September 2000

Hybride Welten

English Version: Hybrid Worlds →

Zwei, drei Dekaden der digitalen Revolution sind vorbei. Der Eintritt ins nachindustrielle, postkoloniale Informationszeitalter ist vollzogen, hat alle Zweige der Wissenschaft und Wirtschaft, hat die Gesellschaft und das Individuum – uns – miterfasst. Definitiv. Ein Ende der technologischen Entwicklung und der globalen Verknüpfung ist nicht absehbar. «Ars electronica», das Elektronikkunst-Diskursforum im österreichischen Linz, stellte entsprechend fest: «... die Beschleunigung und Verdichtung der damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen [hat] mittlerweile ein Ausmass erreicht, das nicht länger die Faszination des Utopischen, sondern die Realität des bereits Eingetroffenen zum Gegenstand unserer Aufmerksamkeit werden lässt.»1

Und das schliesst Dolly, das berühmte schottische Schaf, mit ein, das die Cyborgs biologisch ein- und überholt hat – und selbst wieder von noch grösseren Kälbern übertroffen worden ist. Das schliesst die Globalisierung der Wirtschaft ein, die den Standort zum Wahlort, die zähe, aber verlässliche (‹Heimat› vermittelnde) Herkunft zum Mobilitätskult, die träge, schwere Immobilie in leichtes Aktienpapier verwandelt und die Entscheidungsträger und Austragenden in virtuelle Distanz zueinander entrückt hat. Im WorldWideWeb wiederum prallen die Kulturen aufeinander, pulverisieren sich mit Mausklick Wertvorstellungen, Gewachsenes, Geliebtes, amalgamieren sich zu VRs, zu Virtual Realities, zu neuartigen Webkulturen. «Wenn etwa der neueste digitale ‹Ragga›-Mix von Jamaica nach London übertragen und dann zu einem weiteren Mix nach New York weitergeschickt wird, um schliesslich innerhalb weniger Tage zurück nach Kingston und von dort auf eine Diskette und die Tanzfläche zu gelangen», dann geschieht das ohne Rücksicht auf Grenzzölle und semantische Einheitlichkeit, stellt der Migrations- und Identitätsforscher Iain Chambers fest.2 Dazu gehören auch die Massenmigration, die globale Zirkulation von Menschen und Waren, von Dienstleistungen, Zeichen und Informationen. Von überall nach überall werden Nachrichten und Waren verschoben, alles scheint permanent unterwegs zu sein.3

Der Bildschirm bietet sich dieser Entwicklung als Symbol an. Er ist das neue Fenster, das Schild, der Wegweiser von heute, das Tafelbild des 21. Jahrhunderts – er ist Informant und Agent, Sehnsuchtsportal und Seelentröster, also Symbol und Instrument in einem. Dieses sogenannte «Windows» öffnet sich nicht nach draussen, sondern strahlt nach drinnen, uns ins Gesicht, ist ein selbstleuchtender Schirm, der die ursprüngliche, direkte, sinnliche Wahrnehmung, die Aussicht auf die Welt, den Einblick in die Natur, das Berühren, Riechen und Schmecken der Substanzen kappt, der auch die Distanz zum einstigen Wahrnehmungsgegenstand geräuschlos und technologisch kühl vervielfacht und selbst die Zeichen ‹ortlos› in milchgläserner Oberfläche schwimmen lässt. 

Wir leben in einer Borderline-Situation: Wir kleben mit den Füssen am Boden und berühren den Himmel zugleich, sind hier und denken uns anderswo, sind so und beschreiben uns anderswie. Gestreckt, überdehnt sind unsere Körper, gewunden und verschlungen unsere Gedanken - freiwillig oder (mehrheitlich) gestossen, gezogen, gezwungen. Richard Sennett nennt die von der Wirtschaft geforderte körperliche und geistige Flexibilität des Einzelnen Driften, und meint damit ein zielloses Dahintreiben, das die klassische Berufslaufbahn, die freundschaftlichen und familiären Bindungen auflöst, den ‹Ort›, die Stadt, und die Kontinuität entwertet.4 Er fragt sich gar, ob nicht die Zerstörung des menschlichen Charakters eine unvermeidliche Folge davon sei: «(Dieses) ‹Nichts Langfristiges› desorientiert auf lange Sicht jedes Handeln, löst die Bindungen von Vertrauen und Verpflichtung auf und untergräbt die wichtigsten Elemente der Selbstachtung.»5 Sein Beispiel dafür ist Rico, der Sohn eines Bekannten, dessen Laufbahn und Situation er als erfolgreich und verwirrt zugleich beschreibt, verwirrt vor allem, weil ihm im neuen Tun jedes Prinzip, jede Arbeitsethik fehlt, die er seinen Kindern weitergeben könnte. Die Kinder und Kindeskinder aller Ricos und Ritas auf der Welt werden diese Formen von Zerrungen und Spannungen möglicherweise nicht mehr spüren, sie werden ohne Vorbehalte surfen und klicken, schweben und fliegen, Wohnungen und Freunde wechseln; dafür werden sie vielleicht an Bildschirm(sonnen)bränden und Stillstandphobien leiden. 

