Januar 1993

Nachdenklicher Reisender

English Version: A Thoughtful Traveller →

Ein Anspruch steht der fotografischen Rede in diesem Buch überschrieben: New Europe. Neues Europa. Ein gewagter Anspruch. Einer, den nicht Paul Graham stellt, sondern in den er gestellt ist. So wie wir, so wie die Menschen auf diesem Kontinent zu unterschiedlichen Zeiten. Fremd im Wagnis, vertraut allenfalls im Bedürfnis. Ein Wortlaut nur, doch zu verschiedenen Zeiten mit unterschiedlichen Ansprüchen versehen. Gestern von Hitler in die Welt gesetzt, sehr ambitioniert, egowahnsinnig gemeint und schrecklichst im Versuch der Umsetzung. Heute und in Zukunft von der europäischen Gemeinschaft eher verbrämt als engagiert formuliert, gerade so, wie es die eher desillusionierende Zeit eben noch zulässt.

Hitler verband die Vorstellung eines «Neuen Europas» mit dem Plan einer von ihm dirigierten «Nation Europa» - der Name einer vornehm aufgemachten Propagandazeitschrift der Nationalsozialisten, mit der sie sich an die Eliten jener westeuropäischen Völker richteten, die geschlagen und danach besetzt worden waren. Diese Eliten sollten «aufgeklärt» und als privilegierte Hilfstruppen der Reichsnation eingefügt werden, untergeordnet, jedoch immer noch höhergestellt als die zur Sklavenexistenz bestimmten Slawen, Polen und Russen. Hitlers Wahnidee schlug letztlich fehl, weil sie missachtete, dass Europa kleinteilig gewachsen ist. Die Nationen umfassen zwar nicht immer nur je ein Territorium, eine Kultur und eine Sprache, aber da sie, allmählich aus den Kulturkreisen (und der allmählichen Unterdrückung anderer regionaler Kulturkreise) entstanden, so vielfältig in das zwanzigste Jahrhundert eintraten, waren sie nicht über Nacht, durch einen einzigen Krieg zu beseitigen und in eine übergreifende europäische Grossnation zu verwandeln. Der unfassbare Schrecken dieses Versuchs ist in den Zeilen zu erahnen, die Rabbi Jacob Schullmann geschrieben hat, bevor er 1944 in der Gaskammer von Chelmno starb:

«Horror, horror, man shed thy clothes,
Cover thy head in ashes,
run in the streets and dance in thy madness…
I am so weary that my pen can no longer write,
Creator of the universe, help us.»

«Oh, Schrecken, Schrecken, Mensch leg' Deine Kleider ab,
Bedecke Dein Haupt mit Asche,
Renne auf die Strasse und tanze in Deiner Verrücktheit…
Ich bin zu erschöpft, meine Feder kann nicht mehr schreiben,
Schöpfer des Universums, hilf uns.»

aus «Shoah», dem Dokumentarfilm von Claude Lanzmann, FR 1974-85

Die gegenwärtige Ambition scheut sich, den Namen «Neues Europa» nochmals ernsthaft zu gebrauchen. Sie ist pragmatischer geworden. Beschwört wird zwar immer wieder ein europäischer Geist, aber das Jahrhundert-, ja Jahrtausend-Ziel ist die Währungsunion, erreicht über die Insel «Binnenmarkt». Der Ecu als die blutleeren Bande einer Welt, in der Geld klar vor Geist geht. Und weil selbst dafür bisweilen Kraft und Vertrauen zu fehlen scheinen, wird der Weg dahin und Geschwindigkeit und Rhythmus des Ablaufs der Zwangsläufigkeit von Computerprogrammen unterworfen. Alles geschieht automatisch, zum vorbestimmten Zeitpunkt, selbst wenn jemand den Apparat in die Luft sprengen würde. Ist das die europäische Freiheit am Ende des Jahrtausends?

«Ueberall, wo der europäische Geist dominiert, tritt ein Maximum an Bedürfnissen in Erscheinung, ein Maximum an Arbeit, ein Maximum an Kapital, ein Maximum an Beziehungen und Austausch.
Dieses Ensemble von Maxima macht Europa aus, oder das Bild Europas.»

