Januar 2019  /  Giorgio Wolfensberger: Foto Povera (Edition Patrick Frey)

Ein heiterer, melancholischer Tanz der Dinge

English Version: A Merry, Melancholy Dance of Things →
1/10

Giorgio Wolfensberger wurde 1945 in Zürich geboren, er ist in Winterthur aufgewachsen und 2016 in seiner geografischen und politischen Wahlheimat Umbrien gestorben. Er war nicht nur Industriefotograf, Filmer, Spezialist für Diaschauen, Kenner und Autor der Schweizer Ausdruckstänzerin Suzanne Perrottet, aussergewöhnlicher Spürhund für Fotografie in Archiven, sondern im Wesen ein Sammler und Fotograf, der mit einem siebten Sinn für die Dinge in der Welt ausgestattet war. Er scheint die Besonderheiten im Alltäglichen, die Abweichungen von der Regel, das Spiel der Gegenstände, das Humorvolle ebenso wie das Groteske im Lauf der Welt geradezu angezogen zu haben, als seien seine Augen, seine Nase, seine Finger Sonden gewesen, die mit der materiellen Wirklichkeit magnetisch verbunden waren. Im Auftrag für ein Ausstellungsprojekt oder ein Buch, beim Herumstreunen in der Stadt, Herumgondeln in der Landschaft: immer entdeckte er das Besondere im Banalen, das Eigene im Allgemeinen, das Reiche im Armen, das Seltsame in der Regel. In diesem Buch hier versammeln sich zum ersten Mal seine freien, seine künstlerischen Fotografien zu einem Panoptikum, einem bunten Tanz der Dinge.

Giorgio Wolfensberger war jemand, den man zu unterschätzen versucht war, auf den ersten knappen Blick wenigstens, wenn zuerst die hagere Gestalt ins Auge stach, das schmale Gesicht, umrahmt von wilderndem Haar, seine unsteten, suchenden Augen. Doch zum Begutachten blieb jeweils wenig Zeit, denn kaum war er da, war er wieder weg, war er angekündigt, kam er nicht, war er einmal da, überfiel er einen mit seiner enthusiastischen, leicht hektischen Art zu erzählen. Danach schlich er davon, auf weichen Sohlen, dünn, etwas fahrig und kam mit vollen Händen, prallen Säcken zurück, fand in diesem oder jenem Archiv genau die Fotografien, die wir damals am Fotomuseum Winterthur für das Ausstellungsprojekt, das Buch dringend brauchten, zusammen mit Unverhofftem, mit ein paar Überraschungen, die das Konzept bereicherten, erweiterten. Eine schlaksige, ausgedünnte Figur, die sich wie eine Liane zwischen Boden und Decke, zwischen Umbrien und der Schweiz auszustrecken schien, alleine manchmal, doch meist zusammen mit Margarete, seiner Frau. In Gesprächen mit ihm erfuhr man beiläufig, dass er ein Buch über Suzanne Perrottet, die Pionierin des Ausdrucktanzes, die Lehrerin für Ausdruck und Bewegung, veröffentlicht hatte, und nun am Nachfolgeband arbeitete, dass er nach der Lehre als Industriefotograf bei Sulzer eine Filmschule durchlaufen, als Kameramann gearbeitet, für die Behörden in Umbrien Tonbildschauen zusammengestellt hatte, und in einem Grossauftrag minutiös alle Pflanzen, auch ihre Unterarten, Artgenossen, Abarten, Metamorphosen der Region um Portofino in Form eines Fotoherbariums fotografierte. Ein aufwändiges, endloses Projekt, das zähen Durchhaltewillen verlangte.