Die Situationen, die sich durch diese Entwicklung, durch die (Quanten-)Sprünge, einstellen, werden oft mit dem Begriff der Hybridisierung gefasst. Herkömmlich bringen wir den Begriff mit dem Verschneiden von Kulturpflanzen, von Apfelbäumen zum Beispiel, in Verbindung. Im Lexikon des Lycée Montesquieu, Herblay, das ich im Internet finde (wo Herblay auf der Landkarte liegt, spielt dabei keine Rolle mehr), finde ich die Erläuterung dazu: «L'hybride est un individu résultant d'un croisement entre deux individus de génotypes différents ou entre des individus d'espèces différentes. Les hybrides naturels, que l'on rencontre dans la nature, jouent un rôle évolutif important en augmentant la variabilité génétique. On produit également des hybrides de manière artificielle en mettant en contact des cellules sexuelles d'organismes de type différent.» Verschneiden wir mit Absicht, dann sprechen wir von Veredelung, geschieht es einfach so, zufällig, dann nennen wir die Mischung abschätzig «Bastard», unedles Zwitterwesen. Ein Vorgang der Mutation, der unablässig geschieht und seit alters her ‹angeregt› wird. Heute sprechen wir aber nicht nur von Hybrid-Samen, sondern auch von Hybrid-Motor, Hybrid-Architektur, selbst die altehrwürdige Post nennt eine ihrer neuen Dienstleistungen Hybrid-Post. Im aktuellen Zusammenhang nun meint «hybrid» alles, was sich einer Vermischung und Auflösung von Traditionen, von Erklärungsmustern verdankt (wie Elisabeth Bronfen ausführt6), was unterschiedliche Diskurse und Technologien, unterschiedliche Realitäten verknüpft, was durch Techniken der collage, des samplings, der Bricolage zustandekommt, auch was den Ort (als genius loci, als bedeutungsformender Herkunftsort) auflöst und ihn durch Bewegung, durch ständige Flexibilität ersetzt.

Die Übergänge von natürlich zu künstlich, von real zu virtuell, von analog zu digital, von homogenen zu heterotopen Räumen (heterotop meint hier viele sich überlagernde, sich gegenseitig ‹beobachtende› Räume in einem Raum) haben jedoch das Hybride explodieren lassen. «Heutige Kultur ist hybrid», stellt Elisabeth Bronfen fest, um dann anzuschliessen: «Wir brauchen uns nichts vorzumachen: Es geht heute nicht darum, ob wir kulturelle Hybridität für erstrebenswert halten oder nicht, sondern einzig darum, wie wir mit ihr umgehen.»7 Angesichts der Ideen und Leistungen von Gentechnologie, Neuro-Science, vernetzter Intelligenz, aber auch von Globalisierung und Neuordnung der Wirtschaft (und damit der Gesellschaft) stellt sich nun die Frage nach dem Stellenwert des Individuums in diesen vernetzten künstlichen Systemen. Ars Electronica postulierte 1998 dazu: «In dem Ausmass, in dem die Membranen unseres Körpers und Denkens von den Elementen einer vernetzten künstlichen intelligenten Umwelt durchdrungen werden, erwächst diese zu einer realen Grösse, ... [so] dass eine klare Trennung im Sinne einer Subjekt-Objekt-Differenzierung nicht länger möglich ist. Das klassische abendländische Modell des Individuums als autonome, nach innen gewandte Entität wird zugunsten einer hybriden, vernetzten Subjektivität aufgegeben...»8 Die herkömmlichen Koordinaten, vor allem die Vorstellungen von geschlossenen, nach innen gerichteten Wesenheiten – Entitäten – scheinen sich aufzulösen; die einst verlässlichen, ‹gründenden› und begründenden Einzahl-Heroen – das Ich, das Du, die Identität, die Wahrheit, das Recht, die Wirklichkeit oder auch die Nation – scheinen sich zu multiplizieren, sich in der Vernetzung zu dynamisieren. Wer ist ‹Ich›? Ich bin viele, heute die, morgen das, vielleicht, vielleicht auch nicht. Jedenfalls bin ich ein verknotetes Subjekt, vernetzt, weit entfernt von der einst postulierten Autonomie.

