September 2014  /  Kodak City (Kehrer Verlag)

Die neue Künstlichkeit
Und andere (spekulative) Gedanken zur Fotografie

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Ich erinnere mich an ein Proseminar an der Universität Zürich, das ich als junger Student mit Nebenfach Philosophie besucht hatte. Wissenschaftstheorien waren das Thema und besonders das Hauptwerk von Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions. Kuhn beschreibt darin die Entwicklung der Wissenschaft als eine Abfolge von Wechseln aus normalen Phasen und revolutionären Phasen. Sein zentraler Begriff ist das Paradigma, vereinfacht gesagt eine konkrete Problemlösung, die die Fachwelt akzeptiert hat. Ein Paradigmenwechsel beschreibt in diesem Sinne eine revolutionäre Phase der Wissenschaft, in der das Verständnis von einem akzeptierten zu einem neuen Paradigma wechselt, das in der Regel mit der alten Vorstellung unvereinbar ist. 

Was in meiner Erinnerung besonders steckengeblieben ist, ist das Bild eines Professors, der bis zu seiner Emeritierung an seinen Grundgedanken, die er einmal in seiner persönlichen Laufbahn gefasst hat, festhält und sie allenfalls ein wenig weiterentwickelt. Aber er lässt grundsätzlich andere, vor allem radikal neue, „inkommensurable“ Gedanken nicht zu. Erst mit seiner Emeritierung ist ein Paradigmawechsel in der Lehre und Forschung an seinem Institut möglich. Nimmt dieser Professor international eine führende Rolle in der Forschung an, so kann es sein, dass er sehr lange neue Gedanken blockieren kann, unbewusst oder wissentlich.

Diese Woche schliesslich las ich im Zürcher Tages-Anzeiger ein Gespräch mit dem Literaturprofessor Philipp Theisohn zu Science Fiction, Datenwolken und Techniken, die die Natur ersetzen. Darin verweist er auf H.G. Wells, den Autor der Zeitmaschinen-Novelle. Wells habe in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts rund 60 futurologische Sachbücher geschrieben, in denen er jeweils Erfindungen hochrechnete, weiterdachte. Am Ende seines Lebens jedoch erklärte er die Schriften für wertlos, weil sie weder die Weltwirtschaftskrise der dreissiger Jahre noch den Zweiten Weltkrieg oder die Atombombe hätten voraussehen können, weil sie die grossen Brüche noch nicht einmal erahnt haben. Theisohn benennt im Gespräch den Sprung oder Bruch als das Entscheidende für gute Science-Fiction-Literatur. Vielleicht ist er auch das entscheidende Merkmal für das Begreifen der Weltentwicklung.

Beide Vorstellungen nisten sich auffallend in meinem Kopf ein, als ich an Kodak oder an andere grosse Firmen, die in den vergangenen zwei, drei Dekaden gescheitert oder gar untergegangen sind, denke. Die Eastman Kodak Company hat sich über einhundert Jahre hinweg schrittweise in ein Imperium der Fotografie verwandelt. Es begann mit den ersten Rollfilmkameras – George Eastmans berühmter Werbeslogan lautete "You Press the Button, We Do the Rest" – und erlebte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den Farbdiafilmen der Kodachrome-Serie, dem Ektachrome-Diafilm, dem Farbnegativfilm, vor allem aber mit dem hochempfindlichen Trix-X-Schwarzweissfilm eine ungeheure Dominanz in der Welt, der lange Zeit kaum eine andere Firma etwas Handfestes entgegenhalten konnte. Kodak wurde zum Synonym für Fotografie, zumindest für Film und Papier. Kodak war Fotografie, war der stärkste Brand innerhalb dieser Industrie. Das Kodak-Grün hat sogar unser Farbempfinden in der Natur herausgefordert.

Dieses Kodak-Imperium hat den Schritt in die digitale Welt nicht geschafft. A.D. Coleman beschreibt in seinem Aufsatz die Geschichte dazu weit detaillierter, und Catherine Leutenegger fotografiert aufmerksam, konzentriert und ruhig, wie der Zerfall einer Grossfirma die ganze Stadt Rochester mit sich reisst. Ein einst innovatives Unternehmen hat sich im Übergang ins digitale Zeitalter verstolpert. Das Unternehmen ist zum - einige sagen arroganten - Koloss geworden, der mit Sicherheit seine Produkte schrittweise immer weiter entwickelt, qualitativ oder ökonomisch verbessert hat, der stolz war auf seine Erfolge, aber gerade deshalb die notwendigen Schritte in die Zukunft nur zögerlich tat. Kodak unternahm erste Schritte in die Digitalisierung, vertraute aber schliesslich auf seine Macht im angestammten Feld. Sicher sind viele Management-Fehler gemacht worden, doch das steht hier nicht zu Debatte, vielmehr scheint die Firma ein markantes Beispiel dafür zu sein, wie ein anstehender, bereits laufender Paradigmen-Wechsel in seiner Bedeutung verkannt oder zu spät erkannt worden ist. 