Ja, Umbrien. Und nochmals Umbrien. Città delle Pieve, der Campo, dieser Bauernhof, der zeitweise von vielen Tieren bevölkert war, von Ziegen, Hühnern, Gänsen, Schweinen und immer auch von Eseln, der bisweilen als fruchtbarer, erfolgreicher Aussteigerhof für Drogensüchtige diente, und dessen Wände und Räume über die Jahre zu Gefässen und Stützen von zahlreichen Sammlungen wurden. Giorgio, alias Jürg Wolfensberger, war ein halb-klassischer Aussteiger der 68er-Generation. Anfang der siebziger Jahre, nachdem ein Arzt ihm zur Schonung riet, krempelte er sein Leben um. Gelebt hat er seither in Umbrien, sein Geld hat er mal hier, mal dort, in Umbrien, Zürich oder anderswo verdient. Bei Becker Audiovisuals in Zürich lernte er Walter Keller, den Verleger der Zeitschriften «Der Alltag» und «Parkett», später des «Scalo»-Verlages, kennen; eine in vielerlei Hinsicht prägende Begegnung. Durch Keller hat er zur Alltagsfotografie gefunden, die seither sein persönliches Werk so stark prägte. Mit seiner Unterstützung hat er in Umbrien angefangen, professionelle Aufträge für Fotografie anzunehmen, eine Weile lang für die meist links orientierten Regionalregierungen.

Wir lernten uns über das Buch- und Ausstellungsprojekt „Industriebild – Der Wirtschaftsraum Ostschweiz in Fotografien von 1870 bis heute“ näher kennen. Giorgio hat mich 1993 und 1994 in die Industriefotografie eingeführt, eingeweiht, mir dieses unendliche Reich von Berufen innerhalb der geschlossenen Fabrikmauern und diese wohl beste, vielfältigste, intensivste Ausbildung zum Fotografen in damaliger Zeit nahegebracht. Wir schrieben als Kuratoren zu Beginn dieser Ausstellung:

„Die Schweiz hat eine stolze Industriezeit erlebt. In den Archiven der Ostschweizer Unternehmungen lagern Hunderttausende von fotografischen Zeugnissen, die von Spinnereien, Webereien, Stickereien, von der Metall- und Maschinenindustrie, der Elektro-, Bekleidungs- und Nahrungsmittelindustrie, dem Bau von Strassen, Eisenbahnen, Kraftwerken und Fabrikanlagen berichten. Diese Fotografien lagern als Glasplatten, Blaupausen oder sorgfältige Abzüge in den Kellern der Fabriken, teils vergessen in Schuhschachteln, dem Staub und der Feuchtigkeit ausgesetzt, teils sorgfältig archiviert und in Fotoalben chronologisch geordnet. Bisher sind sie nur wenig beachtet worden. Und doch: Sie sind ein grossartiger Fundus der Geschichte unseres Landes, geben sie doch bildlich Auskunft über alle industriellen Belange, über die Modernisierung der Schweiz, die Innovations- und Produktionskraft der einst jungen Unternehmen, das Leben in den für Aussenstehende verbotenen Fabrikanlagen, die Mentalitäten in den verschiedenen Branchen, das soziale Zusammengehen oder Aufeinanderprallen von Oben und Unten, Frauen- und Männerarbeit, Freizeit und Industriedisziplin. Sie präsentieren auch das Monumentale, Grossartige der industriellen Bauten und Maschinen in der sonst kleinteiligen Schweiz.“