Was bedeutet dieser Quantensprung für unser Dasein, für unsere Wahrnehmung, unser Selbstbild, unsere Ethik? Kann das Hybride Lebensmodell der Zukunft sein, oder ist es ein zu ertragendes Übel, Leid, eine Katastrophe? Öffentlich wird noch wenig darüber nachgedacht. Richard Sennett sieht darin offenbar einige Gefahren, vor allem im psychologischen Bereich, wenn er vermutet, dass der Charakter, so wie wir ihn heute verstehen, darunter leiden wird, dass er gar zerstört werden könnte. Der deutsche Sprachraum erlebte gerade einen Intellektuellen-Streit mit dem Philosophen Peter Sloterdijk, der in seiner Elmauer-Rede Regeln für den Menschenpark sagte: «Ob aber die langfristige Entwicklung auch zu einer genetischen Reform der Gattungseigenschaften führen wird – ob eine künftige Anthropologie bis zu einer expliziten Merkmalsplanung vordringt; ob die Menschheit gattungsweit eine Umstellung vom Geburtenfatalismus zur optionalen Geburt und zur pränatalen Selektion wird vollziehen können – dies sind Fragen, in denen sich, wie auch immer verschwommen und nicht geheuer, der evolutionäre Horizont vor uns zu lichten beginnt."9 Und damit deutete Sloterdijk an, dass wir die neuen technologischen Möglichkeiten zumindest nicht im vorneherein negativ besetzen sollten. Frankreich hat eine ähnliche Auseinandersetzung mit Michel Houellebecq’s Ausweitung der Kampfzonen (Extension du Domaine de Lutte) und den Elementarteilchen (Les Particules Elémentaires) erlebt. Der jeweilige Disput entzündet sich wohl in erster Linie an der Hilflosigkeit angesichts des so gigantischen und rasend schnellen Paradigmenwechsels, den wir durchlaufen, und ist Ausdruck einer bisher weder verstandesmässig noch emotional erlebten und ‹begriffenen› Situation. 

In Amerika hingegen wird das Hybride oft als neuer Weg gepriesen, aus den alten, verkrusteten Dichotomien von Unterdrücker und Unterdrücktem, Mann und Frau, Täter und Opfer herauszukommen: Der Kulturwissenschaftler Homi K. Bhabha postuliert: «Hybridity is a gesture of translation that keeps open the question of what it is to be Indian in Britain or a gay British artist in California – not open in the facile sense of there being ‹no closure› but in the revisionary sense that these questions of home, identity, belonging are always open to negotiation, to be posed again from elsewhere, to become iterative, interrogative processes rather than imperative, identitarian designations ... an art of the interstices.»10 Salman Rushdie äussert sich ähnlich positiv: «Von einem Ende der Welt zum anderen gebracht, sind wir ‹übersetzte› Menschen. Man nimmt üblicherweise an, dass in einer Übersetzung stets etwas verlorengeht; ich halte hartnäckig an der Idee fest, dass auch etwas gewonnen werden kann.»11 Sein Roman Die Satanischen Verse biete daher «eine Sicht auf die Welt aus Migrantenaugen». Die Satanischen Verse feiern Hybridität, Unreinheit, Vermischung, die Transformation, die aus neuen und unerwarteten Kombinationen von Menschen, Kulturen, Ideen, politischen Anliegen, Filmen. Songs entspringt. Sie freuen sich über Bastardisierung und fürchten den Absolutismus des Reinen. ... Dies ist die grosse Möglichkeit, die die Massenmigration der Welt bietet. ... Die Satanischen Verse sind für Wandel-durch-Verschmelzung, Wandel-durch-Verbindung.»12 In der nachvollziehbaren Begeisterung scheint Rushdie zu vergessen, dass die Massenmigration für viele nur unter grossem Druck und Zwang stattfindet und nicht der Freiheit der Entscheidung, leider nicht dem «Liebeslied für die Bastarde in uns selbst» folgt. 

