2004  /  Seelig/Stahel: Im Rausch der Dinge (Steidl)

Im Rausch der Dinge
Vorwort

English Version: Ecstasy of Things →
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Das heute allgemein im Sinne von “Gegenstand”, “Sache” verwendete Wort “Ding” stammt aus der germanischen Rechtssprache und bezeichnete ursprünglich das Gericht, die Versammlung freier Männer. Als “Gericht” galt althochdeutsch “thing” oder “ding”, mittelhochdeutsch und mittelniederdeutsch “dinc”. Heute bezeichnet ein “Ding” oder bezeichnen mehrere “Dinge” eher unbedeutende oder geringe Sachen. [i] Interessant daran ist, welch wichtige, ja gewichtige Sache – ein Gericht oder eine Versammlung freier Männer – dieses Wort einst bezeichnete, und wie das gleiche Wort heute zumindest umgangssprachlich etwas eher Geringes bezeichnet. Wir begegnen hier dem oft festzustellenden allmählichen Niedergang der Bedeutung eines Wortes. “vrouwe” im Mittelhochdeutschen war lange Zeit die Bezeichnung der Herrin und der Dame von Stand, bis es heute zur “neutralen” Bezeichnung “einer erwachsenen weiblichen Person, Ehefrau” geworden und darin “wip” (Weib) abgelöst hat.[ii] Es spiegelt sich darin jedoch auch eine Veränderung der Bedeutung, die Dinge für uns haben. Im Mittelalter waren viele Gegenstände nicht nur nützlich, sondern auch existenziell notwendig. Nehmen wir an, unter den freien Männern ist über eine gestohlene Axt gerichtet worden, so wurde vor dem “thing”, dem Gericht, über ein Gegenstand verhandelt, der das Leben eines Menschen prägte. Die Axt war einer der wenigen Gegenständen, von Hand geschaffen, die diesem Menschen “gegenüberstanden”, die ihn sein Leben lang begleiteten, es überhaupt erst ermöglichten. Heute ärgern wir uns über den Diebstahl und gehen in einen Laden, um eine neue Axt – oder lieber noch eine Motorsäge, so geht's leichter – zu kaufen. Unser Bezug zum funktionalen Gegenstand, beispielsweise zum Computer, ist utilitaristisch geworden: Wir benutzen ihn in der Regel ohne Gefühlsregungen. Solange er rein funktional begriffen wird, ist er beliebig ersetzbar.

Seit sich die Malerei der Darstellung von Gegenständen annimmt – von der Darstellung religiöser Gegenstände abgesehen erstmals ausgiebig in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, in der erworbener Besitz in Bildern von Interieurs vorgeführt wird – scheiden sich die Bilder in solche, die den einfachen, kargen, notwendigen Gegenstand – einen Teller, eine Karaffe, Messer und Gabel auf einfachem Holztisch – zeigen, und in jene, die Gegenstände als Errungenschaften vorstellen, deren Fülle, ja Opulenz als Zeichen des Erfolgs und des Standesbewußtseins (eines erwachenden Bürgertums) verstehen. Der amerikanische Fotograf Paul Outerbridge hat in seiner Fotografie beide Spielarten verfolgt. Seinen Fotografien, die in gedämpftem hellen Braunton karge, einfache Interieurs im Stile der Quäker vorstellen, stehen Farbfotografien von gedeckten Tischen, Geschenktischen, von Weihnachtsbäumen in üppigster Pracht gegenüber, denen die Carbro-Farbtechnik wie durch schwere Seide einen Zug von Feierlichkeit verleiht. Hier wird offensichtlich zwischen den notwendigen und den schönen Dingen unterschieden. Mit dem Verweis auf eine dritte Spielart in weiteren Fotografien, die den Gegenständen durch ihre Anordnung eine metaphysische Bedeutung zukommen lassen. Der Gegenstand vor mir, die gegenständliche Welt als Ganzes, gibt mir zu denken, verleitet mich, über das Verhältnis von Subjekt zu Objekt zu sinnieren, und dabei kann der Gegenstand – “Aber sagen Sie, was soll das wahnsinnige Hineinstarren, erscheinen Ihnen Geister?”[iii] – durchaus auch mal allzu lebendig werden, kann sich selbsttätig oder durch die Anordnung verformen und über seine Stofflichkeit und Form hinaus in meiner Gedankenwelt Bedeutungen annehmen, so wie Theodor im Nachtstück “Das öde Haus” von E.T.A. Hoffmann einmal ein “holdes Antlitz” in einem alten öden Haus zu erblicken meint und seither auf einer Bank sitzend unablässig hinstarrt.[iv]