Ich verdanke Giorgio Wolfensberger viel von dem, was ich heute über die Industriefotografie weiss. Gemeinsam diskutierten wir uns durch die verschiedenen Themen der Industrie, der Industriefotografie und des Industriefotografen. Für eine Fotografie, der wir grosse Realitätsnähe und präzise Sichtbarmachung zuschreiben, benutzen wir Begriffe wie „dokumentarisch“, „sachlich“, „neutral“ oder „objektivierend“. Die Industriefotografie, die in der Vergangenheit mit viel Aufwand und Genauigkeit sachliche Sichtbarmachung betrieben hat, ist das perfekte Beispiel dafür. Gerade weil sie so präzis, aber auch so vielfältig war, galt die Ausbildung zum Fotografen eines grossen Industriebetriebs einst als umfassendste und interessanteste. Der Industriefotograf porträtierte zum Beispiel Arbeiter und Angestellte beim Eintritt und beim Austritt, also bei der Pensionierung. Er hatte Laufspuren und Gussfehler zu dokumentieren, also Material fotografisch zu prüfen. Er sollte einen einfachen, kleinen Gegenstand so perfekt ausgeleuchtet aufnehmen können, dass erkennbar war, aus welchem Material er geschaffen und wie er modelliert war. Das Gleiche musste ihm im Grossen gelingen, wenn er ein Zahnrad von 10 bis 14 Metern Durchmesser aufzunehmen hatte. Er wurde zum Architekturfotografen, wenn es galt, die riesigen Fabrikhallen von innen und aussen zu fotografieren. Offensichtlich stand er im Dienste verschiedener Sichtbarmachungen, registrierte, prüfte Material, übte Abläufe ein, kommunizierte und repräsentierte die Errungenschaften der Firma, die Produkte als eine Art vom Himmel gefallene Objekte, vor weissem Hintergrund, losgelöst aus dem Produktionszusammenhang.

Was immer er auch fotografierte, der Industriefotograf hatte sich, wie vielleicht in keinem anderen Feld der Fotografie, strikt an ganz bestimmte Richtlinien zu halten: Feinkörnig sollte die Fotografie sein; das Licht sollte die Tonwerte ausgeglichen und nachvollziehbar machen; Schärfe sollte das ganze Bildfeld überziehen, und alle Objekte waren möglichst unverzerrt wiederzugeben! Diese vier Elemente wurden zum Credo des Industriefotografen. Um das zu erreichen, wusste er genauestens Bescheid über alles Filmmaterial, setzte Scheinwerfer, Spiegel, weisses Papier ein, um die Werkstücke ins richtige Licht zu setzen. Störten Glanzlichter wurden die Metallteile abmattiert. Beim Entwickeln des Films, beim allfälligen Umkopieren wurde ausgeglichen, abgeschwächt oder verstärkt, später mit dem Schabemesser oder mit sehr weichem Bleistift das Negativ retuschiert. Es wurde so lange retuschiert, bis die gewünschte Brillanz, Dichte, die Durchzeichnung der hellen wie der dunklen Partien erreicht waren.

Um die gewünschte Sachlichkeit und Sichtbarkeit, eine gut durchzeichnende, scharfe und materialgerechte Wiedergabe zu erreichen, wurden also fast sämtliche Tricks der Fototechnik angewandt. Um die Neutralität der Objektwiedergabe zu erzeugen, wurde nach allen Regeln an der Fotografie „herumgedoktert". Fazit: Wir stehen vor einem Paradox. Es ging in der eigentlich sachlichen Industriefotografie offenbar nicht um einfache, dokumentarische Sichtbarmachung, sondern um aufwendige Bild-Konstruktionen. Ob ein Gegenstand vor weissem Hintergrund fast magisch fotografiert, eine Werkhalle mit glänzenden Maschinenteilen zum Schauplatz der Moderne stilisiert wird, oder ob eine Reihe von Arbeitern beim Schweissen von Werkteilen wirken, als treten sie wie in einem Theaterstück auf die Bühne: Immer wurde inszeniert, arrangiert und dann nach langer Vorbereitung ausgelöst. Das Foto wurde dabei als Ereignis, als Produktion verstanden. Es wird zum „Industrie-Standbild", zum Stillleben, ähnlich dem Film Still eines Hollywoodfilmes.