Paul Valéry, La crise de l'esprit

Paul Valéry hat die Krise des Geistes und das Ensemble der europäischen «Idées fixes» vor langer Zeit ausgemacht. Wird auch dieses neue Wagnis in Schrecken enden? Bereits leben wir mitten in unerwarteten Anzeichen und beschwören, paradox genug, aus den einzelnen Refugien hervor die grosse Einheit als einzig möglichen Garant gegen Zersplitterung und Abgrenzung. Vor zwei Jahren noch waren wir felsenfest überzeugt, in Europa erfülle sich vor Ende des Jahrtausends das «Kalifornische Versprechen» (George Steiner), die unendliche kapitalisierte Leichtigkeit des Seins, bevor Europa dann an seiner eigenen Konsumption zugrunde gehe. Heute stehen wir nicht vor einer Wiederholung, wohl aber vor einer Aktualisierung von archaisch anmutender Geschichte, wie wir sie längst überwunden, zumindest jedoch auf der individual- und sozialpsychologischen Couch zu kontrollieren glaubten.

Paul Grahams grosses Farbfotografie-Werk situiert sich in diesem Kontext. Aeusserlich führte ihn die Reise 1988, 1989 und 1990 durch neun westeuropäische Länder: durch Deutschland, die Schweiz, Italien, Spanien, Frankreich, Belgien, Holland, England und Nordirland. Die Buchreise führt entlang verschiedener Hinweise auf geschichtliche Ereignisse: den Davidstern zum Beispiel, eingekratzt und wieder durchgekratzt; oder das Hofbräuhaus in München, in dem sich die Nazis früh und oft getroffen haben; die fotografische Gedenktafel in Holland, aus der die Hitlerfigur ausgekratzt worden ist; das Pilsner Bier, in den dreissiger Jahren als Italo Pils in Italien eingeführt; das im Disco-Deckenspiegel sich spiegelnde Paar, das an Mussolini und seine Freundin erinnert, die beide an den Füssen aufgehängt worden sind; Francos Grab, bespuckt und belacht; Münzen mit seinem Konterfei, so achtlos wie brennende Zigaretten neben Videospielen abgelegt; die Zugskupplung, in Frankreich aufgenommen, die wie die Spielzeug-Eisenbahnen an die Deportationen in Frankreich erinnern; die Ruhebank in Belfast, die von besseren Zeiten erzählt; das Wort «Religion», eingeschrieben in die mit Wörtern übersähte Abstellfläche einer Belfaster Telefonzelle; und schliesslich das einfache quadratische Loch, das ein Pfeiler der Berliner Mauer hinterlassen hat. 

Diese Zeichen verweisen nicht selbst in die Vergangenheit, vielmehr klicken sie unser Wissen, unsere Erinnerung an. Sie gehen den Weg nicht zurück, sondern vergegenwärtigen Geschichte, zeigen, wie wir heute mit ihr umgehen, wie sie sich im Alltagsleben niederschlägt, manchmal fast unerkannt, manchmal heftig umkämpft, bisweilen auch verharmlost, bis sie als Kinderspielzeug endet. Es ist Geschichte da gezeigt, wo sie aus der Tiefe der Zeit an die Oberfläche stösst, ob wir nun über ihren Grabstein stolpern, achtlos hinweggehen oder verächtlich darauf spucken.

Dazwischen sind Menschenbilder von heute gesetzt. Bilder des Eintauchens, Wegtauchens, in Musik, in Alkohol, in Zigaretten- oder Drogensucht, in den ekstatischen Kick. Bilder der umfassenden Konsumption, der Kommerzialisierung des Sexes und der Freundschaft. Bilder der Isolierung, des einen vom anderen, Bilder der schreiend-bunten grauen Alltäglichkeit heute. Zusammen mit den Geschichtszeichen formt sich derart ein Porträt zeitgenössischer sozialer Realität, breitet sich eine Topographie der Befindlichkeit aus, eine soziale Landschaft, deren Spuren sich über die einsamen gleichgültigen Gesichter ziehen, sich in den nervösen Gesten, im Verhalten insgesamt niederschlagen, die selbst eine Parkbank bedeutsam erscheinen lässt, umgeben vom schrecklichen Gelächter entleerter Perspektiven. 