Die Welt der Dinge, der von Menschenhand geschaffenen und erworbenen Objekte war den Menschen immer schon zwiespältig. Je ein Klappmesser, je ein Fahrrad, je eine Weltkugel müssen genügen, solange das Messer seinen Dienst versieht – “Was brauchst du mehr?”. Zwei und mehr, gar viele gleiche Objekte zu besitzen hatte etwas Anrüchiges (außer beim passionierten Sammler). Über die Jahrhunderte hinweg war Besitz immer eine Standesfrage, ein Mann oder eine Frau von Adel, von Stand, ein Fabrikbesitzer, ein reicher Handelstreibender, die ersten erfolgreichen Bankleute wohnten reichlich ausgestattetet. Diesen Ausstattungen standen, stellvertretend für reale Situationen, das karge Leben der “Weber” bei Gerhard Hauptmann oder das mühselige Leben voller Entbehrungen in den Bauernbildern von Jean-Francois Millet gegenüber. Die katholische Kirche antwortete auf die protestantische Reformation, die nicht zuletzt eine Revolution durch Askese, eine Abwendung vom reichen, üppigen Tand im Zusammenhang der Religion war, mit fast aggressiver barocker Opulenz, als wollte sie in paradoxer Weise die freiwillige neue Kargheit, den Ikonoklasmus (die Bilderverweigerung), mit bildnerischer Fülle erschlagen.

Im 20. Jahrhundert und besonders in seinem letzten Viertel wandelt sich unser Verhältnis zu den Dingen fundamental. Michael Jakob schreibt hier in seinem Aufsatz “Zur Poetik der Dinge in der Moderne”, wie sehr die Naturalien, von der Renaissance bis zur Aufklärung privilegiert, von neugefertigten Dingen, von Massenprodukten abgelöst wurden. Die Massenproduktion demokratisiert den Besitz von Gegenständen, macht sie für viele erschwinglich, um den Preis, daß sie nicht mehr gewachsen, keine Unikate mehr sind, ihre Aura vielmehr über den Glanz der Neuheit beziehen müssen.[v] Die Massenproduktion wird von Anfang an positiv besetzt: Mit neuen klaren funktionalen, von den historisierenden Formen und repräsentativen Inhalten des bürgerlichen 19. Jahrhunderts entschlackten Gegenständen soll die Welt, unser Verhältnis zur Welt verändert werden. Überall sprießen Gestalterschulen mit hohen erzieherischen Idealen aus dem Boden. Die wirtschaftliche Situation zwischen den beiden Weltkriegen jedoch zwingt die Gestalter, mit schlichten, wenig kostbaren Materialien zu arbeiten. Dies verdeckt vorerst den sich anbahnenden Wechsel. Dieser Druck fällt in der zweiten Jahrhunderthälfte weg. Das rasche Wachsen der Wirtschaft, des Wohlstandes, der Kaufkraft des Einzelnen läßt den Kreislauf von Produktion und Konsumption anschwellen, ihn gleichzeitig größer, breiter und schneller werden. Allmählich zuerst, dann schnell und exponential verändert sich die Bedürfniskultur in eine Konsumkultur. Shoppen wird zum Hobby, das in Kontaktanzeigen als Persönlichkeitsmerkmal aufgelistet wird, Kaufsucht ist seine Schattenseite. Einkaufsläden wandeln sich zu Erlebniswelten, zu Shopping Malls, die beim samstäglichen Defilee durchforstet werden. Ein Fünftel des Gekauften wandert ungeöffnet in den Müll, vom Rest werden vier Fünftel nach einmaligem Gebrauch weggeworfen, verschenkt oder weiterverkauft, so rechnen Statistiken hoch. Bei Anbietern im Internet blinkt nach dem Anlicken der Kaufbestätigung das Angebot auf, das Erworbene auf dem gleichen Marktplatz sofort wieder zu verkaufen. Konsumrausch und Konsumzwang: Wir dürfen und müssen konsumieren. Zeitschriften bieten nicht mehr das “Ding des Monats”, sondern den “Fetisch des Monats” an. Dinge werden Kult, Lifestyle überstrahlt Welthaltung. Wir stehen mitten “Im Rausch der Dinge”.

So sehr dabei die Aufmerksamkeit und das Sorgetragen für den einzelnen Gegenstand verloren gehen, so wichtig scheinen die Dinge insgesamt für uns zu sein. Norbert Bolz weist in seinem Vortrag daraufhin, wie sehr wir mangels anderer Bedeutsamkeiten Fetische brauchen. Wir sind “fetischistische Anhänger irgendeines Dinges, einer Sache, eines Rituals, in dem sie Sicherheit wiederfinden, jene Verhaltens- und Lebenssicherheit, die ihnen die Kulturperspektive unserer aufgeklärten Lebensweise prinzipiell versagt.” Und die Menschen heute, fährt er fort, erwarten einen spirituellen Mehrwert in diesen Produkten: “ Sie wollen ein Produkt, das aufgeladen ist mit Bedeutsamkeit, eine Art Sinnversprechen, eine Art Sinngehalt, so wie früher religiöse Symbole Sinngehalt transportiert haben.”[vi] Die Trennlinie zwischen Mensch und Ding verschwimmt.