Diskussionen mit Giorgio Wolfensberger führten zu solchen Gedanken. Diese Beschreibung der Industriefotografie kommt einer doppelten Charakterisierung von Giorgio Wolfensberger gleich, seiner grossen fachlichen Kenntnisse als Industriefotograf – wir können noch heute seine Blaupausen sehen, die er als Lehrling bei Sulzer, der grossen Winterthurer Industriefirma, hergestellt hat – und seine kulturellen Kenntnisse in Sachen Industrie und Fotografie. Ein zweites Projekt, das wir gemeinsam kuratierten, war «Die Fotografendynastie Linck. Ein bürgerliches Sittenbild – Auftragsfotografie als Spiegel der Winterthurer und Zürcher Gesellschaft 1864 bis 1949». Schliesslich haben Giorgio und seine Frau Margarete Berg beim Projekt «Im Rausch der Dinge – Vom funktionalen Objekt zum Fetisch in Fotografien des 20. Jahrhunderts» für das Fotomuseum Winterthur in der Schweiz und Italien recherchiert. Dieses Ausstellungs- und Buchprojekt führte die Fotografie der industriellen Produktion in jene des Produkts über: der Erfindung, Entwicklung, Produktion, Werbung, Verkauf und der Metaphorisierung und Fetischisierung des Produkts. Es berührt ebenfalls in eindringlicher Weise das Denken und Fotografieren von Giorgio Wolfensberger.
In dieser Ausstellung (die in Koproduktion mit Thomas Seelig entstanden ist) ging es um die Gegenstände in unserer Welt und die Bilder dieser Dinge. Das heute im Sinne von «Gegenstand», «Sache» allgemein verwendete Wort «Ding» stammt ursprünglich aus der germanischen Rechtssprache und bezeichnete das Gericht, die Versammlung freier Männer. Als «Gericht» galt althochdeutsch «thing» oder «ding», mittelhochdeutsch und mittelniederdeutsch «dinc». Heute bezeichnet ein «Ding», weniger bedeutsam, eine Sache. Interessant daran ist, welch wichtiges Tun, welch gewichtiger Ort, nämlich ein Gericht oder eine Versammlung freier Männer, einst mit diesem Wort bezeichnet worden ist und wie das gleiche Wort heute, zumindest umgangssprachlich, etwas Geringes, Banales, eben ein Ding bezeichnet. Wir begegnen hier dem in der Sprache oft festzustellenden allmählichen Niedergang der Bedeutung eines Wortes, so wie aus «vrouwe» als Bezeichnung einer Herrin, einer Dame von Stand die sogenannt neutrale Nennung einer erwachsenen weiblichen Person geworden ist.

Es spiegelt sich darin jedoch auch eine Veränderung der Bedeutung, die die Dinge für uns haben. Im Mittelalter waren viele der Gegenstände nicht nur nützlich, sondern auch existenziell notwendig. Neh­men wir an, unter freien Männern ist über eine gestohlene Axt gerichtet worden, dann wurde vor dem „thing“, vor dem Gericht, über ein Gegenstand verhandelt, der das Leben eines Menschen prägte. Die Axt war einer von wenigen Gegenständen, von Hand geschaffen, die diesem Menschen „gegenüberstanden“, die ihn sein Leben lang begleiteten, ja es erst ermöglichten. Heute ärgern wir uns über den Diebstahl und gehen in den nächsten Laden, um eine neue Axt – oder doch lieber eine Motorsäge, das geht leichter – zu kaufen. Unser Bezug zum funktionalen Gegenstand, zum Beispiel zum Computer, ist rein utilitaristisch geworden: Wir benutzen ihn, in der Regel ohne emotionale Regungen. Solange er so funktional begriffen wird, ist er beliebig ersetzbar, zu jeder Zeit.

Der Welt der Dinge, der von Menschenhand geschaffenen und erworbenen Objekte gegenüber sind die Menschen immer schon ambivalent gewesen. Im 20. Jahrhundert und besonders in seinem letzten Viertel wandelt sich unser Verhältnis zu den Dingen fundamental. Die Naturalie, das wertvolle, existenzielle Ding wurde neu von industriell gefertigten Dingen, von Massenprodukten abgelöst. Die Massenproduktion demokratisiert den Besitz von Gegenständen, macht sie für viele erschwinglich, das geschieht aber um den Preis, dass sie nicht mehr gewachsen, keine Unikate, keine „Herzensangelegenheit“ mehr sind, vielmehr die verlorene Aura mit dem Glanz der Neuheit ersetzen müssen.

