Oktober 2017

Maschinenwelt & Bildmaschinen
Thomas Ruffs fotografisches Denken

English Version: Machine World and Image Machines →

So attraktiv und realnah die Fotografie ein Stück Wirklichkeit festhalten, die dreidimensionale Welt detailreich und punktgenau auf zwei Dimensionen reduzieren kann, so intensiv, aber auch ausgrenzend scheint sie, in umgekehrter Richtung, unseren Blick zu fixieren, auszurichten zu dirigieren. In der Geschichte dieses Mediums wurde unser Sehfeld derart stark vom Motiv gebannt und gefangen genommen, dass wir, vor Hunger auf mögliche visuelle Erkenntnis, auf Augennahrung starrend, kaum je über den Bildrand hinausgeschaut haben. Eine Art von optisch gefesseltem Tunnelblick installierte sich, der zwar seine Sichten, Einsichten, Durchsichten technisch von Dekade zu Dekade verbesserte, automatisierte, der die Regeln des Spiels innerhalb des Bildes, des rechteckigen Rahmens immer virtuoser beherrschte, der aber vor lauter Neugierde, Freude und Liebe zum Motiv, gepaart mit Geschäftigkeit und Geschäftssinn, kaum je links und rechts, oben und unten über das Geviert hinaus schaute, sich ebenfalls nie umwandte und sich fragte, wie stark das fotografische Bild von der technischen Entwicklung der Kameras, der Optiken und der Trägermaterialien abhängig ist und wer denn eine Fotografie unter welchen sozialen, politischen, wirtschaftlichen und medienspezifischen Umständen gemacht hatte. Umstände, die in der Regel das Bild selbst, die Fotografie und ihre möglichen Bedeutungen stark beeinflussen.

Es dauerte bis in die sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, bis eine Art von Paradigmawechsel im Betrachten und Verstehen von Fotografien stattzufinden begann, bis schrittweise die mono-okulare Fixierung durch eine systematische, kontextualisierende Sichtweise des Mediums Fotografie ersetzt, bis der Sehende, die vorgefundene Wirklichkeit, die Kamera, das Bild, der Träger des Bildes, das Erkenntnisinteresse, die Auftragslage, Nutzungsweise, die zeitlichen Umstände, also möglichst der gesamte mediale Kontext in die Bedeutung eines Bildes miteinbezogen worden sind. Wir benennen diesen Wechsel oft mit dem Begriff des linguistic turns, meinen damit die neue semiotische, medien- und ideologiekritische Betrachtung der Fotografie als ein multiperspektives, codiertes System, als eine Art von visueller Sprache, als ein komplexes, Realität wiedergebendes und zugleich Realität erzeugendes Bildsystem. 

Mit dem amerikanischen Kurator Douglas Fogle können wir den Graben, der sich in den sechziger Jahren auftat, so benennen: Der «entscheidende Augenblick», wie ihn Henri Cartier-Bresson formuliert hatte, war bis weit in die siebziger, achtziger Jahre hinein eine Leitformel für viele. Und zwar für diejenige Fraktion, die eine modernistische Sicht der ästhetischen Autonomie des Mediums vertrat, das heisst für diejenige, die Fotografie also ausschliesslich innerhalb ihres geschlossenen Rechtecks als Gestaltungs- und Wahrheitsbereich betrachtete und diskutierte und nicht als ein komplexes, multiperspektives, codiertes System. Eine Sicht, die letztlich vom Tafelbild der Fotografie ausgeht: «Diese Kluft zwischen der modernistisch ästhetischen Übersetzung einer authentischen Unmittelbarkeit durch das Festhalten einer fotografischen Essenz, mit ihren eigenen Grenzen und Möglichkeiten, und der konzeptuellen Konstruktion eines inszenierten Ereignisses, die Fotografie als ein Mittel zum Zweck verfolgt, formuliert in aller Deutlichkeit die Distanz zwischen den beiden Welten, der Welt der Kunstfotografie, und der Welt der Kunst, die in den sechziger Jahren (…) sich zunehmend dem Medium Fotografie bedient.»  So Douglas Fogle in seinem Text «The Last Picture Show» aus dem Jahr 2004.

