit verliert, abstrakt wirkt, als sei sie bloßes Zeichensystem, oder mal tief nach unten drückt, als würden wir gleich landen, als könnten wir die Grasbüschel beim Vorbeifliegen mit der Hand greifen, wenn wir uns nur weit genug aus dem Fenster lehnen. Dann kippt der Blick, wir scheinen in Schräglage nach unten zu blicken. Aus unterschiedlicher Distanz und Balance schauen wir hinunter auf die verführerische, brisante Mischung aus glitzernder Schönheit und wogender, zischender Gewalt der Niagarafälle, in diese gigantische Kerbe der Erdkruste, in die das Wasser einschießt und das Touristenboot zum Spielball macht. Dann auf die Verkehrswege, die Streifen, die die Bahnlinien über den Erdball ziehen, diese Gitter und Schlaufen moderner Urbanität, die rechtwinklig das Arbeiten und schlaufig das Wohnen, das Sein und Sich-Bewegen ordnen. Hinein in die vulkanische Glut der nächtlich erleuchteten Straßen in Paris, in die Energie- und Verkehrslava der Maschine Stadt, hinab auch in die nachtdunklen, düsteren Linien und Narben, welche die Erdoberfläche überziehen, sie zeichnen, sich in sie eingraben, als Spuren, als Kratzer des Lebens. Spuren, die sich in den Landkarten und Stadtmodellen zu gefalteten und aufgefalteten Gravuren, zu visuellen Gedankenmodellen transformieren. Diese Bilder wirken wie pelzige Kartographie, wie gekämmtes und wieder aufgewühltes Gras, abstrakt und greifbar, entfernt und riechbar zugleich, sie überwinden den Zwiespalt zwischen Abstraktion und Figuration, zwischen Abstraktion und Greifbarkeit, sie scheinen eine neue Distanz des Sehens und Verstehens zu formulieren. Im Fall der Landkarten und Stadtpläne spielen reale Bildfläche und dargestellte Karten-Fläche ein feines Spiel miteinander, weil sie beinahe in der gleichen Ebene liegen. Und wir schauen im Licht- und Schattenwurf der Falzungen auf Repräsentationen oder Konstruktionen zweiten Grades.

Diesen Blick auf die Karten und Modelle, auf die geographischen Konstruktionen von Wirklichkeit ergänzen Zoe Leonards Fotografien von Museen, von Schaukästen, Vitrinen und ihren Auslagen, um den Blick in die Ordnung der Erinnerung, in die Geschichte und die verschiedenen Ordnungen des Wissens. Vom Geographischen, von der räumlichen Ordnung bewegen sich die Bilder zur kulturellen Sicht – verbunden mit den Fragen: Was wird aufbewahrt und konserviert, wie wird es gezeigt, wie wird mit diesem Gut umgegangen? Wer sammelt, wer ordnet, wer zeigt? Eine anatomische Wachsfigur liegt auf drapiertem Tuch in einer Glasvitrine, ihr Oberkörper ist aufgeklappt, das Gesicht ist lächelnd zurückgelehnt. Eine irritierende Mischung aus Wissen und Fühlen, aus Verstand und Sentiment, aus Klarheit und Melancholie. Lichtdurchflutet und doch düster erinnert die Figur an ein glücklich lächelndes Opfer, an ein Opferlamm. In einem anderen Foto beherrscht die gleiche Figur mit zottig hängendem Schamhaar ein Bild, das wie ein Architekturfoto wirkt, räumlich streng geordnet, als stünde die Figur in einem Treppenhaus, ihr Körper dagegen ist rund und weich. Dieser Kontrast lädt das Bild aggressiv auf, die räumliche Situation wirkt gewalttätig auf die Figur. Die „Naturdarstellung“ ist dem Denkmodell, Erkenntnismodell ausgesetzt, sie stehen hier einander fast feindlich gegenüber. Ein drittes Anatomiemodell sitzt nackt auf einem mit hellem Tuch drapiertem Stuhl, in perfekter, sich ziemender Haltung. Sie wendet den Kopf ab, verdeckt ihn mit der Hand vor möglichen Blicken, während ihr Körper nackt und freigelegt ist. Sie wird in ihrer Schamhaftigkeit zum doppelten Objekt, zum Objekt des Wissens und zum Objekt des (männlichen) Blicks. Ihre Einbettung in eine wattierte filzige Schachtel würde jeden zarten Aufschrei gegen die Macht des Wissens ersticken.

In realer, „lebendiger“ Weise tanzen Models in den Fashion-Fotografien vor unseren Augen und vor den Augen der Kameras, die sie belagern. Wir schauen auf einen verführerischen Tanz, einen Geschlechtertanz und -kampf, der in eleganter, schwungvoller, dynamischer Weise unter schweren Lüstern ausgetragen wird. Blicke kreuzen sich – wir werden angeschaut, schauen von unten unter die Röcke, sehen die Fotografen, die wie ein Rudel Wölfe am Laufsteg knipsen. Wer ist das Werkzeug von wem in dieser feingestrickten, aufgeputschten gesellschaftlichen Konstruktion?