Claude Lévi-Strauss verwendet in „Das wilde Denken“ das Begriffspaar heisse und kalte Gesellschaften. Kalte Kulturen sind statisch gewordene, praktisch eingefrorene Gesellschaften, in denen kein sozialer Wandel mehr stattfindet, die so stabil sind, dass sie passiv, ja lahm werden, dass sie verknöchern. Grosse Unternehmungen laufen die Gefahr, sich wie kalte Kulturen zu verhalten, nicht mehr, wie wohl an ihrem eigenen Ursprung, als heisse, als sich ständige verändernde, sich rasch entwickelnde Gesellschaften. Mit „We Do the Rest“ revolutionierte Kodak 1889 die sich rasch entwickelnde Fotowelt, für die neuen digitalen Welten fehlten Idee und Slogan zugleich.

Anfang der neunziger Jahre war die Fotowelt noch fast gänzlich analog. Es herrschte gar die Stimmung, die Digitalisierung habe vermeintlich nichts mit ihr zu tun. Mit welcher Wucht sie sich schliesslich durchsetzte, zeigen diese Daten: 1993 wurden drei Prozent der weltweiten technologischen Informationskapazität digital abgewickelt, 2002 waren es 50 Prozent, 2007 94 Prozent und heute vermutlich mehr als 99 Prozent.  Das digitale Zeitalter wuchs kurze Zeit im Stillen heran und brach dann wie eine Flut in und über die analoge Welt hinein. Eine technische Revolution in augenscheinlicher Form, ein gewaltiger Paradigmen-Wechsel, der das Denken, Rechnen, Produzieren und Kommunizieren insgesamt umgewälzt und weiter transformiert hat.

Der Wechsel wurde in der Fotografie lange kleingeredet. „Was macht es schon aus, ob ich hinter dem Objektiv einen Film einlege oder ein digitales Back einschiebe“, lauteten oft die Kommentare von Fotografen. Aus der Sicht des Produzenten, in seinem Akt des Fotografierens, ist der Wechsel vielleicht am Allergeringsten. Ausser, dass der Fotograf nun endlos abdrücken kann, so lange seine Festplatte reicht, jedenfalls zehn- oder hundertmal mehr als bisher. Ausser, dass er das Bild sofort selbst sieht und nie mehr im Dunkeln tappt. Ausser, dass er es in „no time“ an die Redaktion schicken kann, die es bei Bedarf wiederum in „no time“ in die ganze Welt verteilt. Ausser, dass er schliesslich keine Aufträge mehr kriegt, weil vor Ort Dutzende Unbeteiligter mit ihren Handykameras ebenfalls fotografiert und die Bilder übermittelt haben. Beispielhaft dafür diese fiktive Situation: In Bagdad explodiert eine Autobombe. Per Ortung und GPS kann heute und in Zukunft herausgefunden werden, welche Smart-Phones vor Ort sind. 15 Smart-Phones haben in Sekundenschnelle nach der Explosion abgedrückt, ein Smart-Phone zufälligerweise während der Explosion, drei Smart-Phones die Lage vor der Explosion. Die Daten sind von den Geräten abziehbar und ergeben ein komplexes, visuelles Bild des Ereignisses, mehrperspektivischer als es je ein einzelner Fotograf hätte liefern können. Der Begriff des Dokumentarischen ändert sich da ebenso radikal wie die Vorstellung des agierenden Fotografen, wie der Begriff der journalistischen Fotografie. 

Zu Beginn des digitalen Einbruchs in die Fotografie wurde vor allem über die Manipulierbarkeit der digitalen Daten diskutiert. In der Pressefotografie zum Beispiel so: Der Fotograf verliert im grossen Ausmass die Autorenschaft über das Bild, weil der Bildredaktor in einer Art von Postproduktion die Fotografie auf leichte Art und Weise verändern kann. Er kann die Kontraste erhöhen, Farben verändern, akzentuieren, bis hin zu direkten Eingriffen ins Bild. Die Vorstellungskoordinaten waren damals so ausgelegt: Hier der Autor, der ehrliche Fotograf, dort die manipulierenden (Bild-)Redaktoren, allenfalls auch die manipulierenden Firmen und Politiker, um das Thema nicht nur medial, sondern auch politisch aufzuladen. In der künstlerischen Fotografie wiederum wird der Fotograf selbst zum Demiurg, der die Fotografie nach seinem Gutdünken zu einem fotografischen Bild verändern kann. 