«I wanted to make images about the bland grey promise of consumption led culture, the rush to the market that dominates everything, whose embrace we must accept or be expelled to the margin.» «Ich wollte Bilder von diesem farblos grauen Versprechen der Kosumgesellschaft machen, dem Sturm zum Markt, der alles dominiert. Entweder wir akzeptieren seine Umschlingung oder wir werden an den Rand gespült.» Also selbst die ältere Geschichte wird kommerzialisiert: Der «Engel» steht im Warenhaus an der Kasse, «Maria» ist hoffnungslos isoliert und hoffnungslos nachdenklich, das «Jesukind» wird gerade mit dem Löffel überfüttert. Das Wort «Religion», fragend oder bestätigend hingekritzelt, strahlt all die Tragik des nordirischen Konfliktes aus, weil niemand richtig verstehen kann, wieso man sich deswegen heute die Köpfe einschlagen kann. Sinnbilder der Deregulierung aller Werte, in der Regel zum Vorteil ihrer Kommerzialisierbarkeit. Der Schnittpunkt der vertikalen, diachronen Achse, entlang derer die Gegenwart verständlich wird, und der horizontalen, synchronen Achse, ohne welcher die Geschichte, das Erbe schmal, ja körperlos bleibt, bildet den Brennpunkt des Interesses von Paul Graham. Vergangenes und Gegenwärtiges in ihrer Durchdringung - da setzt er sich fest und zeigt uns Bilder vom «state of mind» heute, vom Zustand unseres Bewusstseins, unseres Geistes am Ende des Jahrhunderts.

«And I will show you something different from either», setzt das Zitat aus T.S.Eliots berühmten Gedicht «The Waste Land» ein. «Und ich will Dir zeigen ein ander Ding». Der Kriegsveteran entblösst seinen Oberkörper und zeigt seine Verletzungen, währenddem er von der Anhöhe aus auf einen südlichen Stadtrand blickt. Paul Graham zeigt uns ein verwundetes, angeschlagenes Europa, ein geistiges «wasteland». Die Geschichte steckt, obwohl zum Markenzeichen «l'histoire» bagatellisiert wie im Soldaten-Spielzeug der zweiten Fotografie, den Rahmen ab, formt sowohl den Schatten, vor dessen Schwärze die Ereignisse der Gegenwart hervortreten,wie auch das Licht, in dessen Schein die Gegenwart klein, grau und banal wirkt, im eigenen Schatten aber zu sich selbst findet. 

«I will show you fear in a handful of dust.» «Ich zeige Dir die Angst in einer Handvoll Staub.» Paul Graham errichtete mit diesen Bildern eine Mahnwache, als das Fest der achtziger Jahre, die einzigartige Freistellung von Geschichte noch im vollen Gange war. Im Staub der Haltestelle Friedrichstrasse, im Widerschein der Flamme der deutschen Einheit wachen die Schatten der Vergangenheit, grabesstill.

Geschichte, Europa heute, im Spiegel seiner francistischen, faschistischen und nazistischen Vergangenheit - das erweckt die Vorstellung eines ausgeklügelt konstruierten, pastos gemalten Historiengemäldes. Paul Grahams Fotografien sind jedoch das pure Gegenteil: keine Totale, kein Sinnganzes, sondern das Fragment, die Reihe von Ausschnitten als Zeichen der Geschichte, als Stationen eines nachdenklichen Reisenden auf einer Reise durch geschichtslastige Gegenwart. Ausschnitte, die wohl totalisiert werden, zum physisch erlebbaren, greifbaren Bild/Träger grossvergrössert werden, als Zeichen so gross, aber oft auch so einfach und nüchtern wie eine Hinweistafel, in den Farbformen so flächig, so monochrom wie ein emailliertes Firmenschild. Die grossen Themen, die Hymne, das Pathos werden nur angetippt, drei Töne angespielt, gar nur das Einspielen des Orchesters. Dann geht es gleich weiter.