Es schien der Bruch sowohl mit der Moderne der Kunst als auch mit der Moderne der Fotografie nötig zu sein, also der erste Schritte in die Postmoderne, den Übergang vom Einsatz von Produktionsmitteln zum Einsatz von Reproduktionsmitteln (zum Beispiel in den Siebdrucken von Warhol und Rauschenberg), um das Bewusstsein der Fotografie als einer komplexen, vielschichtigen Bildmaschine in den Vordergrund zu rücken. Seither wird das Verständnis der Fotografie, die Einheit und Absolutheit des Bildes einfach oder mehrfach aufgebrochen, in den Sehenden und das Bild, zusätzlich in das Bild und die Wirklichkeit, das Bild als Träger einer Botschaft (englisch picture), als signifiant, und das Bild als Botschaft, als Gehalt (englisch image), als signifié. In diesem Modell verkörpert sich die Vorstellung des Bildes als Teil eines Netzwerks, als eines nun nie mehr ganz festgelegten Zeichens, das sich durch die Projektionen der Betrachter, durch die zahllosen Kontexte laufend verändert, und das die Wirklichkeit ‚beschattet‘ und ‚überschattet‘, ‚einblendet‘ und überblendet‘, also unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit beeinflusst, verändert. 

Thomas Ruffs Weg und Haltung ist dafür ein exzellentes Beispiel. Er begann sein weit über dreissigjähriges Werk mit Interieurbildern, die zeitgenössischen Dokumentarismus vermuten liessen. Präzise gesehen, aufmerksam gerahmt, ja fast streng kadriert, als möchte er die Vielfalt der Wirklichkeit auf eine morphologisch kleine les- und verstehbare  Einheit reduzieren. Aber doch dokumentarisch wirkend, genauso wie die grossen farbigen Porträts, die in ihrer Gleichförmigkeit, in ihrer kühlen, fast operationellen Strenge an offizielle, administrative Fotografien erinnern, mit denen unser Eintritt in eine Firma für die Verwaltung festgehalten wird, oder an das Ende des symbolischen Seins, den Eintritt jedes Einzelnen in die Gegenwart eines banalen, pragmatischen Dasein. 

Die Serien «Nächte» und «Anderes Porträt» hingegen irritierten die herkömmliche Vorstellung von dokumentarischer Fotografie auf Anhieb. In beiden Werkgruppen begann das Medium, die Kamera, eine verändernde, transferierende, eine sichtbar dominante Rolle zu spielen. Die im Militär verwendete Restlichtkamera verwandelt in der Serie «Nächte» schwarze undurchsichtige Nacht in ein neblig-düsteres Szenario, in die theatralische und zugleich beängstigend leere Szenerie eines grünlich eingefärbten film noirs. Die Spezialvorrichtung «Minolta-Montage-Unit 401 P» wiederum verschmilzt in «Andere Porträts» drei Porträts in eine einziges, giesst drei unterschiedliche Bildinformationen in eine Form, drei ähnliche, aber aus unterschiedlichen Perspektiven aufgenomme Porträts zu einem neuen Bildnis. Fiktion oder überhöhte , geschärfte Realität? Dieser Bildmischer wurde in den siebziger Jahren vom Landeskriminalamt Düsseldorf für die Herstellung von Phantombilder eingesetzt, als Teil eines «mobilen Einsatztrupps für visuelle Identifizierung». Was der Polizei bei der Identifizierung potenzieller Straftäter half, gerinnt bei Thomas Ruff zur Befragung und Irritierung unserer Vorstellung von uns selbst, von geschlossener, sattelfester, unverrückbarer Identität. 

Diese und nachfolgende Serien liessen schrittweise die Kontur eines Künstlers als Forscher, als Bilddemiurgen aufblitzen, der die Kamera nicht nur als optisch-mechanisches Notiergerät begreift, sondern als eine mächtige Bilderzeugungsmaschine, als komplexe «Mühle», mit der er die Elemente der vorgefundenen Wirklichkeit je nach Bedarf, je nach Kriterium, je nach gewähltem Aufzeichnungssystem in eine neue Bildrealität verwandelt. Wie auf einer Klaviatur spielt Ruff sich fortan durch die klassischen Genres der Fotografie, erzeugt Porträts, nächtliche Stadtszenen, Landschaften, verwandelt astronomische Fundbilder in Sternenbilder, Presseclips in Pressebilder, kreiert mit jpgs Ideal- und Katastrophenbilder, mit einer virtuellen Dunkelkammer digitale Fotogramme – immer pendelnd zwischen Jäger und Sammler, Fotograf und Archivar, zwischen Erzeuger und Sammler von Rohdaten, spielerisch, um die Daten schliesslich meist in grossformatige Tafelbilder auszugiessen und dann in Holz gerahmt als bemerkenswerte, attraktive, grossartige Setzungen an die Wand zu hängen. 