Nun stellen wir aber fest, dass einschneidende Veränderungen der Digitalisierung sich hauptsächlich in anderen Feldern manifestieren. Dass wir uns zum Beispiel in neue Formen der Künstlichkeit hinein bewegen. Im Wechselspiel zwischen Körper und Bild vom Körper verändern sich auch unsere inneren Bilder und entsprechend die hergebrachten Grenzziehungen. Wir greifen die herkömmliche Integrität des Körpers an, greifen ein, nicht nur bei Krankheiten, vielmehr lässt uns die sich laufend entwickelnde Vorstellung des perfekten Körpers, des „Bodys“, des perfekten Gesichts weit schneller zum Messer greifen. Die Boulevard-Medien überschlagen sich mit Meldungen in der Art wie „Jede fünfte aus diesem Land, jede vierte aus jenem Land, bald auch so viele Männer wie Frauen lassen Eingriffe am Körper vornehmen“. Gerade noch nehmen wir die Eingriffe mit Verwunderung zur Kenntnis und, insofern sie sichtbar sind, mehrheitlich als Verschlechterung der natürlichen Erscheinung wahr, aber das wird sich bald ändern. Je mehr Menschen sich solchen Eingriffen unterziehen, desto stärker wird das Bild des chirurgisch veränderten Gesichts und Körpers als sexy, gewagt, als cool, als wünschbares, weil machbares neues Ideal wahrgenommen werden. Allenfalls unterlegt mit einer neuen Klassenausdifferenzierung: Wer kann es sich leisten und wer nicht?

Was geschieht hier wirklich? Wieso können Formen von Künstlichkeit in der breiten Bevölkerung so sexy werden? Das funktioniert nur, weil sich die Welt zum Bild wandelt. Weil das Bild zentraler, prägender wird als die bisherige gelebte Erfahrung, als die körperliche Realität. Oliver Wendell Holmes’ euphorische Forderung zu Beginn der Fotogeschichte, die Welt zu fotografieren, damit wir sie materielos erfahren können, und die Welt danach abzubrennen, wird schon schrittweise in der analogen, jedoch besonders in der digitalen, virtuellen, in der medialen Welt zu einer Form von «Realität». Der lange Weg von der Substanz zur Oberfläche, von der Materie zum Zeichen, schreitet in eine neue Phase. Science-Fiction-Autoren werden jubilieren: Wir schreiten fort auf dem Weg zum Transhumanen. Die – digital veränderten, geschliffenen, designten – Vorbilder schlagen zurück in die reale Natur der Körper, das Künstliche wird allmählich lebbare Form. 

In Bezug zur Architektur habe ich neulich formuliert: „Baukörper wurden über die Jahrhunderte immer filigraner, bis sie hauchdünn, bis sie transparent waren. Doch erst die Bilder entmaterialisieren die Architekturen gänzlich, entziehen ihnen die Stofflichkeit und reduzieren sie auf Form und Zeichen. Der voluminösen Materialität stehen die ultraflachen Bilder derselben Architekturen entgegen.“ Der Augensinn hat bereits im 20. Jahrhundert zunehmend die anderen Sinne dominiert, die Digitalisierung schliesslich (rest-)entsinnlicht auch das fotografische Bild. Das Alchemistische der Fotografie ist verschwunden, die Dunkelheit, der Geruch von Chemikalien, das rote Licht, die eigentliche Camera obscura. Das Bild ist ans Licht gezerrt worden, entkörperlicht, die Auszehrung hat sich seiner bemächtigt. Geblieben ist es als Datenmenge, brillant am Bildschirm anzuschauen, eine Datenmenge, die leicht gelenkt, animiert, designt und schnell flächendeckend über die Welt verteilt werden kann. Und auch schnell per Instagram oder Hipstamatic in eine nostalgische Stimmung zurückversetzt werden kann, falls der Blick nach vorne zu kühl ist. 

Die Industrie überschlägt sich mit Zahlen. 2012 seien mehr Fotos gemacht worden als in der gesamten Fotogeschichte seit 1839 zusammengezählt. Auf Facebook werden pro Tag mehr als 300 Millionen Fotografien hochgeladen. Tumblr wirbt mit weit mehr als 60 Milliarden Einträgen, mehrheitlich Fotografien. Die Geschwindigkeit, mit der die Bilder um die Welt sausen und sich umstandslos vervielfachen lassen, lässt selbst Speedy Gonzales, die einst schnellste Comic-Maus der Welt, zur Salzsäule erstarren. Was tun wir mit dieser Menge und mit diesen Geschwindigkeiten? An dieser Frage scheiden sich zurzeit die Geister.