Die fast gewichtigeren Themen sind nicht auf der Ebene der Grossraumpolitik, nicht im Reich der geschichtsträchtigen Gesten zu suchen, die heimlichen Hauptthemen, die diesem Werk so viele Ueberraschungen bescheren wie auch Dichte und Komplexität gewähren, sind in einer tieferen Schicht, auf einer strukturelleren, morphologischeren Ebene angesiedelt. Konkret - im Buch nacheinander, in der Ausstellung in der Form eines Triptychons nebeneinander - das Bild eines grossflächigen orangefarbenen vernieteten Eisenträgers, darin eingekratzt der erwähnte Davidstern. Links davon das kleinere Bild eines Mannes, der im Look der Endsechziger oder Anfang der siebziger Jahre - orangebraune Lederjacke, lederne Umhängetasche, Jeans - sich auffallend verquer vor dem natürlichen Licht schützt. Er schirmt seine Augen ab, schirmt er sich auch gegen andere Einflüsse ab? Zur Rechten, noch etwas kleiner im Format, ein Mädchen der achtziger Jahre, das die Augen geschlossen, vollkommen in den Licht- und Soundpegel eingebettet erscheint. Nächstes Foto: das Bild einer verriegelten, fast verbarrikadierten Türe in einem ärmeren Londoner Stadtviertel. Nachfolgend wieder ein Triptychon, mit den zeichenhaften Fotografien des ausradierten Hitlers und des Blutfleckenentferners im sauberen Badezimmer. Beides kombiniert mit dem dichten Bild im Münchner Hofbräuhaus. Ein Mann in traditioneller Männertracht ist beschäftigt mit Biertrinken und Rauchen zugleich. Zu seiner Linken ein Brillenträger mit beschlagenem, milchigen Glas. Im Vordergrund links unten ein aschblonder «blinder» Fleck. 

Die Bilder erzählen über ihre konkrete raumzeitliche Identifizierung hinweg von einem allgemeinen Gegensatz, vom Licht, von Blicken, von möglicher Erkenntnis, wenn man nur will, wenn man bereit ist, zu sehen, bereit, zu erkennen und zu verstehen. Wenn man den Willen aufbringt, den Sachen, auch den unangenehmen, schmerzhaften, den Menschen, auch dem Anderen, ins Gesicht zu schauen, genau hinzuschauen. Und dem dazu gegensätzlichen Verhalten des Wegschauens, der Ausflucht, des Ausklinkens. Wegdimmen das Licht, wegdimmen alles, was schmerzen könnte, ertränken, unempfindlich machen, betäuben in Bier, Sucht, Musik. Abschliessen, abwehren, ausflecken, ausgrenzen, befriedigen, besaufen, betäuben als präpositional geordnete Handlungsliste. Erkenntnis versus vor sich Hindämmern. Hier und jetzt versus ein Anderswo für alles Unangenehme. 

Im weiteren ein von gebrauchten Papiertaschentücher übersäter, gepunkteter Boden in einem Sex-Video-Shop, Blutspritzer auf einer weissgekachelten Wand, Spucke auf Caudillos Grab, jemand, der sich eine Spritze in den Arm setzt, zum dunklen Loch, das ein Pfeiler der ehemaligen Berliner Mauer hinterlassen hat,  zum grau-in-grau abgestimmten Türdurchgang. Ein Tunnel der Schaurigkeit. Diese Bilder, wie auch das nervöse Fingernesteln, das Rauchen, das Spritzen, das Überfressen, das Blinzeln, das Überspielen vermitteln einen Zustand erhöhter Kritizität. Die innere Spannung, die individual-, wie gesellschaftspsychische Labilität steigt. Dazwischen, etwa in der Mitte des Buches, das Bild einer Parkbank, aus Zement und Steinplatte, das es erlaubt, den Blick auszuruhen. Aber man sitzt alleine da, schaut zu, wie der Platz allmählich überwuchert wird und verwildert, ohne dass die Menschen zueinander finden. Schliesslich dieser Mann, der auf dem Bett liegt und fern schaut, umgeben von wildesten Farbmustern und Farbtönen: Ein Bild, das höchste Privatheit, höchste Entspannung, ja Befriedigung suggeriert und zugleich Inbegriff zeitgenössischer Uneigentlichkeit ist. Uebersättigung an Farben, überwältigt von Informationen, Infos, nicht Wissen noch Erkenntnis. Eine (westliche) Welt zum Bersten. In der Ausstellung hängt diese Fotografie neben jenem düsteren Bild einer Betonmauer, Beton, aus dem Strohhalme hervorragen. Ein härterer Gegensatz ist kaum vorstellbar. Der Beton, Baustein der Gesellschaft, erstellt aus den einzelnen, individuellen Strohhalmen, aus den Individuen, die sich der Illusion der grossen Freiheit verschrieben haben und doch unausweichlich ins gesellschaftliche Tuch eingewoben sind.