Giorgio Wolfensberger recherchierte mit brennendem Interesse für „Im Rausch der Dinge“, das Nachfolgeprojekt zu „Industriebild“. Das Thema berührte in besonderer Weise seine Art, die Welt zu sehen. Ihn interessierte sehr stark, wie wir Menschen unsere Welt bauen, wie wir sie planen, ausführen, hinstellen und wie sie dann ein Eigenleben annimmt, sich verselbständigt, wie einzelne Elemente, Dinge wichtig werden, berühmt, berüchtigt und dann allmählich verrotten, sich verschieben, auflösen und ganz andere Bedeutungen evozieren. Ihn beschäftigte die Welt in einer Weise, als würde er von einem sprachlichen Satz die obere Hälfte der Buchstaben abschneiden, so dass wir mit der unteren Hälfte zufrieden sein, an der unvollständigen Hälfte erahnen müssen, was einst gemeint war und was schliesslich daraus gemacht worden ist. Diesen Schnitt, diese Verwandlung, dieses Verschwinden verdanken wir dem Zahn der Zeit, dem Gebrauch, der Nutzung und Umnutzung von Dingen. Dieser Schnitt entledigt das Ding von seinem Gebrauch und wandelt es in einen Gegenstand der Poetik, der Kunst, des visuellen Humors. Elemente, die wir in vielen seiner Fotografien entdecken.

Es gibt Porträts von Giorgio, die ihn zeigen, wie er mit den Fingern seiner beiden Hände einen Rahmen bildet, einen Foto- oder Filmframe, durch den hindurch er auf die Welt blickt. Er war selten konzentrierter, als wenn er so die Welt besah, selten absorbierter, als wenn er sie fotografierte, sie ins Visier nahm oder wenn er das fertige, das vorgefundene Foto als Ausschnitt aus der Welt betrachtete, als Zeichen der gebauten, der geordnet-ungeordneten Welt. Dabei interessierte ihn kaum je die neue, gerade fertig gebaute Welt, fast ausschliesslich widmete er seine Aufmerksamkeit der Welt im Gebrauch. Das gebrauchte Haus. Die ausgefahrene Strasse. Der abgebrochene Wegweiser. Die mit einem Graffiti überzogene Glasfront. Die lotterige, altersschwache Blechbox an der Hausfassade, abblätternde, verbleichende Schriften auf Hausfassaden, der vergessene, übersehene Sockel, die gemalte Wegmarke, die durch den Blickwinkel fremd, kurios anmutende Architektur.

Bilder sprechen immer eine eigene Sprache, sie regen andere Diskurse an als die körperliche Erfahrung von Architektur, von gebauter Welt, von Stadtstruktur und dreidimensionaler Gegenstandswelt. Fotografie verwandelt Volumen in Fläche, sie destilliert Materie zu Form und Zeichen. Sie akzentuiert sie, verformt sie, vergrössert, verkleinert, erhöht oder erniedrigt sie, aber kaum je wird die Welt von ihr in Ruhe gelassen. Bilder einer gebrauchten, umgenutzten, umgeformten, abgeschabten Welt – eben der Welt im Gebrauch, der Hose im Gebrauch, wie es Roland Barthes formuliert hat – verformen Verformtes ein zweites Mal, benutzen den Gebrauch, um die Welt in ein Reich von Zeichen zu verwandeln, von heiteren, witzigen, manchmal aber auch melancholischen, nachdenklichen Zeichen.