Wir produzieren Billionen von Fotografien, stellen sie online, schicken sie mit Lichtgeschwindigkeit um die Welt – eine der grossen Möglichkeiten durch die Digitalisierung der Fotografie und der Kommunikation -, und vielleicht schaut sie gar niemand mehr an? Wir machen endlos viele Fotos, aber offenbar verschwinden doch die meisten davon in einem beträchtlichen Aufmerksamkeitsdefizit? Der Grossteil davon wird kaum mehr angeschaut, andere werden von einer Minicommunity kurz und nett begrüsst und dann abgehakt, lediglich ein Bruchteil des Bilderbergs erlangt eine bestimmte zeitlich und räumlich beschränkte Wichtigkeit, eine Screen- oder Printpräsenz, einen Platz im Privatalbum. Die meisten Fotografien vergammeln schon von der ersten Sekunde an in der Kamera oder auf dem Computer, auf den sie paketweise überspielt werden, ungeordnet, unstrukturiert. Der Augenblick der Aufnahme hingegen scheint sehr wohl wichtig zu sein, die Umstände des Bildermachens, das Produzieren der Bilder, das gemeinsame Klicken und Kichern auch, hingegen weit weniger das Resultat. Ich frage mich, ob dem scheinbar gigantischen Siegeszug der Fotografie nicht schon der eigene Kollaps, seine eigene Implosion innewohnt? Ob der anschwellende Fluss, Strom, Tsunami von Bildern und die Lichtgeschwindigkeit, mit der die Bilder um uns herumsausen, nicht den zukünftigen Gau gleichsam zwangsläufig mit bedingen, ja ihn hervorrufen? Doch geplappert wird ja auch mit Sprache. 

Welche Funktion haben diese Bilder heute wirklich? Was wollen, sollen, dürfen sie sein? Ein Grossteil davon scheint kaum mehr ästhetische Funktionen wahrzunehmen, sondern als soziale und individualpsychologische Trigger mit einer Laufzeit von 1,2,3,4, maximal 5 Sekunden zu agieren. Statt Erinnern: Fotografieren. Statt Erleben: Fotografieren. Statt Denken: Fotografieren. Statt Wissen: Fotografieren. Statt Reden: Fotografieren. Statt Lieben: Fotografieren. Statt Lesen: Fotografien. Sie kennen die Situation, in der Ausstellungsbesucher die Erläuterungstexte fotografieren, in der Meinung, sie lesen sie dann zuhause. Das Fotografieren scheint hier das ursprüngliche Erleben zu ersetzen. 

Die Digitalisierung führt in diesem Gedankenfeld einerseits zu einer Verschiebung der Wahrnehmung von Fotografie und andererseits zu einer Verschiebung unserer Handlungen mit/wegen/durch die Fotografie. Ästhetische Gesichtspunkte sind weit weniger wichtig als ereignisenergetische, als mnemotechnische, als gegenwartsarchivierende Gesichtspunkte. Diese Änderungen im Verhalten könnten die einschneidendsten Folgen der Digitalisierung der Fotografie sein. Doch die Reichweite der digitalen Revolution ist noch gar nicht wirklich abzusehen, zumindest nicht für einen Betrachter, dessen persönliche paradigmatische Fundierung und Formierung in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts stattgefunden hat (wie diejenige des Autors dieses Textes), und der deshalb weiterhin mit Erstaunen, Begeisterung, aber auch mit leichtem Frösteln auf den kühlen digitalen Bilderstrom blickt. Er freut sich aber an den nun weitaus dichter und komplexer werdenden Künstlerarbeiten zu diesem Thema.  

Heute kosten die Bildrechte für ein Familienfoto der „Brangelina-Family“ nach der visuellen Preisgabe des jüngsten Nachwuchses dreieinhalb Mal mehr als die allerteuerste Fotografie der Fotogeschichte. Mehr als 14 Millionen Dollar, gegenüber den 4,3 Millionen Dollar, die vor drei Jahren an einer Auktion für ein Bild von Andreas Gursky ausgegeben wurden. Der Gebrauchswert von Bildern siegt also heute deutlich über den ästhetischen Sammlerwert: der Gebrauch schlägt die Ästhetik. Die Fotografie ist tot! Es lebe die Fotografie!

Kodak City
Kodak City

Hardcover 20 x 24,5 cm / 160 Seiten / 89 Abbildungen in Farbe
Englisch/Französisch
ISBN 978-3-86828-462-1

Fotografie: Catherine Leutenegger
Autoren: A. D. Coleman, Catherine Leutenegger, Joerg Bader, Urs Stahel

Gestaltung: Chris Gautschi, Catherine Leutenegger