Weit eindimensionaler wirken dagegen die Bewegungen, die mit Begeisterung von ERL sprechen, von Enhanced Real Life, von Extropy (ein Begriff für den Gebrauch der neuen Technologien, um den Körper, die Intelligenz, die Psyche und das Soziale zu verbessern), von Exkarnation (der Körper wird Text, verwandelt sich in Daten) und von den Transhumanist Times schwärmen. Sie besetzen all die neuen Entwicklungen bedingungslos positiv.

Künstler hat das Hybride immer angezogen, lange bevor es sich zu einer zentralen Eigenschaft des gesellschaftlichen Lebens aufgeschwungen hat. Das Hybride schafft das Spannungspotential, in dem sich eine Arbeit entwickeln, in dem sie ihre mehrdeutige, schillernde Präsenz entfalten kann. Aber auch für sie haben sich die Fragestellungen radikal verändert. Elisabeth Bronfen veranschaulicht dies, wenn sie die Fragen der Künstler vor 1960 - «Wie kann ich diese Welt, von der ich ein Teil bin, interpretieren? Und was bin ich in ihr?» - den heutigen Fragen gegenüberstellt: «Was für eine Welt ist dies? Was ist in ihr zu tun? Welches meiner Ichs soll es tun?»13 Dennoch, die Künstler und Künstlerinnen sind vielleicht am besten fähig, uns diesen Systemwechsel nachvollziehbar, erlebbar, begreifbar zu machen. 

Katrin Freisager zum Beispiel spielt in ihrem grossen, siebenteiligen Fries mit der Grenze ins Künstliche. «Living Dolls» zeigt schöne, makellose Modelle, die auf einer hellen, genoppten Unterlage aus Schaumstoff gleichsam schweben, entschweben. Ihre spärlichen, halbdurchsichtigen, hautfarbenen Kleider reduzieren das Nacktsein, das Sexuelle, neutralisieren ‹es›. Die Struktur der Abfolge – bis auf eine Figur tauchen alle in zwei Perspektiven und zwei unterschiedlichen Konstellationen auf – löst das Einmalige, das Persönliche auf, ohne Drama, ohne Sentiment, wie ein Pulver im Wasser. Wir scheinen neuartige Medienwesen, biologisch angereicherte Cyborgs vor uns zu haben, mit einem schwarzen Wesen in ihrer Mitte, das gleichermassen fremd erscheint wie es dem Reigen menschlicher Künstlichkeit optischen Halt verleiht.

Günther Selichar richtet mit seinen «Sreens, cold», seinen Bildern von ausgeschalteten Bildschirmen, das Augenmerk auf die Verbindung der Darstellungsmittel von abbildender Fotografie mit Ideen abstrakter, radikaler Malerei, und das entlang von Reflexionen über die Präsenz und die Verfahren elektronischer Medien. Kalt, ausgeschaltet, verkörpert der Bildschirm eine kühle, stille Monochromie, heiss, also eingeschaltet, ist er der Inbegriff von Geschwätzigkeit, von eiliger und höchst sprunghafter Information. Glatte, strenge, kühle Fotografien von ebensolchen Monitoren zeigt Selichar, «interfaces zwischen Blick und Dargestelltem», wie er sagt, aber auch interfaces zwischen konkretem Gegenstand und monochromer Fläche, zwischen Präsentation der Mittel und Repräsentation des Verborgenen, zwischen Abstraktion und realnaher, synthetisierter Darstellung, zwischen sichtbarer Undurchdringlichkeit und unsichtbarer, verborgener Unendlichkeit, auf die mit einem Mausklick zugegriffen werden kann. Selichars Monitorbilder visualisieren diese Schnittstelle als blendende Untiefe.