Michael Stoeber kreierte die Begriffe «Körpermaschinen», «Maschinenkörper», «Wunschmaschinen», «Computer(-maschinen)», «Sexmaschinen», um das Verhältnis von Mensch und Maschine, um Thomas Ruffs Kunst als grosse Bild- und Denkmaschinerie fassen zu können. (Michael Stoeber: Körpermaschinen, Maschinenkörper, Wunschmaschinen», in: Thomas Ruff, Machines / Maschinen», Hatje Cantz 2003) Eine Bildmaschinerie, die sich die vorgefundenen, gesammelten oder erzeugten Rohstoffe der ersten, zweiten und dritten Wirklichkeit einverleibt, verwandelt und dann als Hybrid zwischen «Traum und Albtraum, Realität und Illusion, Evidenz und Geheimnis» als grosse Bildflächen in die Räume hängt – oder sie gleich, wie in den Fotogrammen, gänzlich neu, gänzlich virtuell simuliert und generiert.

Abtastmaschine, Sammelmaschine, Seh- und Wunschmaschine: Der Fotoapparat, das Fotografieren, das Fotografischwerden-Lassen wandelt sich die Wirklichkeit an, verschlingt sie und spuckt sie schliesslich als neue Substanz aus. Jean Baudrillard nennt den Preis dafür: «Die Intensität des Bildes entspricht exakt seiner Ablehnung des Realen, seiner Erfindung einer anderen Szene. Aus einem Objekt ein Bild zu machen, heisst, all seine Dimensionen nach und nach zu entfernen: das Gewicht, die Räumlichkeit den Duft, die Tiefe, die Zeit, die Kontinuität und natürlich den Sinn. Nur um den Preis dieser De-Inkarnation gewinnt das Bild diese Kraft der Faszination.» (Jean Baudrillard, Photographies 1985-1998, Hatje Cantz 2000) 

In besonders auffälliger Weise können wir das in den Maschinenbilder von Thomas Ruff verfolgen, in gefundenen Industriebildern, die Ruff mit wenigen Eingriffen aneignet und verwandelt. Hier folgen wir dem Tun, den Absichten, dem Können der Industriefotografie, die ein kleines Werkzeug oder eine grosse, manchmal auch gigantische Maschine ins Bild übersetzt. Dafür reinigt sie die Maschinen, versieht sie für Spitzlichter mit Lack an Kanten und Ecken, deckt sie nach hinten mit einem weissen Tuch gegen die Fabrikhalle ab und lichtet sie dann mit einer grossen Fachkamera, mit einem «Zimmer», «La chambre», wie die Franzosen sagen, ab. Nach dem Entwickeln des Films wird retuschiert, abgedeckt und umkopiert, bis die Maschine im besten Licht vor weissem Hintergrund erstrahlt, bis sie nur noch Bild ist, ein Maschinen-Model der Industriezeit, verkauf- und einsetzbar. Diesen Wandel demonstriert Thomas Ruff in vielen seiner Maschinen-Bilder. Nur um den Preis dieser De-Inkarnation entsteht ein perfektes Objektbild. Das Spannende an dieser Ruff-Serie ist, dass wir verschiedene Stadien dieser Transformation in verschiedenen Bildern verfolgen können. Bis zum Endbild, der Maschinenikone, der Zahnradikone, der Schraubenikone. Hier verbindet sich die Maschinenwelt mit der Bildmaschine zu einem neuen Dritten.

In seinen «jpgs» schliesslich erleben wir anhand von Skyscrapern, Raktenstarts, Atomexplosionen, wozu die Menschheit mit all ihrer Maschinenkraft imstande ist, was für Energien sie entwickeln, wie sie gottähnliche, aber auch teuflische Zustände erzeugen, erreichen kann. «Maschine&Energie» ist der Titel dieser Ausstellung. Sie zeigt einen besonderen Querschnitt durch das Werk von Thomas Ruff, eine Zuspitzung auf die Determination des Bildes durch die Kamera, seine Abhängigkeit von Maschine, Optik und Chemie.

Seit drei Dekaden hinterfragen (Foto-)Künstler den traditionellen, siegessicher vorgetragenen Anspruch der Fotografie als realitäts-, als gegenstandsabbildendes Medium in tiefgreifender Weise und erschüttern fortwährend diesen hergebrachten Glauben mit ihrem Gebrauch, ihrem Verständnis der Fotografie. Die konzeptuellen Arbeiten untersuchen mit medienkritischen, repräsentationskritischen und selbstreferenziellen Ansätzen die Fotografie als komplexes Medium, sie diskutieren fotooptische und fotochemische Prozesse und Techniken, fotografische Apparaturen, das Licht, die Trägermaterialien, sowie das Fotografische insgesamt als Haltung, als besonderes, zeitgebundenes Wahrnehmungskonstrukt. Thomas Ruff führt uns in seinem gesamten Werk vor Augen,wie sinnlich, wie bildmächtig so eine Untersuchung sein kann. Maschinenwelt, Bildmaschinen und Bildforschung erzeugen zusammen selbst wieder ein höchst präsentes, eindrückliches Bildnis ihrerselbst.

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