April 2010  /  Du 805

Im Nachhall der Ereignisse

English Version: In the Wake of Events →
<p>Rineke Dijkstra: <em>Vila Franca de Xira</em>, Portugal, 1994</p>

Rineke Dijkstra: Vila Franca de Xira, Portugal, 1994

Die Porträts von Rineke Dijkstra verlangen ein ruhiges in sie Einsehen. Auf die Extreme von grauer, blasser, verkniffener Alltagswelt und bunter, greller Medienwelt ausgerichtet, ja skaliert, sind unsere Augen bei ihren Werken gezwungen, ruhige, scheinbar einfache Bilder zu betrachten, auf kleine Veränderungen zu achten, und eine in der Reduktion auffällig feine und zugleich reiche Farbigkeit aufzunehmen. Rineke Dijkstra richtet ein minimales Blickfeld ein, in dem «es» sich ereignet, in dem «es» sich zeigt. In einer delikaten Mischung von Inszenierung und Zufall wird ein Mensch – ein Mädchen, ein Soldat, eine junge Mutter – Porträt, wird Bild, Präsenz, verwandelt sich in bildliche Gegenwart bei zeitlicher Vergangenheit. 

In diesen Settings – natürlichen oder gebauten «Landschaften» – vergleichen wir adoleszente Badende, zum Beispiel die Gesten schüchternen Heranwachsens eines Mädchens aus Osteuropa mit dem glücklosen Imitieren von übernommenen Posierregeln, dem Vorzeigen eines eingeölten, ebenso forschen wie unbeholfenen Jungenkörpers. Oder wir erkennen in den Bildern eines Mädchens, dass sich der gesamte Ausdruck des Körpers schlagartig verändert, sobald es die Füsse beim Sitzen endlich auf den  Boden stellen kann. Das süsse, linkische und schüchterne Mädchen verwandelt sich sogleich in einen selbstbewussten, keck in die Kamera blickenden Teenager. Rineke Dijkstra zeigt in ihren Bildern oft, wie die Heranwachsenden allmählich an Kontur gewinnen, wie ihre Gesichtszüge, die ebenmässig, fast wie polierter Marmor wirken, erste Spuren erhalten, erste Zeichen einer eigenen Geschichte. 

Drei Gruppen von Fotografien gehen über diese minimalen Situationen hinaus. Die Bilder von jungen Müttern, jungen Torreros und von ebenfalls jungen israelischen Soldaten auf den Golanhöhen haben ein entscheidendes Mehr gemeinsam: Wir schauen auf Porträts, die nach einem (ersten) bedeutsamen Ereignis gemacht worden sind. Junge Menschen werden danach, im Nachhall eines besonderen, eines «gewaltigen» Ereignisses fotografiert. Ein Ereignis, an dem sie teilgenommen, ein Wandel, dem sie sich unterzogen haben, eine Handlung, für die sie nun verantwortlich sind. 

Die zwei eng auf den Kopf zugeschnittenen Porträts, fotografische Büsten, die die junge Frau «Tia» direkt nach dem Gebären und fünf Monate danach zeigen, geben als Bildpaar auf leise Weise die Erholung wieder. Die Veränderungen in den Gesichtszügen sind als Massgabe der Kraft zu lesen, die Tia innerhalb des knappen halben Jahres gewonnen hat. Der Eindruck der Erschöpfung, der Ausmergelung im ersten Bild weicht einer wieder verhalten strahlenden Frau - Lebenskraft und Lebensgeister kehren allmählich zurück. 

Die Torreros sind ebenfalls Brustbilder, vor einem hellen, blass-graublauen Hintergrund aufgenommen. Sie tragen die Spuren des Ringens, des theatralischen Tanzes, zeigen wie «Tia» Anzeichen von Erschöpfung. Krawatten sind verrutscht, Jacken angerissen, Gesichter wirken müde, Augen sind leicht trüb, verschleiert, verwischte Blutspuren erinnern an den Kampf. Der Ausdruck – müder, blasser, erschöpfter oder direkter, frecher – wechselt von Bild zu Bild, von Gesicht zu Gesicht. Das Empfinden sickert durch die Haut an die Oberfläche der Fotografie wie durch eine halbdurchlässige Membrane in einem osmotischen Prozess. 

Die israelischen Soldaten, nach der ersten Schiessübung porträtiert, wirken ausgeglichener. Es war erst einmal die Probe, noch kein richtiger Kampf. Entsprechend entspannter, verwunderter, auch «forscher» werfen sie sich in Pose, stellen sich in voller Kampfmontur mit Maschinengewehr und Tarnung vor die Kamera. Der eine noch unsicherer, der zweite alltäglicher schon, der dritte präsentiert sich bereits als stolzer Soldat. In jedem Fall jedoch kontrastieren die jungen Gesichter mit der Maschinerie, die sie mit sich tragen, mit der Macht der Waffe in ihrer Hand.

Der deutsche Dichter und Denker Gotthold Ephraim Lessing verfasste 1766 die Schrift «Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie». Vorbild war ihm dabei die bedeutendste Darstellung des Todeskampfs Laokoons und seiner Söhne, die sogenannte Laokoon-Gruppe der Bildhauer Hagesandros, Polydoros und Athanadoros aus Rhodos. Die Skulptur zeigt Laokoon und seine Söhne, wie sie sich im Kampf gegen die Schlangen wehren. Lessing leitet daraus ab, wie wichtig es ist, nicht den Höhepunkt, das Extrem des Kampfes, sondern den Augenblick davor darzustellen: «Der Meister arbeitete auf die höchste Schönheit, unter den angenommenen Umständen des körperlichen Schmerzes. Dieser, in aller seiner entstellenden Heftigkeit, war mit jener nicht zu verbinden. Er musste ihn also herabsetzen; er musste Schreien in Seufzen mildern; nicht weil das Schreien eine unedle Seele verrät, sondern weil es das Gesicht auf eine ekelhafte Weise verstellet. Denn man reisse dem Laokoon in Gedanken nur den Mund auf, und urteile. Man lasse ihn schreien, und sehe. Es war eine Bildung, die Mitleid einflösste, weil sie Schönheit und Schmerz zugleich zeigte ...»

 Es ist auffallend, wie Rineke Dijkstra, die in so mancher Hinsicht ein klassisches Porträt anstrebt, weder diesen Augenblick davor, dieses Hinführen zur Klimax, noch den Höhepunkt des Ringens, des Kampfes selbst für ihre Porträts wählt, sondern den Augenblick danach, die Entspannung, Erschöpfung, nachdem der Wille sich verausgabt, der «Mensch als Wille» für Augenblicke an Handlungskraft eingebüsst hat und, obwohl «siegreich», gezeichnet und verwundet ist. Sie sucht diesen weichen, eigentlich spannungslosen Zustand. Der Porträtierte öffnet sich da, wehrt sich nicht mit starken Posen gegen das fast automatische Bildwerden. Die Wahl der Postklimax bietet Rineke Dijkstra ein Feld von feinen, «willenlosen», ergebenen Einblicken ins Menschsein. – Sie kreiert Porträts, die weder Bestätigungsrituale, noch Willens- und Siegesposen repräsentieren, vielmehr schafft sie, und das zeichnet ihr Werk aus, Erfahrungsporträts, die im Zeitalter greller Posen, schriller Schreie eine neue Form der stillen Monumentalität und der existenziellen Schönheit fassen.