Der Amerikaner David Deutsch thematisiert in seinen grell erleuchteten, vom Lichtkegel ausgeschnittenen «Backyards» und Plätzen in Los Angeles die Spannung zwischen der dunklen Nacht und dem grellen Licht, zwischen der passiven Situation – der ruhenden Stadt, den schlafenden Menschen, in ihren Häusern oder Mobilehomes –, und der ‹Lichtgewalt›, die von oben, von oben herab die Ruhe ‹aufreisst›. Die Trennung von privat und öffentlich wird hier fast gewalttätig, fast brutal ins Bild gesetzt, wird aufgestört, das Öffentliche durchdringt das Private. Es sind Bilder, die an Satellitenaufnahmen, an Aufklärungsfotografien, an Aufnahmen aus Polizeihelikoptern erinnern, und die mit ihrem harten Schwarzweiss das Thema der omnipräsenten Überwachung schmerzlich visualisieren.

Annika von Hausswolffs Fotografien der letzten beiden Jahre spielen mit dem Abgründigen, in rätselhaften, mehrdeutigen Situationen. Mit crime-like-Farben und grellem Blitz werden zum Beispiel Frauen in nächtlicher Umgebung gezeigt, abgewendet, mit etwas Unbekanntem beschäftigt, das von aussen (exogen) oder von innen (endogen) an sie herandringt. Den grellen Nachtaufnahmen liess sie seltsame, rätselhafte, fast surreale Innenaufnahmen folgen. Diese Bilder tragen Titel wie «Everything ist connected, he, he, he», «The Petrified Couple», «Now, you see, now, you don’t», «The best Stories are the ones never told» und zeigen eine Frau, die am Daumen lutscht, ein Paar, das übereinander liegt, «Mom and Dad», die sich wie Gliederpuppen zu einem Kreuz formen, das wohl die Geschlechts-Orte ins Zentrum rückt, sie aber züchtig, fast altmodisch, ‹puppenhaft› abdeckt. Traumhafte, beengende, manchmal auch bedrohliche Situationen, die zusammen von einem Leben erzählen, das zu verfliessen, das wegzufliessen scheint.

Hans Hemmert ist eigentlich Plastiker, Installationskünstler, aber mit seinem grossen gelben Ballon aus Latexmaterial hat er eine Reihe von Situationen kreiert, die nur fotografisch ‹haltbar› sind. Er kleidet Innenräume mit dem Ballon aus, ein Auto zum Beispiel in «Unterwegs», sein Atelier oder sein Zuhause in «Samstag Nachmittag, zuhause in Neukölln», und dann bewegt er sich, ‹lebt› er darin, für kurze Zeit nur, solange der Sauerstoff ausreicht. Aussenhaut wird dabei Innenhaut, Innenraum wirkt wie Aussenraum, wie fremder, künstlicher Raum. Die Bilder sprechen vom Fremdwerden einer Umgebung, thematisieren die Fragilität, die sich in der so stabilen ‹Heimordnung› manifestiert. Wie eine Plastikhaut legt sich der gelbe Ballon über die vertrauten Oberflächen, Materialien und Farben und verfremdet, entrückt sie, entzieht ihnen ihre Funktionalität, ihre Kraft der Sinngebung. Es entstehen künstliche, ‹space-ige› Räume.

Philip-Lorca diCorcia arbeitet mit seinen «Streetworks» einerseits das Prekäre des individuellen Daseins heraus. Er bewegt sich in Städten, fotografiert oft die Menschenmenge, hebt aber durch einen bewusst gesetzten und gerichteten Blitz eine Figur aus der Masse hervor, lässt eine Bewegung erstarren. Er schlüsselt für den Augenblick der Fotografie die ‹unförmige› Masse auf, baut ein Spannungspotential zwischen einem Einzelnen und den anderen auf, zwischen dem Weg des einen und dem Verkehr aller anderen, zwischen dem Rhythmus eines Menschen und der Beschleunigung der Masse. Durch diesen hervorgehobenen Augenblick wird das Hybride betont, das Zwittrige des Menschen zwischen Sozialwesen und Einzelgänger. Gleichzeitig thematisiert er auch das Hybride der Strassenfotografie. In seinen Bildern wird deutlich, wie sehr sie bühnenhaft, wie sehr sie immer auch gestellt, ‹gemacht› ist, weit weg von der behaupteten Authentizität.