Chastity Belt (1990/1993), Beauty Calibrator (1993) und Gynecological Instruments (1993) fokussieren auf das Thema der Kontrolle, der Maßnahme, den Einsatz von Werkzeugen zur Bestimmung von Schönheit. Der Schönheitskalibrator, ein Instrument, das Max Factor 1932 entwickelt hat, soll Schönheit anhand der Symmetrie des Gesichts und anderer Parameter am Kopf und am Nacken auf den Millimeter genau messen und bestimmen können. Frühe technische Eingriffe in den Körper, zur Gestaltung, zum Schutz, zur Kontrolle, die sowohl auf Johann Caspar Lavater und die Physiognomiker zurück – wie auf die im digitalen Zeitalter durch neue Frauen- und Weltbilder weitergetriebenen technologischen Errungenschaften hinweisen.

Zoe Leonards visuelle Gender-Diskussion erlebte ihren öffentlichen Höhepunkt an der Documenta IX, als sie sich in gender- und gay-aktivistischer Haltung entschied, im Neuen Museum in Kassel zu intervenieren: Sie ließ alle Gemälde, die nicht eine weibliche Figur darstellten, wegräumen und hängte kleine schwarzweiße Fotografien von weiblichen Genitalien befreundeter Frauen an ihrer Stelle auf die pastellenen Seidentapeten. Der Kontrast hätte größer nicht sein können: vom gemalten Bild zur Fotografie, von schweren Farben zu Schwarzweiß, von Leinwand und opulenter Rahmung zu simplen Papierabzügen, die direkt auf die Tapete aufgebracht wurden. Statt gemalter männlicher Gesichter fotografierte Vulvas von Frauen, so individuell, als zeigten sie ihr zweites Gesicht, so frei und offen, als spielten sie die ultimative Befreiung. Die Fotos waren mitten unter die weiblichen Porträts gestreut und verwandelten die tradiationell männliche Domäne der Malerei für die hundert Tage der documenta in ein „Frauenhaus“, in das Repräsentantenhaus weiblicher Sexualität und weiblichen Seins.

Strange Fruit (1992–1997) lautet der Titel einer skulpturalen Arbeit, in der Zoe Leonard getrocknete Früchte aufschneidet und sie neu zusammensetzt, zusammennäht oder mit einem Reißverschluss verschließt. Schalen, leere Hüllen von rund dreihundert Avocados, Grapefruits, Zitronen, Orangen und Bananen. Die Früchte sind präpariert – der Inhalt gegessen, die Schale getrocknet, die einzelnen Fragmente wieder zusammengestückelt –, aber sie erinnern nur wenig an die Präparate in naturhistorischen und medizinischen Museen, vielmehr gehorchen sie einer anderen Logik: Sie erzählen von ihrem Vergehen, von ihrer Aushöhlung und bieten sich als Gedankenhüllen für neue Inhalte an – während sie immer weiter verfallen, nicht in einem bestimmten Stadium fixiert worden sind, das Vergehen also porträtieren und es selbst erfahren. Das Thema der Früchte beschäftigt Zoe Leonard auch in ihrer Fotografie: in den Fotografien von Apfelbäumen, von Bäumen voller leuchtender orangefarbener oder roter Äpfel, die deshalb so glühen, weil die Bäume ihre Blätter längst verloren haben. Es bleiben der winterliche kahle Baum und seine glühenden Früchte als Bild des Vergehens, des Energiekreislaufs von Aufblühen und Vergehen, von Kraft, Vermehrung und von Zerfall. In den Fotografien von Nestern, in denen eins, zwei, drei Eier geborgen sind, umgeben von struppigem Gras – geborgen und zugleich preisgegeben, geschützt und dennoch fragil –, manifestiert sich ein Potlatch der Natur, eine Verschwendung: Die fragile „Frucht“, gelegt und geschützt, wirkt dennoch sich selbst überlassen, preisgegeben, verlassen.

Früchte anderer Art sind Tiere, die gejagt werden. Die Jagdbilder zeigen eine Welt von anderer, von größerer Kraft. Eine Tatze mit nacktem Bein, das Fell wurde entfernt, ist fast wie eine Trophäe vor glitzerndem, feierlich anmutendem Hintergrund an Schnüren aufgespannt, doch alle Zeichen in der Fotografie deuten auf den Ernährungslauf in der Natur hin, aufs Jagen und Sammeln. Ein „Opfer“ zum Gebrauch, als Teil der Notwendigkeit zum Überleben. Zoe Leonard setzte sich nach ihrer documenta-Erfahrung für zwei Jahre nach Norden ab und der Natur in Alaska aus. Der Bear Head on Ground (1996/1998), der Bärenkopf alleine auf der Erde, auf strohigem Grund, die Zunge hängt weit aus der Schnauze heraus, wird fast zum surrealen Symbolbild – der Bär hat ausgetanzt, seine Kraft, seine Macht sind gebrochen. Dann der tote Biber im Wasser, schwimmend im ruhigen, fast teilnahmslos-stillen und milchigen Wasser, vor ihm zwei Fußtritte im Schlamm, die eine Handlung und ein Machtgefälle andeuten. Schließlich die Eingeweide des Bibers: eines der wenigen expressiv wirkenden Bilder. Grell der Bauch des Bibers ohne Fell, kaltexpressiv der chirurgische Schnitt in den Bauch.