Aus dieser Perspektive schauen wir hier zurück auf das 20. Jahrhundert. Schauen auf die Dinge, Sachen, Gegenstände, Objekte, Waren, Produkte, Toys, Geräte, Maschinen, die kreativ entworfen und massenproduziert wurden. Schauen auf die Fotografien von Dingen, vom Entwurf zur Produktion, vom Verkauf zum Gebrauch, vom funktionalen zum fetischisierten Gegenstand. Der Blick fällt dabei weniger auf das liebevoll arrangierte Stilleben als auf die Auslage, das Anbieten, Anpreisen, das Vorführen und Vorzeigen von Dingen. In den Fotografien spiegelt sich der Umgang mit dem von Menschen für Menschen geschaffenen Objekt – ein Verhältnis, das in einen immer schneller drehenden Kreislauf gerät, als würden wir Ruhe und Stetigkeit nicht mehr ertragen. Die Fotografie hat dabei großen Anteil an der Vervielfältigung und Beschleunigung. Ob sie die Dinge nun schattiert zeigt, wie oft in Fotografien aus Spanien – als würde damit der Wert des Gegenstandes unterstrichen –, oder einen Silberlöffel vor das Schloß Versaille als Bildgrund stellt – weil die französische Fotografie das Ding meist in eine Landschaft plaziert, um ihm so Bedeutung zuzumessen –, oder der weiße Lichtschalter schlicht und klar, fast in puristischer Schärfe vor monochromem Grund fotografiert wird, wie so oft in deutscher oder schweizerischer Fotografie: Immer stellt die Fotografie das Ding vor, stellt es aus, heraus, hebt es hervor, preist es an. Nicht wie Fotografie sonst, die beim Klick in die Vorgegenwart fällt, Vergehendes festhält, will diese Fotografie den Dingen zur Erscheinung verhelfen, ihnen gegenwärtige Präsenz verleihen und das Versprechen der Zukunft einhauchen.

Rund zwanzig Rechercheure waren für dieses Projekt in Europa –  in der Schweiz, in Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Spanien, Holland, Belgien, England, Irland, in den skandinavischen Ländern –, in den USA und Kanada unterwegs, im Kern der westlichen Welt also, in der sich die Kette von Entwurf zu Produktion, Verkauf und Gebrauch nahtlos dokumentieren läßt. Sie sind in Firmenarchive, in Design-, Museums- und Privatsammlungen gegangen auf der Suche nach Fotografien, die sowohl in banaler, eindringlicher wie auch in besonderer, kostbarer Weise den Umgang mit den Dingen spiegeln. Aus dieser visuellen Feldforschung heraus hat sich die Struktur des Projektes entwickelt. Es ist ein Ausstellungs- und Buchprojekt über die Dinge und ihre Fotografie geworden – die Fotografie läßt die Trennung von Motiv und Bild eigentlich nur theoretisch zu –, über die Sachfotografie und ihre Sachen, über die Werbefotografie und ihre Produkte, über die private Dokumentation des persönlichen Fetischs.

Wir danken den Rechercheuren für ihre aufmerksame, neugierige, forschende Arbeit. Wir danken den über 150 Leihgebern für die Bereitschaft, ihre Bilder für dieses Projekt teilweise zum ersten Mal zur Verfügung zu stellen. Wir danken den Autoren für ihre aufregenden, reflektierenden Essays zu den Dingen im 19. und 20. Jahrhundert, zur Sachfotografie, zu grundlegenden Gedanken über das Verhältnis von Fotografie und Ding, zum Wandel der Materialien. Wir danken Martin Jaeggi, der von seiner Berliner Aussenstelle aus nicht nur die spannenden Kapiteltexte geschrieben und Essays übersetzt und lektoriert hat, sondern immer ein aufmerksamer Widerpart war. Wir danken der UBS als Hauptsponsor des Projektes und dem Kanton Zürich und dem Bundesamt für Kultur in Bern für ihre namhaften Unterstützungen.

Auf in den Rausch der Dinge!

 



[i] Duden, Band 7, Etymologie, Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. Mannheim, Wien, Zürich 1963
[ii] Ebenda
[iii] E. T. A. Hoffmann, “Das öde Haus”, in: ders., Der Sandmann; Das öde Haus, Stuttgart 1972, S. 59
[iv] Ebenda, S. 43 ff.
[v] Michael Jakob, Zur Poetik der Moderne, hier im Buch, S. XX
[vi] Norbert Bolz, Kultur und Kontingenz, hier im Buch, S. XX