Sein mit Ausnahme seiner frühen schwarzweissen Italienbilder oft menschenleerer Blick zeigt die Welt der Dinge, der Gegenstände, die Welt im Gebrauch als Spiegelbild des agierenden Menschen, als Niederschlag des Gebrauchs, des Verkehrs, der Nachlässigkeit oder des spitzen Kommentars einer mit Figuren oder Schrift überzogenen Wand. Städtisches und Ländliches, Natürliches und Künstliches, Gebautes und Geschriebenes, Menschliches und Animalisches, Männliches und Weibliches, Vorschriften und Gekritzel, Malerei und Graffiti, Gewichtiges und Banales wurden von Giorgio Wolfensberger mit gleichem Ernst, gleichem feinen, augenzwinkernden Humor und gleicher Gelassenheit überzogen. Kaum je griff er jedoch zum Mittel und Tonfall des Sarkasmus. Er verwandelte in seiner Fotografie die dreidimensionale Wirklichkeit auf markante Weise in eine zweidimensionale Fläche, in ein Fliessblatt, das alle Zeichen der gesehenen Welt aufsaugt und sie in die gleiche Ebene eingiesst und vertraut oder unverhofft nebeneinander stellt: zu kleinen Haikus, Dreizeilern, kurzen Feststellungen, Bemerkungen, einer leicht hochgezogenen Augenbraue, einer unerwarteten und überraschenden Begegnung. Er spielte mit leichter Hand auf der Klaviatur der berühmten, absurden Metapher des Dichters Lautréamont, mit der die Schönheit eines Jünglings beschrieben wird: «Er ist schön wie das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch!». Eine Metapher, die von den Surrealisten aufgegriffen wurde. Giorgio Wolfensberger verwandelte Materie in Zeichen seiner Sichtweise, seiner Weltsicht, er generierte aus dem Banalen der Welt den Humus seiner Bilder. Alles gerinnt in seinen Fingern zu einem fotografischen Text, zu einer Art von visuellem Alphabet des Alltags, des alltäglichen Lebens und Werkens und Regulierens und Sterbens. Dabei ist es letztlich unwichtig, wo das Foto aufgenommen worden ist. Er entzieht seine Fotografie der reportierenden Referenz, der Lokalisierung – Wo? Wann? Was? –, indem er die Zeichen der Realität in kleine Kabinettstückchen transformiert. Die fast einzige sichtbare Chronologie in seinem Werk: der Wandel der Technik, von der Grossbildkamera, der Fachkamera, zur Leica, und von da zur kleinen billigen Digitalkamera der frühen Stunde, die ihn die letzten Jahre ständig begleitet hat, auch wenn die Datendichte dieser Kamera aus heutiger Sicht erbärmlich klein gewesen ist.

Seine fotografische Phänomenologie der Gebrauchswelt, des armen benutzten Gegenstandes, ist ebenso ein carpe diem wie ein memento mori. Lebensbejahend in jedem Quadratzentimeter seines Frames, und zugleich im Wissen um die Sterblichkeit aller Dinge, allen Lebens. Giorgio Wolfensberger balanciert hier wie ein schmaler, leichter, agiler Tänzer durch die Resten, die lebenden, sprechenden Überbleibsel der Welt und bietet uns seinen heiteren, manchmal melancholischen Bildkommentar dazu. Ein fotografischer Phänomenologe des Alltags, des Jetzt. Immer wieder mit dem Blick auf seine eigenen Fussspitzen als Hinweis auf die eigene Existenz, auf die Befangenheit, die Subjektivität seines ironischen Blicks. Zeigen, was der Fall ist, beim Vorbeischlendern, Vorbeifahren, aufmerksam und mit Liebe zum Leben, zur Welt. Und lebenszeitlich rhythmisiert in den Castagnara-Bildern, dem jahrelangen Beobachten des Zerfalls eines Hauses am gegenüberliegenden Hang. Danke für diesen Tanz der Dinge in der reichen Welt Deiner Bilder.