Diese „Früchte“ erzählen von einem Kampf, von einem Ringen in der Natur, so wie ihre Fotografien von einem Ringen mit dem Medium erzählen. Zoe Leonard ist eine Wiederkäuerin, eine Kneterin, eine Art Giacometti der Fotografie: Ihre Fotografie – so einfach dokumentarisch sie angelegt ist – wirkt wie aus Schlamm und Lehm geformt, lange geformt, bis sie zum Amalgam von gesehener, gedachter und gefühlter Welt wird. Fotografiert und durchgekaut, bis die Fotografie nicht mehr nur ein dokumentarisches Fragment, sondern auch eine autonome Totalität darstellt. Eine Totalität, die über die Welt, die Fotografie und über Zoe Leonard redet. Ihre Bilder von Bäumen, die mit ihren Umrandungen, mit den Zäunen, den Schutzgittern für die einst jungen Bäume, ringen, erzählen von diesem ambivalenten Kampf mit der Welt und dem sich Arrangieren mit der Welt: Baum und Schutzgitter verwachsen mit- und ineinander, werden eins, so wie das Objekt und das Erkenntnisinteresse, die Ordnung und das Wissen miteinander verschmelzen. Weiterwuchern unter gegebenen Umständen, als Gewebe aus Natur und Kultur.

Zoe Leonard fotografiert lange und viel, wenn sie sich auf ein Thema konzentriert, sie umkreist das Thema, schaut sich das Motiv von verschiedenen Seiten, aus unterschiedlichen Perspektiven an und thematisiert diese vielschichtigen Perspektiven. Dann sickern die Erfahrungen, die Bilder, die Versuche durch Sedimente von Zeit und Raum, durchlaufen eine Phase des Erdauerns, des Knetens, des Formens, des Vergessens und Wiederaufnehmens – ein Entrücken einerseits und ein Verinnerlichen andererseits –, bis sich das Thema öffnet, bis es sich anbietet. Ihre neue große Farbarbeit Analogue ist über acht, neun Jahr entstanden, wucherte wie Unkraut die Gehsteige von Manhattan, dann von Brooklyn entlang, schaute – wie einst Atget in Paris – genau und geduldig in die Schaufenster, die Auslagen, beobachtete die Firmenschilder und schuf so ein riesiges Porträt einer groß angelegten, globalen Veränderung. Eine Transformation, die Gewohnheiten erodiert, die Geschäftsgebaren hinfällig macht. Die Bilder von Zoe Leonard bewegen sich schlingernd, gruppieren sich zu Analogien, reichen vom Detailhandel in den Großhandel und tertiären Handel, den Handel nach dem Gebrauch, auf den Märkten der sogenannten Dritten Welt, sie folgen den Spuren der alten und der neuen Ökonomie, ihren verwunschenen Wegen, suchen in der sichtbaren Warenwelt die wesentlichen, die essentiellen Spuren des Warenverkehrs spürbar zu machen. Analogue ist eine Arbeit, die gleichzeitig mit der Fülle und dem Unfertigen spielt, ist eine Art gewobener Stoff, da ein Stück Gewebe, dort eines, dazwischen Leerstellen, ein Flickenteppich der Anschaulichkeit, eine Arbeit, die mit Abschweifungen operiert, die das eigene Konzept mit der Zeit transformiert, die eigene Perspektive auf dem Gang in der Welt neu shiftet, neu ausrichtet – ohne den persönlichen Faden, den eigenen Grund, die eigene Zeit zu verlieren.

Zoe Leonard folgt den Spuren, den Narben der Welt, um die Strukturen der Welt, des Lebens, die Ordnung des Sehens und Wissens wahrzunehmen und um die Essenz von Vergangenheit und Gegenwart, von Raum und Zeit, von existenzieller und gesellschaftlicher Bedingtheit zu verstehen. Alle Teile ihres fotografischen und skulpturalen Schaffens sind davon durchtränkt. Und sie hält das mit einer Fotografie fest, die subversiv hinterfragt und gelassen vorträgt, die liegen gelassen und wieder aufgegriffen wird, so lange, bis die Form des fotografischen Bildes stimmt, das heißt, bis sich Sicht, Materie und Thema zu einem Ganzen verweben, bis sie, wie Kaugummi auf Asphalt, wie das Leben im Gebrauch, beinahe verschmolzen sind.

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