Die Bilder und ihre Abfolge machen unruhig. Falsche Wand? Oder echte Wand mit falschen Materialien? Mit Holz- und Backstein-Imitationen aus Kunststoff. Falsche Infos? Falsche Versprechungen unter blauem Himmel, vierfarbig und auf Hochglanz poliert? Ein Bild der innigsten, heftigsten Leidenschaft? Oder doch nur eine Sitzung zweier Geschäftspartner in angemessener Form? Paul Grahams Fotografien beunruhigen auch formal. Sie fliehen oft, scheinen leicht zu kippen, aus der Ordnung, aus dem Viereck, aus der Harmonie, selbst wenn sie aus Abwehr vor Gestaltungsmeisterschaft für einmal ihr Sujet in der Mitte plazieren. Da, die Sache! Sichtbar und komplex genug! Paul Graham zeigt, was er sieht, direkt und schnörkellos, ja manchmal fast banal. Ohne spürbare Foto-Grafik, ohne diese meisterhafte Gestaltung mit Fotografie. Man schaut immer das Bild an, seine Zeichen und nicht die Fotografie als Fotografie. Das Bild, das direkt, ohne Glas und ohne Rahmen, physisch ebenbürtig vor unsere Augen tritt und zusammen mit anderen Bildern zu einem visuellen Prosagedicht verwoben ist.

Den äusseren Rahmen setzen die Geschichtsverweise. Zeichen, die das Innehalten der Fotografie sprengen, im Kopf des Betrachters dehnen. Die Dichte seiner Bildwelt erzeugen diese Morpheme, diese Einzelbestandteile, die die Ruhe erschüttern. Hard-Edge-Fotografie und kein bisschen zuviel. Da und dort ist die konkrete Situierung in der Legende notwendig, da und dort setzt eine Erzählung ein, wird das Einzelbild zur Geschichte. Etwa wenn Paul Graham zusätzlich erwähnt, dass der Kriegsveteran seine Verletzungen auf einem Schwulen-Strich vorzeigt, wenn er bestätigt, dass es Hure und Zuhälter sind, die sich innig umarmen, wenn er erzählt, dass er am östlichsten Punkt Westberlins heimlich, versteckt, «aus dem Bauch» fotografieren musste, und dass diese Eisenbahnwagen in Spielzeugform in makaberer Form-Inhalt-Deckung an die Kinderdeportationen in Frankreich gemahnen. Kinder! Was die deutschen Nationalsozialisten nicht verlangt hatten. Make a note of that.

Es ist eine Arbeit über das Sehen geworden, in Zeiten freigewählter Kurzsichtigkeit. Eine Arbeit über das Nachdenken, in Zeiten der Dusligkeit. Eine Arbeit über Zeit und Geschichte, in Zeiten der scheinbar zeitlosen Jugendlichkeit. Es ist eine Arbeit gegen die Verwertung (oder Verwurstung) aller Werte - ohne selbst wieder umzuwerten, ohne selbst wieder ideologisch zu werden. Paul Grahams Haltung ist im besten Sinne modern, das meint hier nachdenklich aufklärerisch. So wie in «Beyond Caring», seinem Buch über das englische Sozialwesen, so wie in «Troubled Land», seiner Landschaftsfotografie-Arbeit in Nordirland. Nicht die Haltung, nur die Form hat sich jeweils leicht verändert und der jeweiligen Konzeption angepasst. War es die Verführung des schönen, idyllischen Landschaftsbildes, die uns in das Thema des englisch-irischen, protestantisch-katholischen Konfliktes ziehen sollte, so sind es hier grossflächige Farben, eine teilweise rätselhafte Präsenz vermischt mit eindeutiger, manchmal schmerzhafter Zeichenhaftigkeit, die die Lust am Bild und an der Auseinandersetzung fördern wollen.

 «An denen ist nix weiterzuentwickeln … Klarer geht's nich», heisst es von den Wunderbrillen im Günter Grass-Zitat. Das darf, was die Haltung und die Konzeption betrifft, auch für diese Fotoarbeit gelten. Aber Bilder sind und müssen ambivalenter sein, müssen stören, aufwühlen, ohne das eindeutige, bestätigende Nicken des Betrachters zu fordern. Das weiss Paul Graham - und gerade deshalb stimmt seine multinationale Reise so nachdenklich.

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