Jörg Sasse kreiert mit seinen computermanipulierten Arbeiten – Ausgangsmaterial sind oft Amateurbilder, Fotografien von Freunden – Situationen, die den Standpunkt des Betrachters, die das Subjekt des Betrachtens verunsichern. Was sehen wir denn da vor uns, fragt sich das Subjekt, nachdem die Bilder zuerst einmal ganz vertraut wirken, als sähen wir eine Landschaft vor uns, eine Häuserfassade, eine bewegte, unscharfe Szenerie. All die Merkmale, die Ordnungsmuster, die unser Sehen bestätigen, die unser Vertrauen zu verstehen, was wir sehen, stärken, sind ‹leise›, das heisst, fein und fast unmerklich ausser Kraft gesetzt. Die Andeutungen von Perspektive erweisen sich als optische Fallen, als Sackgassen, aber sie sind noch da. Wir haben konstruierte, total künstliche Pixelwelten vor uns, die mit dem Anschein von Realitäts-Wiedergabe spielen, aber da was weglassen, dort was hinzufügen, bis eine Art von Schweben entsteht. Schwebende Bilder, die unser Raumgefühl auflösen, die neuartige Räume ‹formulieren›, die auch die Zeit in ein fast zeitloses Irgendwann versetzen. Konstruierte Bildwelten mit der Kraft zur Fiktion, zum angedeuteten Plot, zur transzendent wirkenden Untiefe.

Isabell Heimerdinger, die in Stuttgart studiert hat und seit ein paar Jahren in Los Angeles lebt, scheint durch die Nähe zu Hollywood mit dem Thema der Künstlichkeit des Films, des Filmsets, des Filmens infiziert worden zu sein. Die Serie «Working in Hollywood» zeigt Filmsets, Situationen von Aussenaufnahmen, bei denen ‹reale Stadt› mit Licht verändert, verwandelt, ‹hybridisiert› werden. Bei den «Interiors» hingegen geht sie einen anderen Weg. Sie bearbeitet Ausschnitte aus Filmen, indem sie die Personen, die Darsteller entfernt. Es bleiben die Innenräume, das für die Fiktion des Films hergestellte, konstruierte Environment, es bleibt die Hülle des Sets. Durch das Wegnehmen der Personen wirken die Filmstills zuerst wie Dokumentationen, medial verfremdet zwar und ihren Status verunklärend, oszillierend von realer Wiedergabe zu medialer Konstruktion; mit der Zeit jedoch schlägt in diesen seltsamen, leeren, düsteren und beengenden Räumen das Konstruierte, das Beabsichtigte, das Handlungsunterstützende so sehr durch, dass wir in den leeren Räumen jeder Zeit einen Plot erwarten. Mit der Bearbeitung von Filmen der neo-gothischen Art (neuerdings auch von japanischen Filmen) konstruiert sie medial zugespitzte Interieurs, die zum Schauplatz für mögliche menschliche Handlungen werden.

All diese Positionen bieten selbstredend keine Antworten auf die anstehenden Fragen, aber sie bieten Bilder an, die unser Sehen einüben, die uns über diese neuen Situationen nachdenken, sie modellhaft erleben lassen; in Fotografien, die Hybrides nicht nur darstellen, sondern selbst – stärker oder schwächer – in hybrider Weise hergestellt worden sind.

1 Website der Ars electronica, 1998

2 Iain Chambers: Zeichen des Schweigens, Zeilen des Zuhörens In: Elisabeth Bronfen, Benjamin Marius, Therese Steffen (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen 1997, S. 211- 212

3 Elisabeth Bronfen, Benjamin Marius, Therese Steffen (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen 1997, S. 14 

4 Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin 1999, S. 37

5 ebenda, S. 38

6 Siehe: Elisabeth Bronfen, Benjamin Marius, Therese Steffen (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen 1997, S. 14

7 ebenda, S. 18

8 Website der Ars electronica, 1998

9 Peter Sloterdijk, zit. nach Edo Reents, Süddeutsche Zeitung, Nr. 294, 20.12.99

10 Homi K. Bhabha, zit. nach Website

11 Salman Rushdie, zit. nach Bronfen, S. 24

12 Salman Rushdie, zit. nach Bronfen, S. 29

13 Elisabeth Bronfen, Benjamin Marius, Therese Steffen (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen 1997, S. 27

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